… und warum uns LEMMY verreckt, wie ich Jutta wieder aufgebaut bekomme und weshalb wir zweimal nach Hause kommen… oder dreimal…?
Heute ist der 28.06.2022. Reisetag. Besser gesagt: Abreisetag von einem fantastischen Stellplatz. Von einem Ort, an dem wir länger standen als je zuvor auf dieser einjährigen Reise. Die letzten sieben Tage haben wir hier verbracht, Corona auskuriert, Wale beobachtet, viel gelesen und gefaulenzt. Nun sind wir wieder fit, physisch jedenfalls. Es bleiben uns nur noch knapp zwei Wochen, denn am 11.07.2022 startet unsere Maschine von Halifax nach Frankfurt.
Jetzt aber freue ich mich auf die Wegstrecke, die vor uns liegt, besonders auf den Cabot Trail auf Cape Breton Island durch den Highlands National Park. Dann werden wir Quebec bereits verlassen haben, New Brunswick im Rückspiegel sehen und wieder über Nova Scotias Asphalt rollen. So ist es einfacher für mich, den unaufhaltsamen Termin des endgültigen Rückfluges auszublenden, beiseite zu schieben. Jutta sehnt diesen Tag herbei, ist des Reisens müde geworden, (vermisst Familie und Freunde immer mehr). Nicht das erste Mal, seit wir vor fast einem Jahr aufgebrochen sind.
Ich werde mir die größte Mühe geben, sie für die verbliebenen knapp 2000 Kilometer zu motivieren, sie an Bord zu holen und die Reisemüdigkeit abzubauen, so gut es eben geht.
Es ist, wie üblich, bereits Mittag, bevor wir aufbrechen. Wir verabschieden uns von unserem zuvorkommenden Gastgeber und versichern ihm diesen Platz weiter zu empfehlen und eines Tages wieder zu kommen.
Um den Tag mit einem Highlight zu beginnen, werden wir den nahegelegenen Walbeobachtungsposten Cap de Bon-Dèsir besuchen. Insgeheim hoffe ich darauf Juttas Wohlbefinden zu steigern und mit einigen Walsichtungen könnte die Gute-Laune-Skala weiter nach oben steigen. Mit Glück taucht ein Blauwal auf. Durch das geöffnete Fenster winkend, verlassen wir den Paradis Marin Campingplatz. Ein perfekter Gastgeber, ebenfalls winkend, bleibt lächelnd zurück.

Wir zahlen ein paar Dollar Eintritt, spazieren durch eine wundervoll angelegte Parkanlage mit vielen verschiedenen Pflanzen, unter Bäumen hindurch zur Hauptattraktion, dem Aussichtsplateau am Fluss. Über moosbewachsene Felsen und durch andere Walspotter mit riesigen Objektiven vor ihren Kameras, montiert auf Stativen, suchen wir uns einen guten Platz nah am Wasser. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es bereits erwähnte, katzengleich bewege ich mich von Felsen zu Felsen, springe von hier nach dort und habe kein Problem mit der Balance. Jutta reiche ich, nach Bedarf, stets eine helfende Hand, damit sie auf dem zum Teil von Moos bewachsenen glatten Fels nicht ins Rutschen gerät. Einen Blauwal sehen wir leider nicht und als nach zwei Stunden in der Sonne unsere mitgebrachten Snacks und Getränke aufgebraucht sind, beschließen wir zu gehen. Der Ausflug hat sich gelohnt, obwohl es nichts zu sehen gab, was wir nicht auch schon von unserem Camp gesehen haben. Hauptsächlich sind Grindwale vorbeigekommen und die süßen Belugas.

Jetzt geht es weiter Richtung Les Escoumins und dann auf die Fähre rüber nach Trois-Pistoles. Bereits auf dieser Überfahrt sind es bereits mehr als 20 Kilometer bis ans andere Ufer und diese Entfernung wird sich um ein vielfaches vergrößern, je näher wir uns dem Sankt-Lorenz-Golf und dem Atlantik nähern.


Lange müssen wir nicht auf die Fähre warten. Sie ist relativ pünktlich im Zeitplan und die Überfahrt genießen wir an Deck bei strahlendem Sonnenschein. Vor uns ist nur Wasser zu sehen, kaum Land in Sicht. Sogar Juttas Laune steigt bei dem Vitamin D Überschuss durch die Sonne am heutigen Tag und die Walsichtungen spielen vielleicht auch eine Rolle. In Trois-Pistoles angekommen überschreite ich eine weitere Grenze, wir sind nun östlich dieses wahnsinnigen Stroms, weit entfernt unseres ursprünglichen Startpunkts des ewig langen Trans Canada Highways, dem Point Zero auf Victoria Island in British Columbia. Viele tausende Kilometer liegen hinter uns. Wehmütig schaue ich beim Verlassen der Fähre in den Rückspiegel. Mir wird klar, eine irrsinnig lange Zeit wird vergehen, bis ich wieder westlich dieses mächtigen Flusses unterwegs sein werde.

Unsere Vorräte sind deutlich dezimiert nach der langen Corona-Zwangspause, also ist ein Großeinkauf wirklich nötig. Ich weiß genau, Jutta liebt es einzukaufen und durch fremde Supermärkte zu stöbern. Mir macht es auch Spaß, nur haben wir unterschiedliche Interessen was die Abteilungen angeht. Wir nutzen die nächste Gelegenheit hinter Trois-Pistoles und shoppen ausgiebig. Juttas Laune steigt weiter in der Gemüse- und Obstabteilung und weil unser Lebensmittelvorrat aufgestockt wird, meine Laune steigt in atmosphärische Höhen, als der Biervorrat aufgefüllt wird.

In Rimouski, nicht wirklich weit entfernt von unserem heutigen Startpunkt, endet der Tag am späten Nachmittag für uns auf einem netten Umsonst-Stellplatz. Mit den frischen Einkäufen von heute bereiten wir uns gemeinsam ein leckeres Pasta-Menü, trinken köstlichen Wein dazu, schauen zwei Filme von der Festplatte meines Laptops („Deception“ und „Todfreunde“) und gehen dann schlafen. Na ja, Jutta verabschiedet sich schon während des zweiten Films ins Land der Träume und geht, nachdem sie, an mich gelehnt, wieder aufgewacht ist, ins Bett. Ich schaue „Todfreunde“ noch zu Ende und dann mache auch ich mich fertig für die Nacht.


Der Abflugtermin ins Waterhole rückt mit jedem Tag näher. Ich hasse das Gefühl, wenn eine Reise endet und deshalb verdränge ich diese Erkenntnis aus meinem Bewusstsein. Mein Fokus richtet sich auf die kommenden Ereignisse. Ich versuche Jutta für die Gaspè Halbinsel zu begeistern und die bevorstehende Strecke. Es gibt zwei Möglichkeiten, zum Einen können wir außen herumfahren, worauf ich ziemlich Bock hätte, zum Anderen können wir den kürzeren Weg wählen, durch den Parc National de la Gaspesie. Beide Strecken haben etwas für sich. Der lange Weg um die Halbinsel verläuft fast komplett an der Küstenlinie und wir würden ständig fantastische Ausblicke auf den Sankt-Lorenz-Strom genießen, bis in den Golf hinein. Andererseits fahren wir durch den Nationalpark der Halbinsel und sparen viel Zeit, die uns hinten heraus wertvoll sein kann. Ich selbst bin viel zu unentschlossen, so überlasse ich Jutta die Entscheidung. Sie wählt den Weg durch den Nationalpark, die kürzere Strecke.
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, der Sankt-Lorenz-Strom ist für mich der beeindruckendste Fluss, den ich bisher erlebt habe. Da kann nur der Amazonas in Südamerika mithalten und der Mekong in Asien. Kein Fluss in Europa ist annähernd ebenbürtig.
Der 29. Juni beginnt relativ früh. Jutta weckt mich bereits morgens um 9:00 Uhr. „Denk dran, wir haben heute einen sehr langen Road Day!“, sagt sie. Ich rieche Kaffee und höre das Blubbern des Perkolators auf dem Herd. „Ja ja, ich steh schon auf!“, sage ich. Das angenehme Kaffeearoma erleichtert es mir etwas, mich aus den Federn zu quälen. Wir wollen heute knapp 600 Kilometer fahren, bis nach Miramichi.
Dort hat Jutta einen großartigen Übernachtungsplatz an Richies Wharf aufgestöbert. Die Beschreibung war so vielversprechend, das wir den langen Weg gerne in Kauf nehmen wollen. Die vergangenen Tage sind wir häufig nur sehr kurze Distanzen gefahren und ich habe richtig Lust heute Kilometer zu fressen. Ohne Eile und mit einigen Pausen. Die reine Fahrzeit wird etwa sieben Stunden betragen.
Um 10:30 Uhr nach einem reichhaltigen Frühstück, sind wir startklar. Zunächst geht es nach Sainte-Anne-des-Monts. Auf diesen 182 zu bewältigenden Kilometer und zwei Stunden Roadtime befindet sich der Sankt-Lorenz-Strom nun auf unserer linken Seite. Diese kleinen Details schreibe ich unter anderem für meine Freundin Maddi, die sich selbst als Kartenfreak bezeichnet und denen, die gerne mal einen Blick auf die Map riskieren, um zu sehen, wo wir gerade sind. By the way, ich empfehle allen, meine Route neben dem Lesen des Blogs, auch kartografisch nachzuverfolgen.
In Sainte-Anne-des-Monts biege ich rechts ab und verabschiede mich innerlich und stumm von diesem gigantischen Fluss. Ich schaue in meinen großen LKW Rückspiegel, sehe kein Land auf der anderen Seite, fahre ostwärts und der mächtige Strom wird kleiner und kleiner und schließlich, nach einer Kurve verschwindet er gänzlich.
Der Parc National de la Gaspesie liegt vor uns. Es wird etwas bergiger. Wir durchfahren den Park von West nach Ost und bekommen einen wundervollen Eindruck von der Naturschönheit, die Quebec im Sommer auf dieser Halbinsel auszeichnet. Inmitten des Parks erlauben wir uns eine kleine Wanderung. Jutta ist gut drauf und ich bin überglücklich, weil sie sich, erstens darauf einlässt diesen Spaziergang mit mir zu machen und die übliche Priorität hinten anstellt, das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen und zweitens, weil ihre Reisemüdigkeit weniger wird. Wenn es weiter so läuft wie bisher, dann wird es in einigen Tagen überwunden sein. Ich bin sehr optimistisch und werde versuchen meine positive Stimmung auf sie zu übertragen.

Der Park bietet uns kristallklare Flüsse, kleine Brücken, die wir überqueren und endlosen Wald. Ist man nicht nur auf der Durchreise, so wie wir in diesem Moment, dann könnte man hier mit dem Zelt, einen großen Rucksack und Proviant ausgestattet, viel Zeit abseits der Zivilisation verbringen.

Mit Juttas Streckenwahl durch den Nationalpark erleben wir einen sehr intensiven Blick in Canadas beeindruckende Natur, wenngleich sie auch nicht ganz so spektakulär ist wie an der Westküste und in den Rocky Mountains. Quebec ist ein riesiger State, der erobert werden will. Hier kann man sich nach Herzenslust in der wilden Natur austoben, Städte besichtigen oder dort weiter fahren, wo die Straßen enden, theoretisch bis an der Rand der Nordwest-Passage.
Wir erleben Quebec wie aus dem Bilderbuch, mit dem einen Makel, dass wir manchmal nicht verstanden werden. Aber beginnt nicht genau dann das Abenteuer? Wenn die asphaltierten Straßen enden und die Zweitsprache nicht weiter hilft? Ich sage: „Ja genau, exakt dann beginnt die Reise ins Abenteuer!“

Aber unser Abenteuer nähert sich unweigerlich dem Ende, nur noch ein Einziges steht uns bevor. Davon ahnen wir jetzt noch nichts. Schon morgen wird es passieren. Eine kleine Katastrophe. LEMMY wird verrecken.
Der Nationalpark bleibt hinter uns zurück, doch das erste Drittel der verbleibenden Strecke von 364 km und etwas über vier Stunden Fahrzeit, führt uns immer noch über die Gaspè Halbinsel bis an den Sankt-Lorenz-Golf. Bevor wir den Golf erreichen, fahren wir durch ein Gebiet der First Nations, der Micmac (Mi’kmaq). Ein Pow Wow findet zurzeit nicht statt, allerdings sehen wir ihre zeremonielle Feierstätte aus dem Fenster im Vorbeifahren.
Weiß-blaue Zelte mit schwarzen Büffeln verziert übersähen den Platz. Und dann ist er da, der Golf dieses mächtigen Stroms. Einige Stunden wird er an unserer linken Seite zum ständigen Begleiter und meinen Blick immer wieder auf sich ziehen. In Campbellton überqueren wir die J.C. Van Horn Bridge, verlassen die Halbinsel, verlassen Quebec und machen einen kurzen Stopp, um uns etwas die Beine zu vertreten und eine Pinkelpause ist auch mal nötig.

Wir sind in New Brunswick angekommen, etwa eine Tagesreise von Nova Scotia entfernt. Dort wo wir vor ca. 6 Monaten im Winter aufgebrochen sind, um nach Florida in den „Endless Summer“ zu fahren. Alte Erinnerungen werden wach. Im Schneesturm haben wir Halifax verlassen und kaum ein Mensch war unterwegs auf den Freeways. Fast nur Räumfahrzeuge kreuzten unseren Weg.
Ich muss an unsere erste Übernachtung im Auto denken, nachdem wir drei Wochen im Appartement des Residence Inn by Marriott gewohnt hatten. In Saint John an der Bay of Fundy hatte Jutta einen großartigen freien Stellplatz rausgesucht. Versteckt in einer Senke, im tiefen Schnee und mit Blick auf eine aus allen Rohren dampfenden Fabrik. War es eine Papierfabrik? Ich weiß es nicht mehr. Wie schnell man vergisst. An der Grenze in die USA am folgenden Tag waren wir die einzigen Reisenden, das Winterchaos noch im vollen Gange und jeder der konnte, blieb zuhause am warmen Ofen. Aber wir wollten nach New York und weiter in den Süden, bis Key West, ninety miles close to Cuba.
Ich erlebe den Beginn dieses Trips noch einmal im Schnelldurchlauf. Beim Fahren können die Gedanken so schön kreisen. Es sind nur noch knapp zwei Stunden bis Miramichi. Hoffentlich wird es wieder ein schöner Platz für die Nacht. In der Regel liegt Jutta mit ihrer Wahl genau richtig und ich habe keinen Grund mich zu beschweren. Hinter Bathurst sagt der Sankt-Lorenz-Golf erst einmal „Goodbye“, aber nur für eine Stunde. Dann haben wir unseren Stellplatz gefunden, an einem Seitenarm dieses wahnsinnigen Flusses: Ritchie Wharf Park.

„Jutta, da hast du dich mal wieder selbst übertroffen, der Platz ist perfekt!“ Wir biegen um eine Ecke und der Asphalt endet, geht über in eine Dirt Road mit einigen Mulden, tiefen Rillen und großen Schlammlöchern. Wir fahren in eine Sackgasse nah ans Wasser heran, mit einem tollen Ausblick. Ich rangiere LEMMY bis er halbwegs gerade steht und mir entgeht Juttas Lächeln nicht. „Ist doch gut hier oder?“, fragt sie, obwohl ich ihr die Antwort bereits zuvor gegeben habe. „Yes, das ist super hier! Kann ich nach dem langen Fahrtag Feierabend machen?“, frage ich noch. „Ja, du bist gut gefahren und hast dir ein Bier verdient!“, sagt sie. „Ich kümmere mich um das Essen. Gucken wir noch einen Film heute Abend?“ „Unbedingt!“, antworte ich und fange an zu überlegen, welche Filme sich noch auf der Festplatte befinden. Dann hole ich mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank, setze mich nach draußen auf die Felsen am Ufer und genieße den Ausblick über den Fluss.

Kein Gedanke wird ans Waterhole verschwendet, ich genieße den Augenblick im Hier und Jetzt, lasse mich treiben ohne an etwas zu denken. So in etwa stelle ich mir Meditation vor. Das habe ich tatsächlich noch nie probiert. Oder mache ich es gerade? Keine Ahnung. Mein Kopf dreht sich langsam von links nach rechts, dann wieder zurück. Ich scanne den Fluss, die weit entfernte Brücke unter dem blauen, etwas bewölktem Himmel und wie sie in einem weißlich grauem Nebel langsam verschwindet und die andere Brücke in der anderen Richtung, mit den beiden riesigen Silos daneben.


Angenehm kühle Abendluft durchströmt meine Lungen. Ich atme lang und tief ein……, warte eine Weile….., halte die Luft an und entlasse sie wieder aus meinem Körper. Verbraucht. Jetzt noch einmal…. tief einatmen bis es nicht mehr geht……… Luft anhalten….noch ein bisschen länger 34…, 35…, 36…., 37…., 38 Sekunden und langsam ausatmen…. ganz laaangsam. Früher als Kind konnte ich fast zwei Minuten in der Badewanne untertauchen, ohne nach Luft zu schnappen.
Dann hab ich es. „The Air I Breathe“, den Film werden wir heute Abend schauen.
Beim Frühstück planen wir den heutigen Tag. Ich will gerne bis Port Hawkesbury kommen, dem Beginn von Cape Breton Island, der nördlichen Spitze Nova Scotias. Das alleine sind über 460 Kilometer und mehr als fünf Stunden zu fahren, bei der Route am Golf entlang. Am Folgetag möchte ich dann den Rundkurs um diese Halbinsel fahren, durch den Cape Breton Highlands National Park. Das soll eine besonders beeindruckende Strecke sein, auf die ich mich seit Wochen freue. Jutta hat für unterwegs allerdings auch Pläne. „Da gibt es in Moncton eine Gezeitenwelle, die sie sehen will. Und den Magnetic Hill, da rollen die Autos den Berg hinauf.“, sagt Jutta.

„Wow, das will ich auch machen, den Berg hinauf rollen, meine ich und die Gezeitenwelle geht ebenfalls klar, bin dabei!“, antworte ich. „Dann sollten wir bald starten, denn die nächste Welle wartet nicht auf uns.“, bemerkt Jutta noch. Sie hat den Zeitplan im Blick und wir haben noch fast eine halbe Stunde Puffer bis ins Zentrum von Moncton, der größten Stadt New Brunswicks, vor Saint John. Jetzt geben wir richtig Gas, packen alles zusammen und sehen zu, auf die Straße zu kommen.

Wir sind noch 20 Minuten im Plus als wir Miramichi verlassen und ich bin optimistisch rechtzeitig anzukommen. Bis zur „Welle“ brauchen wir 139 Minuten für 153 Kilometer. „Fahr mal ein bisschen schneller!“, drängelt Jutta. „Na gut, wie du meinst.“, erwidere ich. Seit der Türkei bin ich nicht mehr angehalten worden wegen einer Geschwindigkeitsübertretung, obwohl ich fast immer schneller als erlaubt unterwegs bin. Allerdings versuche ich darauf zu achten, einen gewissen Toleranzbereich nicht zu überschreiten, was sich bei mir so um 10-20 km/h über dem Limit einpendelt. „Es ist viel Verkehr, dafür kann ich nichts!“, bemerke ich. Juttas gute Laune ist auf Talfahrt, sie wird schweigsamer. Noch können wir es schaffen, aber es wird knapp. Unser Puffer schmilzt dahin.
Im Zentrum angekommen bleiben uns nur noch fünf Minuten bis zur Welle und ich habe noch keinen Parkplatz. „Da vorne hinter der nächsten Kreuzung links kannst du parken!“ Die verdammte Ampel springt auf Rot. Ich bremse. Juttas Laune sinkt weiter. Ich tue was ich kann, riskiere ein gewagtes Manöver, nachdem die Ampel auf Grün wechselt. Ich fahre in den Gegenverkehr, um auf die andere Straßenseite zum Parkplatz zu kommen, nehme meinem Gegenüber die Vorfahrt, hebe entschuldigend die Hand, weil der Fahrer des Pickup auf der anderen Seite wegen mir auf die Bremse treten muss. Er nickt mit etwas verkniffenem Gesichtsausdruck, aber verständnisvoll. Wahrscheinlich denkt er sich: „Diese blöden Touristen, immer in Eile.“
Endlich steht LEMMY in der ersten Parklücke die ich entdecke. Es sind noch zwei Minuten bis zur Welle. Als ich aussteige und um das Auto herumgehe ist Jutta weg. Ich schau mich um und rufe nach ihr. Keine Antwort. Ich habe keine Ahnung in welche Richtung es jetzt weiter geht. Mein Blick schweift suchend umher. Dann entdecke ich sie an einer anderen Ampel, sie geht rüber ohne sich nach mir umzudrehen oder auf mich zu warten. Ohne Eile gehe ich hinterher, sie wird vermutlich der Meinung sein, es sei mein Fehler, dass wir zu spät angekommen sind. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, habe nicht getrödelt, bin deutlich schneller gefahren als erlaubt und hoffe sie wird sich bald wieder fangen. Noch bevor ich Jutta eingeholt habe, kommt sie mir entgegen. „Verpasst!“, sagt sie nur. „Oh, das tut mir leid.“, sage ich. Das ganze Spektakel ist natürlich der Augenblick, wenn das Wasser kommt und das Flussbett füllt, nicht wenn es schon da ist. Vermutlich hat es sich um Sekunden gehandelt, aber zu spät ist zu spät. Kleinlaut frage ich: „Magnetic Hill machen wir aber noch, oder?“

Einen Zoo hat Moncton auch zu bieten, direkt beim Magnetic Hill, aber ich hasse Zoos und eingesperrte Tiere. Als Zivildienstleistender arbeitete ich 18 Monate in der Lebenshilfe in Syke und war mit meiner Kindergruppe einmal im Zoo in Ströhen. Das war ein traumatisches und deprimierendes Erlebnis. Ein ausgewachsener Tiger lief in einem vergitterten Käfig von vielleicht 8 x 6 Metern apathisch von links nach rechts und von rechts nach links, den ganzen Tag. Dieses Bild vergesse ich nie wieder und wenn ich dran denke, deprimiert es mich erneut. Als ich am Kassenhäuschen gefragt werde, ob ich das Kombi Ticket erwerben möchte oder……., da unterbreche ich die nette Dame und sage schnell: „ONLY the Magnetic Hill!“
Jetzt ist Jutta nicht mehr alleine schlecht gestimmt, ich bin es auch. „Filmst du mich gleich, wenn wir an der Reihe sind?“ Wir stehen „in Line“ am Magnetic Hill. Vier Fahrzeuge sind noch vor uns. „Ja sicher, kann ich machen.“, antwortet sie etwas gelangweilt. Wir beobachten die Anderen vor uns, sehen wie es läuft. Es sind drei PKWs und ein anderer Camper, ein Wohnmobil. Als wir an der Reihe sind, setze ich Jutta ab und fahre ans andere Ende der Strecke. Dann lege ich den Leerlauf ein und rolle rückwärts den Berg hoch. Jutta filmt mit dem Handy, während ich mich schnell auf sie zubewege und alles aufmerksam in den Rückspiegeln beobachte. Ist der Berg wirklich magnetisch? Nun, ich denke jeder wird wissen wie dieses Phänomen zu erklären ist. Es war den Spaß wert und die gute Laune kehrt allmählich zurück, sogar bei Jutta.
Vom Magnetic Hill fahren wir zunächst durch Amherst, verlassen New Brunswick und kommen 6 Monate nachdem wir in diesem Bundesstaat unsere Nordamerika Tour begonnen haben, zurück nach Nova Scotia. Wir wollen nah am Wasser fahren, mit Blick auf Prince Edward Island und die Northumberlandstraße. Orte mit bezaubernden Namen wie Pugwash, Bayhead und Tatagamouche werden passiert und New Glasgow liegt vor uns. Irgendwo zwischen Melville und Toney River halten wir an einem ansprechenden Roadhouse und gönnen uns eine Pause. Das Essen auf der Terrasse schmeckt hervorragend, ebenso wie die „Home Made Lemonade“ und die Laune steigt weiter. Die Sonne scheint und die Strecke ist wenig befahren und wunderschön.
Nach dem Essen ist mein Gute-Laune-Pegel zurück im oberen grünen Bereich, kurz vor orange, Euphorie. Nicht wegen des Lunchs, sondern weil wir uns Cape Breton Island nähern. In weniger als zwei Stunden werden wir die Halbinsel erreichen und dann spontan entscheiden, wie lange wir heute noch fahren wollen. Der Highlands N. P. ist heute nicht mehr in Reichweite, aber das macht nichts, morgen haben wir den ganzen Tag Zeit für diese Traumroute und den Cabot Trail, eine der schönsten Straßen ganz Nordamerikas. So denke ich jedenfalls jetzt noch. Aber es soll anders kommen. Schon in weniger als einer Stunde wird es geschehen. Bis dahin schmieden wir, ahnungslos wie wir sind, Pläne.
Heute ist der 30. Juni 2022. Am 04. Juli wird LEMMY von Halifax nach Hamburg verschifft. Das bedeutet, wir haben noch drei Tage bis wir im Hafen sein müssen. Das ist mehr Zeit als genug, um diese Route zu fahren, das Auto gründlich zu waschen und alles Organisatorische zu erledigen. Auf Nova Scotia sind wir bereits und Halifax nur Stunden entfernt. Wir überlegen uns wieder einen Leihwagen zu nehmen, wenn LEMMY im Hafen, bzw. auf der Atlantic Sail ist. Außerdem will ich unbedingt im Residence Inn by Marriott einchecken, am liebsten im selben Appartement wie vor einem halben Jahr.
Bei der Abreise im Februar habe ich angekündigt im Sommer zurückzukehren und mir wurde ein guter Deal zugesagt. Allerdings sei dann „High Season“ und ich müsste mit einer Preiserhöhung rechnen. Wenn man online auf verschiedenen Portalen schaut, wird einem schwindelig bei den Preisen. Unter 500 Euro pro Nacht finden wir auf keinem Portal ein vergleichbares Appartement wie im Januar. Aber das bereitet mir noch kein Kopfzerbrechen. Ich bin positiv gestimmt und denke, sie werden uns schon ein gutes Angebot machen. Schließlich zählen wir sicher zu den Stammgästen, weil wir drei Wochen dort gewohnt haben und erneut einchecken werden.
Noch eine halbe Stunde bis LEMMY verreckt….
„Wir kommen gleich an Antigonish vorbei, also weniger als eine Stunde bis Cape Breton Island!“, teile ich Jutta freudig erregt mit, den Blick aufs Navi. Ich markiere gerne Etappenziele. Bei anstrengenden Wanderungen sage ich aus Spaß oft: „Nur noch zehn Schritte!“ Bei langen Fahrten heißt es: „Unter 300 Kilometer bis zum Ziel!“, sobald ich die 299 auf dem Tacho sehe. In regelmäßigen Abschnitten wird es dann wiederholt, unter 200 Kilometer oder nach der nächsten Kurve „Nur noch zehn Schritte.“ Bis zur nächsten Kurve, dann wieder: „Nur noch zehn Schritte.“ Das können Überlebensstrategien sein oder simpel gesagt, es kann einfach die Zeit verkürzen. Dabei muss ich an die Zeitschrift „MAD“ denken. Zeit ist relativ und zugleich subjektiv, wie kaum ein anderer Faktor. Sind fünf Minuten lang oder kurz? Beim Zahnarzt sind, fünf Minuten ohne Betäubung mit dem Bohrer malträtiert werden eine Zumutung und damit eine endlos lange Zeit. Ein Masochist kommt eventuell zu einer anderen Beurteilung. Hingegen sind 5 Minuten für ein Pint eiskaltes, frisch gezapftes Pabst Blue Ribbon eine viel zu kurze Zeit.
„WAS MACHST DU DENN?“, ruft Jutta zu mir rüber. Ich bin mitten auf dem Highway rechts auf den Seitenstreifen gefahren. Der Motor ist aus. Verreckt. Wir sind kurz hinter Havre Boucher auf dem HWY 104 East, bei Kilometer 264.

Ich schaue genauso entsetzt in Juttas Gesicht, wie sie in meins. „Ich weiß nicht was los ist. Der Bordcomputer hat auf dem Display angezeigt ich soll sofort rechts ran fahren und den Motor abschalten, aber der ist ganz von alleine ausgegangen! SCHEISSE!“
„Fuck, was machen wir jetzt?“ Erst mal ruhig bleiben und überlegen. Wir stehen auf dem Seitenstreifen des Highways. Hier ist mehr Verkehr als auf den Nebenstrecken, die wir zuvor gefahren sind, aber viel ist nicht los. „Starte noch mal, vielleicht springt er an!“, sagt Jutta. „OK, ich versuchs!“ Nichts! Der Motor ist tot. Es tut sich rein gar nichts. Kein Klicken, keine Kontrollleuchte geht an. Stille.
Wir ziehen unsere Warnwesten an und halten uns rechts am Straßenrand. „Wir müssen wissen, wo genau wir sind!“, sage ich. „Da hinten steht ein Schild, da gucke ich mal.“ Zur Sicherheit fotografiere ich es, weil ich in der Aufregung bestimmt vergesse, was darauf steht. „Lass uns den ADAC in München anrufen!“, schlage ich vor, als ich zurück komme und tippe kurz darauf die Nummer in mein Handy. Jutta nickt mir zu. Mit dem ADAC habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Sie haben mir bei Pannen oft helfen müssen, denn ich bin früher nur sehr billige, alte Autos gefahren. Ich habe es nicht eingesehen viel Geld auszugeben für einen Gebrauchsgegenstand, mehr war ein Fahrzeug damals nicht in meinen Augen. Ein Freund von mir hat sogar einmal mehr Geld für sein Fahrrad bezahlt, als ich für mein Auto. Er wollte damit durch die Pyrenäen fahren und es war ein sehr hochwertiges Bike. Ich hatte wenig Ansprüche an meinen fahrbaren Untersatz, er musste nur laufen. Mittlerweile hat sich mein Standpunkt verändert.

Es hebt jemand ab in München. Ich schildere mein Problem. „Wir stehen mit unserem Camper an einem Highway in Nova Scotia, der Motor ist ausgegangen, nachdem eine Warnmeldung auf dem Display angezeigt hat, ich solle sofort rechts ran fahren.“ Der Mensch am anderen Ende der Leitung kann uns leider nicht helfen, er mag uns nicht mal eine Adresse oder Telefonnummer geben, wo wir Hilfe bekommen. Es tue ihm sehr leid, aber in Kanada sind wir auf uns gestellt. Das sei nicht seine Zuständigkeit. Ungläubig lege ich auf. Das habe ich ja noch nie erlebt. Die haben mir doch immer geholfen. Bei jeder verfickten Panne oder als ich damals in Nimes in Frankreich mit einem Virusinfekt eine Woche im Krankenhaus gelegen habe. Sie haben mich mit dem Ambulanz-Jet von Montpellier nach Hamburg geflogen, mich dort mit einem Fahrdienst abgeholt und vor der Haustür abgesetzt. Für Jutta wurde ein zusätzlicher Fahrer eingeflogen, um meinen alten Honda Accord mit ihr nach Hause zu fahren.
Jetzt bin ich echt angepisst: „Fuck you ADAC!“
Während ich telefoniere ist Jutta nicht untätig. Sie findet online einen Abschleppservice, McEwans Towing & Hotshot Service. Die Firma ist ganz in der Nähe. 12533 NS- 4, Havre Boucher, NS BOH 1PO, Kanada.
Ich bin leider kein Autoschrauber und weiß nicht weiter, also bitte ich Jutta bei McEwans anzurufen. Zehn Minuten später kommt ein Pickup vorbei und stellt sich direkt hinter uns. In der Wartezeit hat Jutta weitere Recherchen betrieben, die uns später vielleicht noch nützlich sein können. Der Typ aus dem Pickup begibt sich direkt auf die Fehlersuche. Wir setzen all unsere Hoffnung in ihn. Morgen ist Freitag, der 1. Juli, Canada Day, Nationalfeiertag. Also wird morgen am Freitag nichts mehr laufen und am Wochenende noch weniger. Montag ist der 4. Juli, dann MUSS LEMMY im Hafen sein. Der Mann vom Abschleppservice erweist sich als rettender Engel.
Als erstes will er mit seinem Diagnosegerät die Fehlersuche starten, hat es aber in der Werkstatt vergessen. Er fährt kurz zurück und ist ca. 20 Minuten später wieder da. Leider ist LEMMY zu neu und das Gerät nicht kompatibel. Dann telefoniert er einige Minuten mit jemandem. Hin und wieder nickt er und wir deuten das als gutes Omen. Wir klammern uns an jeden Strohhalm, der uns Hoffnung vermittelt. Jutta berichtet mir inzwischen, was sie zu dieser Fehlermeldung im Display rausgefunden hat. Was sie mir da erzählt, ergibt auf jeden Fall Sinn. Unser Mechaniker hat auch einen Plan. Jetzt kombinieren wir beides, ich erzähle von Juttas recherchierter Theorie und er folgt dem Tipp, den er am Telefon erhalten hat.
Ich muss kurz etwas ausholen, um den Fehler zu erklären. Womöglich könnte es für den ein oder anderen in Zukunft von Nutzen sein. An der Westküste in Vancouver, vor vielen tausend Kilometern, habe ich einen Ölwechsel machen lassen. Ich habe den Bordcomputer NICHT resetet, weil ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass das amerikanische Motoröl nicht dem europäischen Standard entspricht und ich unbedingt spätestens nach 7000 Kilometern erneut einen vornehmen lassen sollte. Da dachte ich bei mir, dann lass doch den Bordcomputer unresetet, so erinnert er dich bei jedem Motorstart daran es nachzuholen, wenn du wieder in Deutschland bist, mit gutem europäischem Öl. Ich wusste das, aber der Bordcomputer nicht. Nach weit mehr als 7000 gefahrenen Kilometern, wie der Bordcomputer nun registrierte, OHNE Ölwechsel, hat er wohl einfach dicht gemacht.
Ich teile nun die Erkenntnis, die Jutta mir zugetragen hat, mit dem Mechaniker und er verfolgt seinen Plan. Er trennt den Minuspol von der Batterie für 60 Sekunden und schließt ihn dann wieder an. Ich scrolle im Bordcomputer zu dem Punkt Oelwechsel und setzte ihn zurück. Dann setze ich mich hinter das Lenkrad und stecke den Zündschlüssel ins Schloss. Vier weit aufgerissene Augen schauen erwartungsvoll in Meine. Ich schaue aufgeregt vom Fahrersitz zu Jutta und dem Mechaniker. Was tun wir, wenn der Wagen nicht anspringt? Montag muss LEMMY im Hafen sein. Das Schiff wartet nicht, genauso wie die Gezeitenwelle in Moncton. Dem Schiff und der Welle ist es egal, wo wir sind und welche Probleme wir haben. Mit einem Nicken deute ich an bereit zu sein den Schlüssel umzudrehen. Ich wende den Blick ab von Jutta und dem Mechaniker, gucke nach vorne durch die Windschutzscheibe auf die Straße, so als ob ich gleich los fahren will…. dann sende ich ein kleines Stoßgebet in den Himmel……und drehe den Zündschlüssel um….LEMMY springt an!!!!
Ich erlebe ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung, ein nervenzerreißendes Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber ich glaube bei Jutta war es noch viel intensiver. Bekommen wir LEMMY noch rechtzeitig auf das Schiff? Was ist, wenn wir hier fest stecken wegen dem Canada Day und von Freitag bis Montag nichts geht? Ist doch jetzt alles egal. Oder? LEMMY läuft wieder.
Unser Highway-Engel rät uns, ihm hinterher zu fahren bis zu seiner Werkstatt, nur um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist. Sehr gerne befolgen wir seinen Rat. Ohne Probleme kommen wir wenig später an. Sein Kollege aus der Werkstatt erwartet uns bereits. Mit ihm hat er vermutlich vorhin telefoniert. Wir plaudern etwas. Jutta ist glücklich, aber auch mit den Nerven am Ende. Ich will meine Tour fortsetzten. Seit Wochen freue ich mich auf den Cabot Trail. Zum jetzigen Zeitpunkt befinden wir uns zweieinhalb Stunden von Halifax entfernt. Die Divergenz zwischen Jutta und mir wird zusehends größer.
Ich mache einen entscheidenden Fehler und frage unseren Mechaniker, was er denn jetzt an meiner Stelle machen würde. Er kennt mittlerweile unsere Situation und weiß, dass wir Montag im Hafen sein müssen. „Ich würde direkt nach Halifax fahren!“, sagt er. Ich bereue in dieser Sekunde gefragt zu haben und gleichzeitig wird mir klar, damit ist es besiegelt. Ich bin geliefert. Im Bruchteil einer Sekunde realisiere ich die grausame Wirklichkeit. Ich weiß, der Fehler war exakt der, den Jutta recherchiert hat. Der Fehler ist behoben und LEMMY wird laufen ohne Probleme zu machen. Wir können unsere Route fortsetzen und kommen pünktlich im Hafen an. Von mir aus ist alles gut und ich bin startklar, aber Jutta will sofort zurück in die Stadt. Da gibt es keine Diskussion.
Sie will nichts mehr riskieren und ich kann ihr nicht 100 prozentig Versprechen, dass nun alles glatt läuft. Sie mag jetzt keine Abenteuer, will nicht das geringste Risiko eingehen. Für Jutta gibt es nur eine Richtung. Halifax. Für meine Argumente: „ Es gibt immer eine Lösung!“, oder „Auch an Feiertagen wird Einem geholfen, wenn man Probleme hat!“, verpuffen im luftleeren Raum. Sie ist nicht mehr empfänglich für meine positiven Botschaften. Ich muss mich geschlagen geben. Wir kehren um und fahren zurück. Aber unseren rettenden Engel muss ich noch einmal erwähnen, er will kein Geld von mir annehmen. Ich möchte ihn bezahlen für die erstklassige Arbeit, für seine Zeit, aber er lehnt kopfschüttelnd ab. Nicht einmal 20 Dollar für die Kaffeekasse will er nehmen. Danke nochmal an dieser Stelle: „McEwans Towing & Hotshot Service, ihr seid fantastisch!“ Es ist einfach wunderbar solche tollen Menschen zu treffen, die einem in der Not völlig uneigennützig helfen. „Danke!“
Nun habe ich das Vergnügen wenige Meter vor Cape Breton Island umzudrehen, um nach Halifax zu fahren. Mein Traum, diese Panoramastrecke zu erleben, platzt in diesem Augenblick. Ich wende und stelle mich der Realität. Die nächsten zweieinhalb Stunden tauschen wir die Rollen. Jutta ist froh über den Richtungswechsel, ich bin todunglücklich.
Gegen Abend erreichen wir die Stadt und Jutta lotst mich zu einem kostenpflichtigen aber günstigen Parkplatz, irgendwo hinter dem Bahnhof und in der Nähe des Port of Halifax. Es ist gestattet über Nacht zu parken. An größeren Häfen gibt es fast immer reichlich Parkmöglichkeiten und von Vorteil hier ist auch der kurze Fußweg in die City und zur Waterfront.

LEMMY läuft wie erwartet rund, hat keine Probleme mehr gemacht. Wir hätten unsere Tour um Cape Breton Island fortsetzen können. Jutta hat mich mit ihrer Vorsicht um dieses Erlebnis gebracht. Ich arbeite pausenlos daran, ihren Abenteuergeist zu wecken und werde nicht aufgeben. Aber, um es mit Alfs Worten zu sagen: „Was hilft es über verschüttete Milch zu klagen?“
Irgendwie ist es ein bisschen wie „Nach Hause kommen“. Haben wir doch drei Wochen am Beginn unserer Amerika Tour hier in der Stadt gelebt und sie kennen und lieben gelernt. Ein paar Tage werden wir noch mit LEMMY verbringen, bis wir ihn im Hafen abgeben, für die Verschiffung mit der Atlantic Sail nach Hamburg. Gekommen ist LEMMY auf der Atlantic Star, ebenfalls von der Grimaldi Reederei, unter maltesischer Flagge. Wir wollen wieder im Residence Inn by Marriott einchecken. Ich will versuchen dasselbe Appartement zu bekommen, wie vor einem halben Jahr, meinetwegen auch einige Etagen darüber. Die Aussicht war einfach klasse und ich konnte dort sehr gut schreiben. Das Ambiente war super und wir haben uns rundum wohl gefühlt.
Ich hoffe dort noch einige weitere Seiten für meinen Blog zu Papier zu bringen bzw. auf meinen Laptop.
Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden den Cabot Trail beim nächsten Nova Scotia Besuch in Angriff zu nehmen und schlage Jutta vor noch ein Bier auf die Ankunft trinken zu gehen. „Wie wäre es im Durty Nellys?“

Wir spazieren entlang der Waterfront, nun im Sommer mit luftiger Kleidung, nicht dick eingepackt wie bei unserer Ankunft im Januar bei -14°. Es ist wundervoll diese Stadt im Winter mit massiven Schneemassen kennengelernt zu haben und nun im Sommer dieselben Wege im T-Shirt zu gehen. Wir stehen „in line“ vor dem Durty Nellys, sind nicht die Einzigen, die Einlass begehren. „Wait to be seated!“, steht auf einer Tafel geschrieben, wir kennen das. Draußen sind noch reichlich Plätze frei. Zehn Minuten später sitzen wir auf der Terrasse und bekommen noch die letzten Sonnenstrahlen ab, bevor sie hinter den Hochhäusern verschwinden. Ich bestelle ein großes dunkles und sehr süffiges Alexander Keiths, Jutta gönnt sich zur Feier der Ankunft einen Rotwein. „Cheers!“

Bei Bier und Wein besprechen wir die nächsten Tage. Heute ist Freitag, der 1. Juli und am 4., also in drei Tagen, muss LEMMY im Hafen sein. Solange werden wir auf dem Parkplatz wohnen. „Wir müssen das Auto noch gründlich waschen, bevor wir in den Hafen fahren!“, sage ich zu Jutta. „WIR? Du musst das Auto waschen!“, kontert sie. „Ja klar, schon gut, das meinte ich doch.“ Dann wasche ICH also morgen das Auto und übermorgen parken wir beim Residence Inn by Marriott, checken ein und laden alles aus, was wir hier noch brauchen bis zum Rückflug.“, sage ich.
In dem Augenblick fällt mir noch ein wichtiges Detail ein. „FUCK, ich habe ja gar keinen Trolley mehr. Wir müssen noch einen kaufen, für meine ganzen Klamotten!“ „Oh ja!“, stimmt Jutta zu. „Wollen wir das morgen machen? Es könnte sonst schwierig werden alles zu transportieren. Obwohl ins Hotel bekommen wir deine Sachen auch so. Wir haben einige Beutel und Taschen, dann bringen wir die Sachen in Etappen hoch.“, schlägt sie vor. „Neee, morgen is Samstag, lass uns das am Montag machen.“, sage ich.
„Alles klar! Dann checken wir Sonntag im Hotel ein, laden alles aus und Montag geben wir LEMMY im Hafen ab und am Nachmittag kaufen wir einen neuen Trolley. Wir sollten diesmal besser darauf achten wie groß er wird.“ Jutta lacht, denn sie weiß sofort, worauf ich anspiele. 2018, als wir das letzte Mal in Thailand waren, da wurde mein Trolley auf dem Flug so stark beschädigt, dass er unbrauchbar war. Für die weitere Reise musste ebenfalls ein Neuer her. Ich hatte im Hotel grob Maß genommen an dem demolierten Modell und mich dabei fürchterlich vertan, bei der riesigen Auswahl im Laden am Siam Square. Der neue Trolley war vollkommen überdimensioniert. Als wir das, im Hotel angekommen, feststellten, da hatten wir keinen Bock mehr ihn umzutauschen. Wir nehmen uns vor diesen Fehler nicht zu wiederholen. Was sich am Montag als weitaus größerer Fehler herausstellen wird, davon ahnen wir jetzt noch nichts. Aber dann wird es zu spät sein, solange niemand das Geheimnis der Zeitreise lüftet. Ich werde ausrasten, laut fluchen auf offener Straße und mich schwarz ärgern, aber es wird nichts ändern.
Wir bestellen uns weitere Drinks, etwas zu essen und Jutta schaut online nach der nächsten Self-Service-Waschanlage. Ich drehe mich gelegentlich um und sehe das Hotel auf der anderen Straßenseite und unser Eckappartement, in das ich so gerne wieder einziehen würde.
„Wenn LEMMY auf See ist, dann haben wir noch sieben Tage in Halifax bis zu unserem Rückflug.“, stelle ich fest. Jutta schaut mich neugierig an und wartet bis ich fortfahre mit meinen Gedanken. „Wollen wir nicht wieder einen Leihwagen nehmen und etwas umherfahren?“ Jutta setzt zu einer Antwort an, doch noch bevor sie nur einen einzigen Ton rausbringt kommt mir ein Geistesblitz und ich bedeute ihr, mit dem Zeigefinger auf meiner Lippe, zu schweigen. Ein breites Grinsen entfaltet sich und ich enthülle ihr meinen, in dieser Sekunde, entstandenen Plan. „Wir könnten den Cabot Trail mit einem Leihwagen fahren und in Motels oder B&Bs übernachten! Was hältst du davon?“ Ich sehe wie es in ihr rattert, aber sie scheint es nicht gänzlich auszuschließen.
Dann spricht sie ihre Gedanken aus: „Mal sehen, es kommt drauf an was der Mietwagen kostet und wie viel wir für das Hotel zahlen müssen. Willst du dann wieder aus dem Appartement ausziehen, wenn wir unterwegs sind oder läuft es parallel weiter?“ Alles gute und berechtigte Fragen, denke ich. Hoffnungsvoll doch noch meine Traumroute auf dieser Reise zu fahren antworte ich: „Ok, das finden wir morgen raus.“ Wir reden noch über alles Mögliche, u. a. auch über das maritime Museum mit der dauerhaften Titanic Ausstellung, die ich gerne besuchen möchte. Livemusik dringt von innen nach außen auf die Terrasse und ich befinde mich wieder in exzellenter Stimmung. Vier Faktoren tragen maßgeblich dazu bei: Der Traum vom Cabot Trail könnte noch wahr werden, die Musik ist super, Jutta hat nicht sofort abgelehnt, was den Leihwagen angeht und mein Bier ist noch fast voll. „CHEERS!“
Zurück zum Parkplatz bummeln wir wieder entlang der Waterfront. Am 6. Juli wird die Atlantic Sail den Hafen von Halifax verlassen. Um 23:00 Uhr soll das Schiff auslaufen. Dass diese vermeintliche Startzeit eher als Anhaltspunkt dient und selten eingehalten wird, wissen wir bereits. Aufgrund von Personalmangel, schlechtem Wetter und was weiß ich, kam LEMMY mit einer ganzen Woche Verspätung in Halifax an. Trotzdem will ich mir die Möglichkeit offen halten, das Schiff beim „Auslaufen“ zu beobachten.
„Guck mal da!“, sage ich zu Jutta. „Dort könnten wir auf der Terrasse sitzen und bei einem Drink warten, bis das Containerschiff an uns vorbei kommt. Wäre das nicht großartig?“ Ich zeige, während ich spreche, mit dem Finger auf eine gemütliche Terrasse einer Restaurant Bar mit Tischen, die allesamt in der Mitte mit einer Feuerschale ausgerüstet sind und mit Wolldecken, falls es in der Nacht kühler wird. „Mal sehen.“, sagt Jutta, um sich nicht festzulegen. „Ich habe bestimmt keine Lust stundenlang auf ein Schiff zu warten!“ Sie würde diesem Augenblick auch nicht annähernd dieselbe Bedeutung zukommen lassen wie ich, den Moment zu erleben, wenn das Schiff mit LEMMY an Bord an uns vorüber fährt, auf dem Weg von Amerika nach Europa, über den zweitgrößten Ozean.
Der Samstag beginnt ziemlich ernüchternd. Nach dem Frühstück beim zweiten Kaffee, recherchieren wir beide, sowohl was Leihwagen im Sommer in Halifax angeht und Hotelpreise in der High Season. Auf diversen Portalen kosten die Appartements im Marriott pro Nacht zwischen 400 bis 600 Dollar und mehr.
Als wir vor langer Zeit im Winter gebucht haben, kostete es regulär in etwa 150 Dollar, plus Steuern und den üblichen Gebühren, nur hatten wir eben diesen Special Deal bekommen, wegen der katastrophalen Anreise und dem mitfühlenden Manager. Vielleicht hätte er anders entschieden, wenn er gewusst hätte, dass aus zwei plötzlich drei Wochen werden. Aber egal, sie haben mir bei unserer Abreise erneut einen guten Deal zugesagt, wenn wir im Sommer zurückkehren.
Das hat Avis nicht getan, als wir im Februar einen geilen Chevrolet Traverse mit Vollausstattung gemietet haben. Nur knapp einhundert Dollar/Tag hat es im Winter gekostet. Jetzt wollen sie für dasselbe Model 450 – 700 Dollar pro Tag und vergleichbare Fahrzeuge sind eher noch kostspieliger. Meine Laune stürzt gerade ins Bodenlose, wie die VW Aktie als der Dieselskandal publik wurde. Ebenso wie am Aktienmarkt scheint es gerade an der Mietwagenbörse zu sein. Das Gefühl hatte ich vor sechs Monaten schon mal, aber weit unter diesem exorbitant hohen Preisniveau. Ich schaue noch nach dem Jeep Grand Cherokee, den ich selber im Waterhole fahre, dem Suburban und anderen SUVs. Jutta schaut einige Nummern kleiner. Davon will ich nichts wissen. Ich zahle jetzt im Sommer nicht den gleichen Preis für einen Kleinwagen, den ich vor sechs Monaten für einen mittleren Luxusklassewagen bezahlt habe. „Dann können wir Cape Breton Island vergessen!“, stellt Jutta fest. Mir ist auch etwas klar geworden. Ich zahle keine 300 Dollar aufwärts für einen Leihwagen der mir genehm wäre und ich miete erst recht keinen verdammten Kleinwagen für 100 Dollar oder mehr am Tag. Zum zweiten Mal verabschiede ich mich von meinem Traum den Cabot Trail zu erleben, aber da bleibe ich mir treu, wenn ich so eine Traumroute fahre, dann for sure nicht mit einem Ford Fiesta. (Kleine Anmerkung von Jutta: Na, da bist DU dann wohl etwas unflexibel und nicht sehr abenteuerlustig. Ich hätte das für deinen Traum vom Cabot Trail gerne in Kauf genommen ;))
Der Kaffee ist sozusagen auf und der Mietwagen gestorben. Das Problem mit dem hohen Hotelpreis wird vertagt. „Wollen wir das Auto waschen?“, frage ich. „Nee, wir wollen das Auto nicht waschen!“, sagt Jutta. Ich habe verstanden.

Jutta füttert den Automaten mit Münzen, ich sage welches Waschprogramm ich wünsche. „Vorwäsche mit Schaum!“, bestelle ich. Als die Münzen ausgehen zahlt sie mit Kreditkarte. Ich wasche gründlich mit Bürste, Schaum und viel Wasser. Am Ende spritze ich mit dem Hochdruckreiniger alles ab. LEMMY sieht aus wie neu, na ja, fast jedenfalls. Ich bin zufrieden und im Hafen sollte es so keine Probleme geben. Für Australien würde es nicht reichen, aber für Halifax und Hamburg wird LEMMY ausreichend sauber sein.


Nach der Autowäsche fahren wir wieder auf unseren Parkplatz hinter dem Bahnhof, packen und sortieren schon mal vor. Was bleibt im Auto und was nehmen wir an uns für die letzten Tage und den Flug. Wir nehmen alles auseinander, ich reinige die Staufächer, packe die Kisten aus und wieder ein, Jutta macht innen klar Schiff.

Zum Lunch gibt es Grilled Cheese Sandwich, danach gönnen wir uns einen Mittagsschlaf. Am Nachmittag genießen wir einen Gourmet Kaffee und zum Abend gibt es ein leckeres Essen, Wein, Bier und einen fantastischen Film, Killing Zoe. Es ist Samstag und am Montag, in zwei Tagen, werde ich mich und die ganze Welt verfluchen, weil ich nicht heute schon meinen neuen Trolley gekauft habe. Die Zeit dazu hätten wir locker gehabt.
Es ist Sonntag, der 3. Juli 2022. Wir lassen es ruhig und entspannt angehen. Der einzige Pflichttermin heute: LEMMY umparken zum Residence Inn by Marriott und einchecken im Hotel bzw. in unser Appartement. Ich bin schon morgens beim Frühstück aufgeregt. Werden wir einen guten Preis bekommen? Können wir überhaupt wieder einziehen oder ist alles ausgebucht? Es ist Sommer und alles scheint komplett anders zu sein als im „Corona Winter“ vor sechs Monaten. Diese horrenden Preise auf den Internetportalen können und wollen wir nicht zahlen.
Nach dem zweiten Kaffee fahren wir los. Gepackt haben wir gestern bereits. Ich stelle LEMMY auf dem Parkplatz gegenüber des Hotels ab und wir gehen über die Straße zur Rezeption. Ich erkläre die Situation, als wir sechs Monate zuvor im Winterchaos angereist sind mit Flugverspätungen, Ausfällen und einem gestarteten und abgebrochenem Flug. Ein guter Deal wurde zugesagt, wenn wir zurückkommen. Dann wünsche ich mir noch mein altes Appartement, in dem wir bereits drei Wochen verbracht haben. Die Rezeptionistin checkt den Computer und findet uns im System. Sie bietet uns ein Appartement an, auf der gleichen Etage, nur ein anderer Flügel und statt 600 Dollar aufwärts kann sie uns einen Preis knapp unter 300 Dollar anbieten. Jutta und ich schauen uns an. So viel Geld haben wir noch nie pro Übernachtung ausgegeben. Irgendwie widerstrebt es mir, fast 300 Dollar zu zahlen, aber es ist auch nicht nur ein Zimmer, wir bekommen ein gut ausgestattetes Appartement. In den ersten drei Wochen haben wir nur ca. 90 Dollar gezahlt, statt 150. Ich jongliere die Zahlen in meinem Kopf hin und her und dann nicke ich Jutta zu. Fragend schaue ich sie an, sie schaut zur Rezeptionistin, die wiederum fragend abwechselnd zu mir und dann wieder zu Jutta blickt. Jutta nickt. Ich zücke meine Kreditkarte und reiche sie an mein Gegenüber. Check!


Jetzt gilt es LEMMY so auszuräumen, wie wir es bereits perfekt vorbereitet haben. Wir holen aus dem Auto, was wir tragen können und werden auf unsere Etage begleitet. Nun, mit Schlüsselgewalt, sind wir auf uns gestellt, dürfen aber auch die rollenden Hotelgepäckwagen benutzen. Wir gehen an unserem ehemaligen Appartement vorbei, an die andere Ecke des Flurs, und sind überaus zufrieden. Bis auf die Aussicht aus dem Fenster sind die Zimmer identisch. Dieser Ausblick ist nicht ganz so fantastisch wie vor Monaten, aber mit dem Defizit kann ich sehr gut leben, trotz des höheren Preises. Schließlich ist High Season. Dreimal müssen wir laufen, bis wir alles oben in unserem neuen Heim für die nächsten Tage haben. By the way, es fühlt sich toll an, wie: „Nach Hause kommen“. Wir richten uns ein für eine letzte Woche. Morgen bringen wir LEMMY in den Hafen, heute machen wir es uns gemütlich.

Montag, 4. Juli. 2022. Sehr früh am Morgen treffen wir unsere Reiseagentin von SeaBridge auf dem Parkplatz am Zoll. Wir kennen uns schon von unserer Ankunft. Jutta hatte schon vor einigen Wochen diesen Termin mit ihr ausgemacht. Schnell und äußerst angenehm sind die Formalitäten erledigt. Vom Zoll geht es nun weiter in den Hafen und auch dort werden alle Belange schnell geklärt. Beim Check In erkennen wir den alten Herren wieder, der uns vor einem halben Jahr schon so freundlich empfangen hat. Auch er erinnert sich an uns. LEMMY wird eingecheckt und zum Glück fällt mir noch ein die Kennzeichen zu entfernen, damit kein gelangweilter Seemann sie mopsen kann.

Wir steigen in einen Linienbus vom Hafen nach Down Town. Auf dem Weg von der Bushaltestelle zurück ins Hotel spazieren wir über Umwege durch einige fotogene Häuserzeilen mit schönen Graffitis. Einige kenne ich bereits. Hier und da schieße ich ein Foto. Der Himmel ist strahlend blau, nicht eine Wolke ist in Sicht. „Wir müssen die Tage noch in den Plattenladen.“, sage ich zu Jutta. „Ich will mal schauen, ob sie hier vielleicht einige Hellacopters Scheiben haben und mit Glück sogar die, die mir der Blonde aufgetragen hat zu suchen!“ „Na klar, das machen wir!“, sagt Jutta.

Weil der Tag sehr früh begonnen hat, gönnen wir uns einen Mittagsschlaf, bevor wir den Trolley für den Rückflug kaufen gehen. Jutta weiß einen Laden, ich schaue nach dem Weg dorthin. Dann legen wir uns ins Bett und hören: „Die drei Fragezeichen und das blaue Biest.“
Die wichtigen Dinge sind erledigt. LEMMY steht sicher im Hafen von Halifax, offiziell eingecheckt. Erst in Hamburg werden wir ihn wieder sehen. Und dann wird es nicht lange dauern, bis wir zum RELOAD FESTIVAL fahren. Für heute steht also nur noch eine Sache auf der „To Do Liste“. Ein neuer Trolley muss her. Die Sonne scheint und es ist ein weiterer netter Spaziergang, vorbei an der Zitadelle, wo wir vor 6 Monaten schlotternd vor Kälte runter geschaut haben. Eisige Winde peitschten uns ins Gesicht. Am Anfang des Wegs kennen wir manches wieder, doch dann verlassen wir gewohntes Terrain. Aber das ist gut so und wir genießen die Ausblicke auf die neue Umgebung. Irgendwann kommen wir an und der Laden ist weniger vielversprechend als angenommen und die Auswahl bescheiden. Aber wir haben keine Lust noch woanders zu suchen, also kaufen wir hier.

„Die Größe passt.“, behaupte ich und bin sicher damit recht zu behalten. Ich wähle extra eine Nummer kleiner. Billig ist er nicht, aber dafür stimmt hoffentlich die Qualität. Dann machen wir uns auf den Rückweg. Ich schiebe einen leeren Trolley an meiner Seite und an der nächsten Kreuzung müssen wir die Straße überqueren. An der Robie Street passiert es dann. Ich sehe schon von weitem ein interessantes Plakat an einem Stromkasten kleben. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Straßenseite und denke: „Lies, was da drauf steht. Es sieht aus wie ein Konzertplakat.“
Ich komme immer näher und ahne mit jedem weiteren Schritt, das wird dich interessieren. Bekommen wir auf die letzten Tage noch ein Konzert geboten? Dann stehe ich vor dem Plakat mit einem leeren und nagelneuen Trolley in der rechten Hand. Auf dem Plakat prangt der Name einer Band und ein angekündigtes Konzert. Die Band heißt DAYGLO ABORTIONS, sie kommt aus Victoria, British Columbia, Canada. Sie spielt in Halifax. Nein, SIE HABEN VERDAMMT NOCHMAL GESPIELT, GESTERN! Ich kenne diese Band seit 30 Jahren oder länger und hatte noch nie das Vergnügen sie live zu erleben. Auf dem Plakat steht tatsächlich, SUNDAY, JULY 3TH 8 PM im Gus` Pub. Für verfickte 25 Bucks hätten wir diese geile Hardcore Punk Metal Band in Halifax sehen können, wären wir nur am Samstag schon losgelaufen meinen beschissenen Trolley zu kaufen!!!! Das Plakat wäre mir auch zwei Tage früher nicht entgangen. Ich tobe, fluche und ärgere mich über mich selber, weil ich den verdammten, verfickten und beschissenen Trolleyeinkauf verschoben habe. Hätten wir das am Samstag erledigt, dann wären wir Sonntag im Gus` Pub dabei gewesen. Jetzt bleibt mir nur eins, das verfickte Konzertplakat abzureißen, damit es mich für immer daran erinnert, was ich verdammt nochmal versäumt hast. Es wird den letzten freien Platz an meiner Garagendecke bekommen, in der linken Ecke beim Tor. Möge es mir eine Lehre sein. Jedes Mal wenn ich es betrachte, Dinge die erledigt werden müssen, nicht aufzuschieben.

„Lass uns eben in den „NSLC Shop“ (Nova Scotia Liquor Corporation) schauen, dann können wir noch ein paar Bier kaufen und eine Flasche von unserem Lieblingsrotwein. Wir haben den Trolley dabei, dann sollten wir ihn auch nutzen.“, sage ich zu Jutta. Der NSLC Store ist gleich neben unserem Hotel. „Schließlich sind wir noch eine Woche in der Stadt!“, füge ich hinzu, keinen Widerspruch duldend. Ich packe ein paar Sixpacks Molson und Pabst ein und eine große Flasche Rotwein.
Mit meinem neuen Rollkoffer, der nun um einiges schwerer ist, begeben wir uns zurück ins Appartement. „Den richtigen Einkauf machen wir dann morgen, OK?“, sagt Jutta. „Ja klar, wollen wir noch einmal im Atlantic Super Store einkaufen?“, frage ich. Der Laden ist teuer, aber dort gibt es eine tolle Auswahl an leckeren Sachen und das Einkaufen macht mehr Spaß, als in dem günstigen Supermarkt nebenan. Jetzt kommt es darauf auch nicht mehr an. Haben ja 50 Dollar für Konzerttickest gespart!. „Können wir machen.“, sagt Jutta.
Ich packe alles in den Kühlschrank und breite mich mit dem Laptop auf meinem Schreibtisch aus. Morgen will ich mal wieder einen Versuch wagen.
Wir sind angekommen. Ich genehmige mir ein kaltes Pabst Blue Ribbon und wandere durchs Appartement. Irgendwie bin ich glücklich und zufrieden, ein erfolgreicher Tag. Es ist alles erledigt, was zu tun war. LEMMY steht sicher und unbeschadet im Hafen. Alle Formalitäten sind erledigt. Wir haben die Unterkunft, wie gewünscht, einen Kühlschrank mit genügend Drinks und noch eine knappe Woche in Town, bevor wir zurück fliegen. Ich kann mich sechs Tage darauf vorbereiten ins Waterhole zurückzukehren oder 6 Tage lang verdrängen. Noch bin ich mir nicht im Klaren, welche Strategie ich verfolgen soll. Andererseits bin ich frustriert, weil ich in einigen Tagen in ein Flugzeug steige, das mich nach Hause bringt, zurück ins Waterhole. Und auch, weil ich Dayglow Abortions verpasst habe, weil die Mietwagen zu teuer sind und unsere Tour nicht komplett ist ohne Cape Breton Island.

Jutta liest ein Buch auf ihrem eBook Reader, ich weiß nicht, das Wievielte es ist. Ich glaube, sie beobachtet mich, wie ich durch die Zimmer streiche. Ich trinke einen großen Schluck Pabst und sehe aus dem Wohnzimmerfenster. Der Ausblick war tatsächlich besser in dem anderen Appartement am Ende des Flurs. Dort konnte ich die gesamte Kreuzung einsehen, von hier nur die eine Nebenstraße. Ob der „Schreier“ noch unterwegs ist? Heute Abend nach 23 Uhr werde ich es erfahren. Das war immer seine Zeit. Eigentlich habe ich noch überhaupt keine Lust diese Reise zu beenden. Ich tröste mich mit dem bevorstehenden Reload Festival und das wir immer noch mehr als 6 Wochen frei haben, wenn wir im Waterhole ankommen. Was wird mich im Theater erwarten?
Ich schlürfe, den Kopf weit nach hinten geneigt, den Rest aus der Bierdose und nehme mir ein Molson Canadian aus dem Kühlschrank. Dann setze ich meinen Streifzug fort. Aus dem Augenwinkel kann ich es sehen. Jutta sieht auf von ihrem elektronischen Buch und folgt meinem Gang. Ich biege ab ins Schlafzimmer und entkomme ihren neugierigen Blicken. Versunken in Gedanken schaue ich aus dem Schlafzimmerfenster. Und, als ob meine Gefühlsachterbahn noch nicht genug bekommen hat, bahnt sich die nächste Überraschung an, die meine Gefühle erneut auf die Probe stellt.

Ich kann nicht glauben, was ich da nun schon wieder entdecke. Es ist ein weiteres Mal ein Plakat, welches meine Aufmerksamkeit erregt. Diesmal unter Glas an der Fassade des Neptune Theaters. „Du glaubst nicht, was ich da gerade aus dem Fenster sehe!“, rufe ich rüber ins Wohnzimmer. „Das ist ja unfassbar.“ Aufgeregt eilt Jutta zu mir ans Schlafzimmerfenster. „Was siehst du denn?“, will sie wissen. „Hier läuft „Misery“ im Theater, ist das nicht fantastisch? Das müssen wir unbedingt sehen.“, sage ich. Sie teilt meine Begeisterung: „Wie geil ist das denn?“ Der begnadete David Nathan hat uns etliche Stunden auf dem langen Trans Canada HWY begleitet, indem er uns das gesamte Buch vorgelesen hat. Was sage ich? Vorgelesen? Er liest nicht vor, er haucht den Protagonisten Leben ein, lässt Bilder im Kopf entstehen. Sie werden real und erscheinen vor unserem inneren Auge. Ich sehe die verrückte Annie Wilkes wütend durchs Haus toben und Paul Sheldon, angsterfüllt mit schmerzverzerrtem Gesicht, verzweifelt an sein Bett gefesselt.
„Ich lauf mal schnell runter und gucke, an welchen Abenden es aufgeführt wird!“, sage ich zu Jutta, ohne eine Antwort abzuwarten. Leicht frustriert komme ich zurück ins Zimmer. „Mit Plakaten scheine ich im Augenblick kein Glück zu haben. Entweder sehe ich sie zu spät und das Konzert ist bereits vorbei oder ich sehe es zu früh und die Premiere findet erst im November statt.“ Monate nachdem wir abgereist sind. „So ein Mist, wir werden wohl kaum für einen Theaterabend über den Atlantik fliegen.“, sage ich zu Jutta. „Oder vielleicht doch?“ Mit einem Besuch in New York City wollen wir auch nicht so ewig warten, haben wir uns im Februar vorgenommen. Jutta rollt mit den Augen und widmet sich auf der Couch wieder ihrem Buch und meine Gedanken gehen auf die Reise. Ich darf leise Musik auf dem riesigen Flatscreen hören, mit meinem Handy logge ich mich über YouTube ein. Irgendwann geht Jutta schlafen, ich folge ein paar Pabst Blue Ribbon später….
Den „Schreier“ habe ich nicht mehr gehört.
Dienstag, 05.07.2022. Die letzte Nacht war unruhig. Ich habe nicht gut geschlafen. Normalerweise werde ich erst einen Tag vor dem Rückflug depressiv. Das ist also gerade ungewöhnlich für mich. Wie soll es erst werden, wenn wir in Deutschland landen? Wenn wir aus Asien nach Hause gekommen sind, dann habe ich durchgehalten, bis unsere Freunde uns im Waterhole abgeliefert haben, dann erst kam der Zusammenbruch in der Garage. Jutta kennt das schon ewig und gibt mir die benötigte Zeit in meiner Höhle. In den letzten Jahren ist es allerdings viel besser geworden und ich habe gelernt, mit dem Zurückkommen besser umzugehen.
Zuletzt war es sogar so, dass es nach Reisen mit dem Camper keinen Zusammenbruch gab, sondern nur nach Flugreisen aus fernen Ländern. Aber was erwartet mich nach dieser Langzeitreise? Wir sind unterwegs mit dem Camper, aber auch mit dem Flugzeug aus einem Land, welches nicht gerade um die Ecke liegt. Mir fällt ein, jemand hat mich unterwegs aufgefordert über Langzeitreisen zu schreiben, ein Fazit bzw. eine kleine Zusammenfassung, wie ich es empfunden habe. Ich weiß nicht mehr genau, wer es war. Aber ich wollte mir Gedanken darüber machen, schreiben wie es mir damit geht und das werde ich auch. Im Grunde bin ich schon dabei. Für den Moment soll das allerdings reichen. Ich reiße mich zusammen, will Jutta nicht den Tag verderben und noch eine großartige letzte Woche hier verbringen in Halifax, Nova Scotia.
Beim Frühstück schlage ich für heute den Museumsbesuch vor und einen Spaziergang zum Plattenladen. Das „Maritime Museum of the Atlantic“ beinhaltet eine dauerhafte Titanic – Ausstellung, die mich interessiert. Es liegt direkt an der Waterfront, nicht weit von unserem Appartement. Und danach können wir noch nach Lust und Laune Kartons nach Vinyl-Scheiben durchstöbern. Denn die Chance will ich nicht ungenutzt lassen, eine oder eventuell sogar beide Platten von den „Hellacopters“ zu ergattern, die sich „Der Blonde“ wünscht. Den „TAZ Record Store“ kennen wir bereits von außen, er befindet sich unweit von unserem Hotel, neben der „Saint Marys Cathedral Basilica“. Wir sind häufig beim Einkaufen daran vorbei gekommen. Jutta stimmt sofort zu. Sie liebt „Den Blonden“ ebenso wie ich und nichts würde uns glücklicher machen, ihm eine (oder beide) dieser Scheiben zu präsentieren, damit er genauso verblüfft aus der Wäsche schaut, wie ich damals, als er mir zwei Platten von Sharky’s Machine geschenkt hat. Wir räumen schnell den Frühstückstisch ab und machen uns im Bad fertig. Hochmotiviert und hoffnungsvoll auf einen erfolgreichen Plattenkauf starten wir bei strahlendem Sonnenschein in den Tag.

Wir spazieren die Sackville Street runter ans Wasser und gleich links um die Ecke, erblicken wir das Museum. Gemeinsam lösen wir die Tickets und danach findet jeder sein eigenes Tempo, zwischendurch kreuzen sich unsere Wege. Wir wechseln Blicke und gelegentlich ein paar Worte, dann begeben wir uns zurück in das Jahr 1912, als die Titanic am 15. April im Nordatlantik sank. Ich versuche mir vorzustellen, mit welchen Erwartungen und Hoffnungen die Reisenden an Bord des Schiffes gegangen sind. So viele Menschen, wie damals in Southampton an Bord gingen, so viele Träume und Ziele hatten sie vermutlich auch. Doch ein Ziel vereinte sie alle gemeinsam – New York City, Amerika.


Nach dieser zweistündigen, beeindruckenden Zeitreise machen wir uns auf den Weg in die 1521 Grafton Street zu „TAZ Records“. Ich begeben mich direkt zu den Kartons, die unter dem Buchstaben „H“ im Rock und Metal Bereich zu finden sind. Bevor ich den Verkäufer frage, will ich erst mal selber suchen. „By the Grace of God“ und „Rock & Roll Is Dead“ sind die Titel meiner Begierde. Jutta stöbert derweil woanders im weitläufigem Laden. „Yes!“, im zweiten Karton finde ich zumindest schon mal eine Hellacopters Scheibe, leider nicht der gewünschte Titel, geschweige denn die Pressung von 2002 und 2006. Ich wühle mich durch alle Kartons mit „H“ und hoffe noch eine weitere Platte zu finden, aber das Glück ist nicht auf meiner Seite. Nun wende ich mich doch an den Verkäufer mit exakt den beiden Titeln aus den entsprechenden Jahren. Er tippt alle Daten in seinen Computer und schüttelt den Kopf. Wie schon der Plattendealer in Quebec City zuvor. „No chance!“ Wie bedauerlich. Ich danke ihm für seine Bemühungen und schaue, wo Jutta steckt. Ohne Plattenkauf verlassen wir den Laden. Dafür werden wir dem Atlantic Super Store einen Besuch abstatten und nicht mit leeren Händen gehen. Im Gegenteil, mit prall gefüllten Beuteln machen wir uns auf den Heimweg.
Mir fällt ein Song von Motörhead ein: „God was never on your side“, was ich eigentlich nicht behaupten kann, aber heute im Plattenladen hat er mich verlassen. Na macht nix, er hat Wichtigeres zu tun, als meine Vinyl-Träume zu erfüllen.
Im Hotel angekommen verstauen wir die Einkäufe, gönnen uns einen kleinen Lunchbreak und machen Mittagsschlaf. Zum späten Nachmittag kochen wir uns einen Kaffee und essen den Kuchen, den wir im Atlantic Superstore gekauft haben. Wir haben heute nichts Weiteres vor, außer einen gemütlichen Abend zu verbringen. Ich will auf jeden Fall mit meinem Blog vorankommen, und nach dem Abendbrot und einem gemeinsamen Film, weiter schreiben. Ich habe Lust mich an die Arbeit zu machen, denn es geht mit der Stadt der Engel weiter, mit Los Angeles. Dort hatten wir eine fantastische Nacht im Rainbow, Lemmy Kilmisters Stammkneipe in West Hollywood.

Als Jutta bereits im Bad ist und sich für die Nacht fertig macht, fahre ich meinen Laptop hoch und hole mir ein kleines Molson Canadian aus dem Kühlschrank. Auf dem riesigen Flatscreen logge ich mich bei You Tube ein und spiele „Johnny Hobo and The Freight Trains“, daraus wird meistens ein guter Selbstläufer. „Mach aber nicht so laut!“, vernehme ich einen liebevollen Ruf aus dem Badezimmer. Ich öffne vom Desktop: 2. Akt CHAPTER VII – CALIFORNICATION, VOM ATLANTIK ZUM PAZIFIK IN DIE STADT DER ENGEL und höre den ersten Song von Johnny Hobo’s Album „Love Songs For The Apocalypse“. Es ist der New Mexico Song. Dann fange ich an zu schreiben….
Später spiele ich noch die Red Hot Chili Peppers, zuerst das gleichnamige Album, nachdem dieses Kapitel benannt ist und dann „Stadium Arcadium“, ein grandioses Doppelalbum. Irgendwann klappe ich mein Laptop zu und gehe leise und überaus zufrieden ins Bad, um mich von dort ins Bett zu schleichen…. Auf den Straßen draußen bleibt alles ruhig.

Mittwoch, 06.07.2022, ist der Tag an dem LEMMY ab 23:00 Uhr den Hafen von Halifax verlassen wird, für die große Überfahrt. Die Atlantic Sail wird zunächst Baltimore in den USA anlaufen und erst danach geht es über den großen Teich. Weitere Häfen werden Liverpool und Antwerpen sein, bevor sie Hamburg erreichen wird. Wir werden vorher bereits in Deutschland sein und die Passage des Schiffes verfolgen. Aber bevor es soweit ist, möchte ich dieses gigantische Containerschiff beim Auslaufen beobachten, mit einem Bier auf dem Tisch vor mir. Mal sehen, ob ich Jutta motivieren kann, so spät noch mal mit mir loszugehen. Auszustehen haben wir heute wieder nichts. Nur faulenzen. Vielleicht machen wir einen Spaziergang, wenn wir Lust dazu haben. Aktivitäten sind ansonsten nicht geplant. Essen, schlafen, lesen und ich werde immer mal mein Laptop aufklappen und etwas schreiben, wenn mir danach ist. Gestern habe ich ein paar Seiten geschafft, es hat Spaß gemacht, bin in „den Flow“ gekommen. Die Musik hat mich beflügelt. Ich werde dieses Chapter hier in diesem Appartement fertigstellen, nehme ich mir vor.
Am frühen Nachmittag versuche ich Jutta von meiner Idee zu überzeugen, ein oder zwei Stunden im Sea Smoke Restaurant & Bar an der Waterfront auf ein riesiges Containerschiff zu warten. Ich erkläre ihr, wo der Laden ist und das wir schon daran vorbeigelaufen sind. „Das ist das Restaurant mit den Feuertischen auf der Terrasse.“ sage ich. „Dort haben wir einen tollen Blick und können das Schiff nicht übersehen, wenn es in der Zeit ausläuft.“ Sie guckt mich kritisch an. „Nicht eine Minute länger als zwei Stunden!“, sagt sie bestimmt. „Oh ja, versprochen!“, antworte ich strahlend. Gut gelaunt setze ich mich mit einem Becher Tee an den Schreibtisch.

Um 22:30 Uhr gehen wir los, allerdings nicht ohne vorher die „Marine Traffic“ App gecheckt zu haben. LEMMY befindet sich noch im Hafen. Keine Updates vorhanden. Um 23:00 Uhr soll der Ozeanriese auslaufen. „Das wird sowieso nichts.“, meint Jutta. Mir ist ebenfalls klar, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, hätten wir so ein unverschämtes Glück und das Schiff würde annähernd pünktlich Halifax verlassen. Von der Sackville St. gerade einmal abgebogen, sehen wir bereits das Wasser und können somit ab jetzt nichts verpassen. Vor elf Uhr wurde uns bereits ein Platz auf der Terrasse an einem der vorderen entflammten Tische zugewiesen. Sollte das Feuer nicht ausreichend wärmen, liegen noch zusätzlich Wolldecken auf den Stühlen. Ich bestelle ein großes und sehr teures Bier, Jutta wählt einen alkoholfreien Cocktail. Wir zahlen hier für die Lage und vermutlich auch für die gehobene Küche, aber was soll`s? „Vielleicht haben wir Glück und es klappt doch.“, sage ich, obwohl ich dieses Mal selber nicht daran glaube. Ein zweites Bier bestelle ich noch, was auch der „last call“ ist und wir bezahlen die Rechnung. Sitzen dürfen wir noch so lange wir wollen. Ein Schiff kommt nicht mehr vorbei und wir machen uns auf den Heimweg. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, haben wir doch beide nicht wirklich damit gerechnet, die Atlantic Sail auslaufen zu sehen.

Im Durty Nellys ist noch was los, aber wir gehen hoch ins Bett. Vom „Schreier“ auch heute Nacht keine Spur.
07.07.2022, Donnerstag. Nur noch wenige Tage bis zu unserem Rückflug. Es geht mir erstaunlich gut und ich fühle mich relativ gelassen, wenn ich an den 11. Juli denke. An den Tag, an dem wir in den Bus zum Flughafen steigen. Ich habe noch immer die Visitenkarte von Sam unserem Taxifahrer, der uns vor 6 Monaten im Schnee verwehten Halifax, im Residence Inn by Marriott abgesetzt hat, aber noch mal werden wir nicht über 80 $ zahlen für einen Airport Transfer. Die Haltestelle zum Bus ist nur wenige Gehminuten entfernt, also auch mit Gepäck kein Problem. Habe ja einen nagelneuen Trolley. Daran, dass er mich ein verpasstes Dayglo Abortions Konzert gekostet hat, denke ich lieber nicht!
In mir ist auch nicht mehr der Druck, unbedingt noch etwas Sensationelles zu erleben. Den Mietwagen habe ich als zu teuer abgehakt, den Cabot Trail habe ich mit dem fehlenden Mietwagen abgeschrieben. Ich bin zufrieden mit einem Museumsbesuch, einem leckeren Essen und einem guten Film auf der Couch neben Jutta. Es liegt, denke ich jedenfalls, an Halifax. Und daran, dass ich nicht mehr an FOMO (Fear Of Missing Out / Angst etwas zu verpassen) leide. Diese Stadt fühlt sich an….. wie Zuhause.

Dabei spielen mit Sicherheit alle vergangenen Reisen eine Rolle und besonders diese Langzeitreise, obwohl wir 3 Wochen zu Weihnachten und zum Jahreswechsel 2021/22 im Waterhole waren. Wahrscheinlich wird sogar Corona zu meiner Gelassenheit beitragen. Wegen des Virus haben wir diese Reise ein Jahr verschoben. Wir haben gelernt zu warten, mit schwierigen Situationen umzugehen. OK, das lernt man auf fast jeder Reise, aber mit Corona gab es schon diverse erhebliche Herausforderungen, auch noch als wir ein Jahr später aufgebrochen sind. Corona war nicht vorbei und ist es jetzt auch noch nicht. Sind wir doch gerade erst seit einigen Wochen genesen von einer Covid 19 Infektion. Wo haben wir uns doch gleich infiziert? Ach ja, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beim D.O.A. Konzert in Quebec City. Rückblickend betrachtet war es womöglich eine gute Fügung, den Trolley erst am Montag gekauft zu haben und das Dayglo Abortions Konzert zu verpassen. Das Risiko sich erneut anzustecken wäre wohl gering, aber nicht ausgeschlossen. Den Rückflug hätten wir infiziert nicht antreten können. Keine Ahnung warum, aber wieder fällt mir ein Songtitel dazu ein. Diesmal von Kid Rock – Only God Knows Why.
Ich bekomme Lust noch etwas zu Arbeiten, also setze ich mich an meinen Schreibtisch.

Ich beame mich nach Los Angeles, in die Stadt der Engel und gehe auf den Hollywood Forever Cemetary, Jutta und ich stehen am Grab von Johnny Ramone, von Chris Cornell dicht daneben und auch bei Dee Dee Ramone verweilen wir. Linda Ramone, Johnnys Frau, wird sich später für meine schönen Bilder von Johnnys Grab bedanken und meinen Beitrag liken. Das fühlt sich großartig an und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Jutta verlässt vor mir diesen beeindruckenden Friedhof, ich will allerdings unbedingt noch das Grab von Vito Scotti besuchen. Er war Schauspieler und spielte in vielen Columbo Krimis eine Nebenrolle. Ich freue mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn erkenne, in immer anderen Rollen und Outfits. Trotz 5 $ Lageplan finde ich sein Grab nicht. Das ist aber nicht so schlimm. Ich sehe Peter Falk als Inspektor Columbo vor mir, wie er in seinem Trenchcoat in so manchen Columbo Folgen auf diesem Friedhof in Szene gesetzt wird, mal scheint die Sonne und manchmal gießt es in Strömen. Ich kann mich durchaus als Columbo Fan bezeichnen, habe ich doch alle Staffeln auf DVD und das Columbo Lexikon im Schrank. Die Filme kann ich fast komplett mitsprechen. Mit einem Lächeln mache ich mich auf den Weg zum Auto, welches am Straßenrand, vor einem Zelt auf dem Bürgersteig parkt. Dann fahren wir weiter.
Freitag 08.07.2022, später Vormittag. „Ich bin gestern Nacht fast fertig geworden.“, verkünde ich stolz beim Frühstück. Jutta ist bereits bei ihrem zweiten Kaffee. Sie hat auf mich gewartet, damit ich wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekomme. Jutta weiß, ich rede von Chapter VII, 2. Akt. „Wie viel fehlt denn noch?“, fragt sie.
„Na mal sehen.“, sage ich unverbindlich. „Noch 2, 3 oder 4 Seiten vielleicht. Heute schaffe ich den Rest!“, behaupte ich selbstbewusst. „Wollen wir später noch mal ins Durty Nelly’s, es ist Wochenende.“ Sie weiß, wir fliegen in drei Tagen und tut sich deshalb schwer, mir diesen Wunsch abzuschlagen. „Na gut, wenn du unbedingt willst!“, sagt sie. „Und was ist mit deinem Blog, wird das Kapitel trotzdem heute fertig?“ „Ja bestimmt!“, sage ich „und wenn nicht, dann morgen.“
Irgendetwas geht vor in mir. Ich fürchte eine altbewährte Strategie anzuwenden. Ich befinde mich in einem ganz bestimmten Modus. Verdrängung! Das ist nicht gut und gefällt mir gar nicht. Scheinbar drückt der verbindliche Rückflugtermin unerwünschte Knöpfe in meinen Schaltkreisen. Knöpfe, die nicht gedrückt werden wollen. Je näher der verdammte Rückflug naht, desto chaotischer werden die Weichen gestellt. Ich flüchte in die Arbeit, trinke ein wenig zu viel und versuche alles, um das Unwiderrufliche auszublenden. Ich muss schleunigst Ordnung in das Chaos bringen, damit die Züge nicht entgleisen oder schlimmer noch, kollidieren. Aber wie soll ich das anstellen? Ich weiß es nicht.
Erst mal Ruhe bewahren, nachdenken. Mit Stress kann ich umgehen. Das habe ich schon als Kind lernen müssen. Und auch auf vielen Reisen habe ich gelernt, mit Problemen fertig zu werden. Was gab es da nicht schon alles? Verschiedene Unfälle mit dem Motorrad, drei alleine in Thailand, zwei davon mit erheblichen Verletzungen (Schlüsselbeinbruch, großflächige entzündete Schürfwunde). Autounfälle, auch schon in den USA. Nicht zu vergessen unser Abenteuer auf dieser Reise in Albanien, wo wir bangen mussten ALLES zu verlieren. Des weiteren gab es Autopannen, Krankheiten, Lebensmittelvergiftung, allergische Reaktionen und mehr. Alles haben wir überstanden und nicht zuletzt hat mich mein Beruf eine gewisse Stress-Resistenz gelehrt. „Nachdenken.“, sage ich mir erneut.
„Wie wäre es, wenn wir gleich einen schönen Spaziergang an die Waterfront machen und danach einen schönen Film zum Kaffee schauen? Wir könnten uns Kuchen kaufen für heute Nachmittag.“, sage ich zu Jutta. Mir selber hämmere ich unaufhörlich ein Wort ein: „Nachdenken!“
„Ja klar, super Idee.“, sagt Jutta. „Ich bin in 20 Minuten soweit.“ „Klasse!“, sage ich, „ich bin in 10 Minuten soweit.“… Nachdenken…… Nachdenken……Nachdenken….
Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, genieße den Spaziergang an der Waterfront. Die Atlantic Sail hat irgendwann heute morgen, weit vor Sonnenaufgang, den Hafen von Halifax verlassen. Sie wird bereits Kurs auf Baltimore, USA genommen haben und dort einiges an Fracht ab- und wieder zuladen, bevor sie nach Europa in See sticht. Sie wird genau hier im Mondschein vorbeigefahren sein, wo wir in diesem Augenblick lang laufen. Dann sehen wir den Tisch, an dem wir gestern noch Drinks hatten, im Sea Smoke Restaurant & Bar.
LEMMY wird stummer Zeuge von all den Häfen, die das Containerschiff der Grimaldi Reederei noch passieren wird und von allem was drumherum geschieht.
Wir schauen mittlerweile nach köstlichem Kuchen in einem unserer Lieblingsläden, in Arthur’s Urban Market, für den Filmnachmittag. Ich werde mich wieder bei Netflix einloggen und reichlich Auswahl haben. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht einen schönen Nachmittagsfilm finden. Jutta kümmert sich um den Kaffee, ich um den Film. Wie hieß es früher noch immer bei den Leihvideos aus der Videothek: „Alltag raus, Video rein!“ Nach genau diesem Motto verfahren wir gerade, ich mehr als Jutta, sie weiß nichts von meinem Dilemma.
Später schreibe ich noch ein wenig und dann gehen wir rüber ins Durty Nelly’s. Wir trinken etwas und essen auch zu Abend, ein letztes Mal in der Bar. Wieder Zuhause liest Jutta noch eine halbe Stunde im Schlafzimmer und ich vollende Chapter VII aus dem 2. Akt. Das dauert allerdings etwas länger als eine halbe Stunde, aber das macht nichts, es sind noch ein paar Dosen Pabst Blue Ribbon und Molson Canadian im Kühlschrank. „Cheers!“
Samstag, 09.07.2022. Noch zwei Tage bis zum Abflug. Jutta ist schon auf und kocht Kaffee, ich liege im Bett und denke nach. Mir geht es etwas besser als gestern. Schon am Nachmittag beim Spaziergang an der Waterfront, wurde meine Stimmung etwas heller. Die alten Mechanismen der Verdrängung helfen, positive Gedanken aber auch. Ich überlege, wie ich eine Zusammenfassung über Langzeitreisen zustande bekommen soll, und bin ratlos.
Wir waren in Texas, wenn ich mich nicht irre, als dieser Gedanke an mich herangetragen wurde. Schreib mal darüber, wie es ist, so lange zu Reisen! Wer war das bloß noch? War es Angela? Ich glaube ja. Wenn nicht, möge man mir bitte verzeihen. Mein Gedächtnis ist eigentlich sehr gut auf Reisen eingestellt und ich komme fast aus, ohne mir Notizen zu machen. Aber manchmal spielt es mir einen Streich und ich bin verunsichert. Schon ein dutzend Mal habe ich in Gedanken diese Zusammenfassung geschrieben, immer wenn ich nachts wach im Bett lag. Aber jetzt ist alles weg, wie kann das sein? Einmal hatte ich einen ähnlichen Fall. Mir fiel ein Name nicht mehr ein. Der Name einer Person, die mich beeindruckt hat, die ich gerne hatte, nach nur ein paar Stunden Billard spielen. Es war in North Bend, Washington, USA oder anders ausgedrückt in Twin Peaks, in einem Paralleluniversum. Ich war soweit, dieses Chapter über Washington zu schreiben, aber mir fiel der Name nicht ein, von meinem neuen Freund, den ich dort kennengelernt hatte. Es hat Wochen gedauert, bis zu einem Geistesblitz. Vorher war ich mir so sicher, diesen Namen niemals zu vergessen, so speziell ist er und Teil eines Filmtitels ebenfalls. Wie gesagt, Jutta und ich waren Billard spielen in Twin Peaks, in der Pour House Bar & Grill. Irgendwann hatte Jutta keine Lust mehr und ein Typ kam auf mich zu und hat gefragt, ob ich mit ihm spielen würde. Zuvor hatte er mit seiner Freundin am Nebentisch einen Burger gegessen und uns zugeschaut. Na jedenfalls hat er mir einiges von sich offenbart und wir haben uns prima verstanden. Als es dann allerdings ans Schreiben ging, Monate später, da war sein Name weg. Deletet. Gelöscht aus meinem Gedächtnis. Ich konnte das nicht begreifen, denn wenn ich mir bei einer Sache sicher war, dann dabei, diesen Namen niemals zu vergessen. Ich habe Jutta gefragt: „Wie hieß der Typ denn bloß? Das kann doch nicht wahr sein!“ Sie wusste es auch nicht mehr. Ich habe das Chapter zur Hälfte fertig geschrieben, ohne seinen Namen zu wissen. Aber dann kam der Geistesblitz und sein Name war auf einmal da. Mein Freund aus Twin Peaks (North Bend, Washington, USA) heißt Kimble.
Was mache ich hier eigentlich gerade? Flüchte ich mich in die Vergangenheit? Mache ich das, um diese Zusammenfassung zu umgehen? Ich weiß es nicht, noch nicht. Vielleicht bekomme ich noch etwas zustande, später. Noch ist diese Reise nicht am Ende. Dieser Trip endet mit dem Reload Festival 2022, das habe ich mir vorgenommen. Und bisher habe ich alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe.
Ich sollte wohl mal aufstehen, Jutta wartet sicher schon ungeduldig mit dem Frühstück. Gestern habe ich sie schon so lange zappeln lassen. Als ich aus dem Bad komme, sitzt sie bereits am gedeckten Tisch, frischer Kaffee dampft aus meinem Becher. Ich nehme mir fest vor, heute einen tollen vorletzten Tag mit Jutta in Halifax zu verbringen.
Wir reden über alles Mögliche, auch über die Rückreise und ich kann das händeln. Ich habe meine Gedanken neu sortiert, bin wieder selber verantwortlich im Stellwerk. Ich lenke die Züge, stelle die Weichen neu, ordne das Chaos. Jetzt verläuft alles über die richtigen Gleise, ich vermeide jede Kollision.
Jutta und ich bummeln an diesem wundervollen Sommertag an der Waterfront und jetzt am Wochenende haben die ganzen Fressbuden auf, die wir schon vor einem halben Jahr im Schnee hier gesehen haben bei -14°. Eine Vertrautheit stellt sich ein, ich kenne diese Stadt im Sommer und im Winter. Und nicht nur diese Stadt, ganz Nova Scotia. Ganz Nova Scotia? Nein, nicht ganz Gallien. Ach Moment mal, das ist eine andere Geschichte. Nicht ganz Nova Scotia, Cape Breton Island fehlt noch und wird eines Tages nachgeholt.

Das Frühstück liegt eine Weile zurück und wir verspüren ein leichtes Hungergefühl. Zeit für ein Lunchbreak. Mit einer Hütte liebäugle ich schon seit geraumer Zeit, Smoke’s Poutinery, dort gibt es Poutine. Wir checken das gesamte Angebot an der Waterfront und entscheiden uns für meine erste Wahl. Einmal, an einem Roadhouse, auf dem langen Trans Canada HWY, hatten wir bereits das Vergnügen eine Poutine zu kosten. Das sind French Fries, mit verschiedenen Zutaten, wie zum Beispiel Gravy & Cheese, also mit Bratensoße und geschmolzenem Käse, was meine absolute Leibspeise hier ist. So etwas habe ich in Europa noch nicht bekommen. Und genau das bestellen wir jetzt und es befördert mich in den siebten Himmel bei jedem Bissen mit Fries, Cheese und Gravy. Notiz an mich selber: Finde eine Bratensoße in Deutschland, die dieser ebenbürtig ist!
Sonntag, 10.07.2022. Der letzte Tag vor dem Rückflug. Wir packen unsere Sachen, jedenfalls alles, was wir nicht mehr benötigen. Ich schaue in die Schubladen und Schränke, um nichts zu übersehen. „Denk bitte mit dran, ich muss mich noch bei Netflix ausloggen, wenn wir morgen abreisen!“, sage ich zu Jutta. „Mach ich.“ Dass die Rückreise in einer Odyssee ausartet, ähnlich wie die Anreise nach Canada, davon haben wir noch keinen Ahnung. Und das wir nicht mit Lufthansa fliegen, sondern auf Eurowings umgebucht werden, davon ebenfalls nicht. „Ich bin fertig mit Packen!“, lässt Jutta mich wissen, als hätte sie ein Rennen gewonnen. „Ich auch gleich. Was machen wir heute noch?“, frage ich. „Wie wäre es mit einem ausgedehnten Abschiedsspaziergang?“, schlägt sie vor. „Yes, super Idee. Das machen wir!“, sage ich.

Nach dem Lunch machen wir einen kleinen Mittagsschlaf, trinken noch einen Kaffee zum letzten Stück Strawberry Cheesecake von Arthur’s Urban Market und machen uns fertig für einen ausgiebigen Spaziergang. Die Sonne scheint herunter von einem blauen und wolkenlosen Himmel. Wir sehen die Old Town Clock durch die Carmichael Street, laufen runter zum Hafen und lassen uns treiben. Immer wieder entdecke ich tolle Graffiti. Einige fotografiere ich.

Vorbei geht es auch an der Saint Mary’s Cathedral, am Bicycle Thief, einem hochpreisigen Restaurant, mal biegen wir rechts ab, mal links, ganz intuitiv. Eine Melancholie überkommt mich, während wir durch die Straßen bummeln. Mit dem Rückflug habe ich mich arrangiert, hatte schließlich Zeit genug, mich darauf vorzubereiten. Und dann gibt es ja noch diese eine große Sache im August für mich, das RELOAD FESTIVAL. Das erleichtert mir den Rückflug ins Waterhole. Darauf freue ich mich unglaublich, ist es doch das beste Wochenende im ganzen Jahr, abgesehen von unseren Reisen. „Na, so nachdenklich?“, fragt Jutta, die genau weiß, was gerade in mir vorgeht. „Ja, geht aber schon.“, sage ich nur und sie versteht. Hand in Hand biegen wir links in die Hollis St. ab.
Am letzten Abend schauen wir einen Film auf Netflix, machen uns eine Flasche Wein auf und essen Käse und Cracker vor dem Fernseher. Alltag raus, Video rein. Bloß nicht nachdenken. Ich habe noch keine Idee, was ich über Langzeitreisen schreiben soll. Vielleicht kommt mir im Waterhole die „Eingebung“ oder ich erinnere mich wieder, was ich etliche Male, wach im Bett liegend, in Gedanken formuliert habe. Jutta sagt mir immer wieder, ich solle in solchen Fällen aufstehen und meine Gedanken in ein bereitliegendes Notizheft schreiben. Jetzt wünschte ich mir ihren Rat befolgt zu haben. Der Abspann läuft schon und ich stelle fest, kaum etwas vom Film mitbekommen zu haben. Zu sehr wanderten meine Gedanken umher.
Nach dem Film verabschiedet Jutta sich ins Bett, ich switche um auf You Tube und schaue Musikvideos. Als erstes wähle ich „Chet Baker – I’m a fool to want you“, das Video, welches ich hier im Residence Inn by Marriott in dem anderen Appartement vor ungefähr 6 Monaten entdeckt habe. Ich fülle den Rest aus der Weinflasche in mein Glas.
Abreisetag, 11.07.2022. Unser Flug LH 4399 geht erst am Abend. Klamotten sind gepackt. Weil wir früh auf sind gönnen uns unten ein kleines Frühstück. Ich liebe diese Hash Browns und Scrambled Eggs. Heute Mittag werden wir auschecken und unser Gepäck an der Rezeption deponieren. Im Frühstücksraum läuft auf einem großen Flatscreen TV an der Wand CNN, mit Nachrichten aus aller Welt. Ich fülle meinen Kaffeebecher zum zweiten und meinen Orangensaft zum dritten Mal auf. „Denk dran dich bei Netflix auf dem Fernseher auszuloggen!“, erinnert Jutta mich. „Danke!“, sage ich, „das hab ich vorhin schon erledigt, als du im Bad warst.“ Es ist deutlich mehr los beim Frühstück als im Januar, fällt mir auf. Da haben sich die Hotelgäste ihre Frühstücksboxen mit auf die Zimmer genommen, so wie wir auch manchmal. Jetzt sind alle Tische besetzt und Corona scheint fast vergessen zu sein. Nach dem zweiten Kaffee räumen wir unseren Tisch und begeben uns aufs Zimmer.

Pünktlich um 12:00 Uhr checken wir aus und lassen unser Gepäck an der Rezeption zurück. Die nächsten Stunden bummeln wir durch die Stadt, so wie gestern bereits, essen eine Pizza zum Lunch und stehen um 15:00 Uhr mit unserem Gepäck an der Bushaltestelle. Planmäßig steigen wir in den Bus zum Flughafen und etwas Wehmut kommt in mir auf. Jutta freut sich. Auf etwas freue ich mich auch, besser gesagt auf jemanden. Maddi wird uns vom Flughafen in Bremen abholen und ich freue mich sie wiederzusehen.

Nach 38 Kilometer erreichen wir den Robert L. Stanfield International Airport. Der Check In verläuft ohne Komplikationen, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, hinter der Flugnummer LH 4399 verbirgt sich keine Lufthansa Maschine, sondern ein Eurowings Flieger. Das stinkt mir schon gewaltig, denn ich weiß wir werden deutlich enger sitzen. Und auf das nächste Problem werden wir direkt hingewiesen. Der Airport Frankfurt hat massiven Personalmangel und kann nicht alle Maschinen abfertigen, unter anderem auch unseren Anschlussflug nach Bremen, der bereits gecancelt ist. Wir werden umgebucht Halifax – Frankfurt – München – Bremen. Ob das allerdings klappt ist ungewiss. Die anderen großen Flughäfen in Deutschland haben ähnliche Probleme, auch München. Ob wir von dort nach Bremen kommen steht in den Sternen. Möglich wäre es auch in Frankfurt in den Zug zu steigen, aber vermutlich sind bei dem Chaos sämtliche Sitzplätze der Bahn bereits reserviert. Ich möchte auf keinen Fall 4-5 Stunden übermüdet, mit unserem ganzen Gepäck, nach einem Flug über den Atlantik, im Gang eines Zuges hocken. Also riskieren wir Plan A, um über München nach Bremen zu gelangen. Meine Klimabilanz macht einen gewaltigen Schritt abwärts und ich sollte einen gehörigen Arschtritt dafür kassieren, aber das nehme ich im Augenblick so hin.

Was zum Teufel ist da nur los an den deutschen Drehkreuzen? Natürlich, durch Corona fanden kaum Flüge statt und Personal wurde entlassen. Nun nimmt der internationale Flugverkehr wieder deutlich an Fahrt auf, aber es wurde versäumt Leute, die vorher entlassen wurden, wieder einzustellen. Ich frage mich, ist das nur in Deutschland so? Hier in Halifax ist nicht ein einziger Flug gecancelt. Ich fürchte andere Länder haben das besser im Griff. Die deutsche Bahn ist auch so ein Thema. Sie ist sehr selten pünktlich. Wieso können andere Länder das alles so viel besser?
Da fällt mir gerade noch was ein. Eins der vermutlich letzten Rätsel der Menschheit. Warum hat die Elbfähre Glückstadt – Wischhafen jeden verdammten Tag eine bis dreieinhalb Stunden Verspätung? Ich verstehe das nicht. Stau wird es da ja wohl nicht geben, oder? An jedem Tag auf dem Weg zur Arbeit höre ich im Autoradio die Meldung im Verkehrsfunk: „An der Elbfähre Glückstadt – Wischhafen heute anderthalb Stunden Wartezeit in beiden Richtungen.“ Wieso ist dieses Problem in den vergangenen 30 Jahren nicht zu lösen gewesen?
Mit unseren Bordkarten und dem Handgepäck begeben wir uns durch die Passkontrolle ins Terminal. Boarding ist um 19:05 Uhr an Gate 28. Wir haben die Plätze 021 D und 021 E. „Es ist noch Zeit bis zum Boarding, lass uns mal was trinken gehen!“, sage ich zu Jutta. Sie nickt. Ich weiß genau, wo ich hin will. In die Bar mit den leckeren Sorten einer Micro Brewery. „Weißt du noch, wo das war?“, frage ich Jutta, „wir waren auf dem Hinflug doch schon da.“ „Nee, keine Ahnung!“, sagt Jutta und während sie es ausspricht fällt mir ein: „Fuck, das war ja in Montreal.“ Wir finden eine andere Airport Bar und ich bestelle mir ein großes Molson Canadian. Mein Letztes für eine lange unbestimmte Zeit.

Wir checken regelmäßig die Monitore und stellen ein Gate Change fest. Die Boarding Time bleibt unverändert. „Wollen wir gleich mal los?“, drängelt Jutta, die langsam ungeduldig wird. Ich trinke mein Glas leer und nicke. Wie üblich startet das Boarding nicht pünktlich. Das ist auf allen Airports der Welt so.
Leider stoße ich mit meinen Knien an den Sitz vor mir an, wie es zu erwarten war. Mit einigen Minuten Verspätung startet unsere Maschine nach Frankfurt. Auf dem In Seat Monitor vor mir sehe ich die Flugroute und alle relevanten Daten. Es ist ein Nachtflug. Auf Reiseflughöhe stöbere ich durch die Filmauswahl und markiere meine Favoriten. Noch bevor das Dinner serviert wird, sehe ich einige Reihen vor uns die Stewardessen Wolldecken für die Nacht verteilen. Noch bevor sie unsere Plätze erreichen realisiere ich, die Wolldecken werden nicht verteilt. NEIN, verdammt noch mal, sie werden verkauft! Zehn Euro verlangt diese Airline für eine Wolldecke. „NO THANKS!“ Das habe ich noch nie erlebt. Dann friere ich lieber. Hier geht es mir nicht ums Geld, hier geht es ums Prinzip. Nie wieder werde ich mit Eurowings fliegen und mit Lufthansa auch nicht, solange mir nicht garantiert wird, nicht umgebucht zu werden auf diesen Billigflieger.
Echt angepisst starte ich meinen Film. Ich habe mich für Teil 1 von „It“ entschieden, die Neuverfilmung eines Stephen King Romans. Er ist sehr lang und verkürzt mir die Flugzeit. Als das Dinner serviert wird, muss ich den nächsten Schock verdauen. Ich bekomme ein kostenfreies Bier zum Essen, aber alle weiteren alkoholischen Getränke müssen nach dem Essensservice bezahlt werden. Ich kann es nicht fassen was hier passiert.
Bei Ryan Air von Bremen nach Marrakesch musste ich für eine kleine Dose Bier 5 Euro bezahlen, aber bei einem Transatlantik Flug? Gebucht mit Lufthansa? Ich bin schon mit vielen Airlines geflogen, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Air India ist vielleicht nicht gerade eine der weltbesten Airlines und manche Staufächer über den Sitzen wurden mit Gaffer Tape gesichert, aber auf meinem Flug von Bangkok nach Tokyo bekam ich auf die Frage, was ich denn zu trinken wünsche gleich zwei Dosen King Fisher in die Hand gedrückt, mit einem überaus freundlichen Lächeln des Stewards. Hoch lebe Air India, damit hatten sie mich.
Und dann kann ich sagen, dass ich bis heute etwas eine Dreiviertelmillion Flugmeilen auf dem Konto habe, eher mehr als weniger. Man möge mich auch dafür ordentlich in den Arsch treten, aber ich bin früh angefangen zu fliegen, als das Klima noch nicht ganz so am Arsch war bzw. nicht so in meinem Bewusstsein. Bei KLM habe ich es bis zum Gold Status gebracht, den ich zwei Jahre lang halten konnte. Hin und wieder gab es dann sogar eine Upgrade in die Business Class, u. a. von Amsterdam nach Bangkok. Diese Strecke sind wir in den 90er Jahren häufig geflogen. Einmal haben wir Meilen eingelöst, für einen Business Class Flug von Amsterdam über Paris nach Montreal und zurück.
Das sensationellste Erlebnis hatten wir auf einem Stop Over Flug von Hamburg nach Thailand, mit einer Zwischenlandung in Dubai für drei Tage.


By the way, Dubai sucks, Es ist zu heiß und zu trocken. Nirgends gibt es Bier, nur in wenigen lizenzierten Bars, in internationalen Hotels und im Hard Rock Café. Aber mal eben am Strand, im Restaurant oder beim Spaziergang durch die Stadt ein kaltes Bier trinken? Fehlanzeige. Eine Bar in Down Town? Fehlanzeige. Am Flughafen von Dubai nach Bangkok wurden unsere Namen aufgerufen. „Mr. and Ms. Godt please contact the check in counter immediately. Wir waren bereits in der Wartezone und dementsprechend schnell am Counter. „I have some good and some bad news for you! “, sagte die nette Dame am Schalter. „What would you know first?“ Jutta und ich starrten uns irritiert an, dann schenkten wir wieder der Dame am Schalter unsere Aufmerksamkeit. Ich sagte hastig: „First the bad news, please!“ Sie guckt mir ernst in die Augen. Dann sagt sie: „Der Flug ist überbucht und sie können nicht zusammen sitzen!“ Ich will etwas erwidern, denn wir haben den Flug schon zehn Monate im Voraus gebucht und ich bin damit überhaupt nicht einverstanden….., doch sie setzt ein Lächeln auf und unterbricht meine Gedanken. „But!“, sie legt eine kurze Pause ein und spricht weiter, „but you fly business class!“ Dieser Emirates Flug ist auf einen Airbus A 380 gebucht. Wir fliegen also in einem A 380 in der Business Class von Dubai nach Bangkok. Diese 6 Stunden Flugzeit war uns viel zu kurz, noch nie zuvor verging die Zeit so schnell.

Wieso komme ich darauf und wieso erzähle ich das? Weil ich in der Luft bei einer dreiviertel Million Flugmeilen schon viel erlebt habe. Auf diesem Flug mit dem A 380 in der Business Class hatte ich eine Bar an meinem Platz. Ich bekam Bier, wann immer ich wollte. Jutta saß direkt vor mir, neben mir gab es keinen Platz, da war der Gang. Hinter mir war eine Lounge mit Snacks und einem Tresen, an dem frisches Bier gezapft wurde. Selbstverständlich gab es auch alles andere an Getränken von erlesenen Weinen, schottischen Whiskys, diversen Cocktails und was internationale Bars so zu bieten haben. Von Singapur nach Sydney sind wir auch schon einmal mit dem A 380 geflogen, ohne es vorher zu wissen. Es war das Jahr 2008 und der Papst hat Sydney besucht. Aus diesem Grund wurden größere Flugzeuge gebraucht, denn mehr Menschen als gewöhnlich wollten zu diesem Ereignis nach Australien fliegen. Wir wussten vorher nichts vom Papstbesuch und haben uns wahnsinnig gefreut, als wir am Gate den riesigen Airbus gesehen haben. Das war schon unglaublich, es war leise und wir hatten so viel Platz. Eine völlig neue Flugerfahrung. Und nun sitze ich eingeklemmt in dieser scheiß Eurowingsmaschine, bekomme keine Decke für die Nacht und muss jeden verdammten Drink teuer bezahlen. So habe ich mir das nicht vorgestellt.
Ich folge dem Film, den ich zum zweiten Mal sehe und verdränge meinen Ärger. Den zweiten Teil werde ich mir im Waterhole ansehen. Wir haben natürlich Pullover für die Nacht dabei, schließlich fliegen wir nicht zum ersten Mal und wissen, nachts wird es frisch. „Fuck you Eurowings!“
Während der Abspann läuft klettere ich vorsichtig über Jutta, die bereits schläft, putze mir auf der Toilette die Zähne und denke: „Was wird uns morgen wohl erwarten?“ Dann versuche ich etwas zu schlafen.
12.07.2022. Ich drehe mich im Sitz von links nach rechts, dann wieder in die Ausgangsposition. Die Knie schmerzen, der Sitz ist fast aufrecht. So unbequem war es noch nie auf einem langen Flug. Ich mache zwar die Augen zu, aber von Schlaf kann keine Rede sein. Dauernd sehe ich auf die Uhr und die Zeit zieht sich. Auf dem Monitor überprüfe ich die Entfernung bis zum Ziel, die Flugdauer, die Reisehöhe, die Außentemperatur und die Ankunftszeit. Endlos. Doch irgendwann schlafe ich doch ein und mache wenigstens einen Sprung von knapp zwei Stunden. Lange dauert es nun nicht mehr bis das Frühstück serviert wird. Wir hören die Vorbereitungen in der Bordküche und riechen den Kaffee.
Nachdem das Frühstück beendet ist, geht es immer relativ schnell bis zum Landeanflug. Wir sind bereits im Sinkflug und die Waschräume sind hoch frequentiert. Alle wollen sich vor der Landung in Frankfurt noch schnell frisch machen. Wir haben das bereits erledigt. Pünktlich landen wir auf Deutschlands größtem Flughafen. Früher mochte ich diesen Airport überhaupt nicht, hasste ihn beinahe. Doch im internationalen Vergleich hat Fraport in den letzten Jahren etwas aufgeholt, obwohl er immer noch weit hinter vielen anderen bedeutenden Flughäfen dieser Welt liegt. Wir sind gelandet in Deutschland. Müde und erschöpft machen wir uns auf den Weg zur Zollkontrolle. Die Einreise gelingt ohne Probleme. Unser Gepäck ist angekommen. Aber wie geht es jetzt weiter? Der Flug nach Bremen wurde gestern schon gecancelt. Wir sind umgebucht auf Flug LH 0108 nach München. Boarding 12:45 Uhr. Es ist früher Morgen, also einige Stunden Zeit bis dahin. Noch sind wir positiv gestimmt und hoffnungsvoll, doch das wird sich in einigen Stunden ändern.
Wir warten an Gate A 01 auf unseren Flug. Es ist bereits eine Stunde nach der angegebenen Boarding Time. Wir sitzen hier und warten, wissen nicht was passiert. Alle Passagiere sind ratlos. Eins ist jetzt schon klar, unseren Anschlussflug von München nach Bremen können wir nicht mehr erreichen. Es ist 13:50 Uhr und beim Flug LH 2194 von München nach Bremen beginnt das Boarding um 14:25. Aussichtslos.
Ich versuche den Tag relativ kurz zusammenzufassen. Wir warten in Frankfurt 9 Stunden auf einen Flug nach München. Es fehlt an Personal um das Gepäck ein- bzw. auszuladen. Es fehlen Leute um die Treppen an die Maschinen zu fahren. Corona hat seinen Schrecken verloren und die Menschen fliegen wieder. An den Flugschaltern, wo früher 4-5 Leute ihren Dienst absolvierten, müht sich nun eine Person ab. Überall sehen wir lange Schlangen und ratlose Gesichter. In München soll es noch schlimmer kommen.
Nach 9 Stunden ergattern wir zwei Plätze nach München. Der zweite erhoffte Anschlussflug ist nicht mehr realistisch, wir werden zu spät in Bayerns Hauptstadt ankommen. Aber noch gibt es einen einzigen späteren Flieger nach Bremen. Wir fragen eine Stewardess nach unseren Chancen, heute noch nach Hause zu kommen, aber sie kann uns nichts sagen. Wir müssen uns vor Ort erkunden, wie es weiter geht. Nachdem wir gelandet sind kontaktieren wir Maddi. Seit Frankfurt halten wir sie auf dem Laufenden. „Hey Maddi, wir sind endlich in München und müssen schauen, wie es weiter geht. Noch wissen wir nicht, ob wir es heute noch nach Bremen schaffen. Es tut uns leid, dich so lange hinzuhalten und im Ungewissen zu lassen!“

Was hat die Stewardess noch gesagt? Wendet euch an den Service Point. Wir holen unser Gepäck, was glücklicherweise nun auch diesen Airport erreicht hat und eilen zum Service Point. Überall endlos lange Schlangen von Menschen. Ich entdecke einen Service Point an dem etwa 150 oder mehr Leute anstehen. Das können wir vergessen. Bis wir dort an der Reihe sind, ist es Nacht geworden. Es gibt kleine Self Check In Terminals, die nicht genutzt werden und Jutta ist so geistesgegenwärtig und versucht uns dort eigenständig umzubuchen auf Flug LH 2196. Boarding soll um 18:10 sein. Es funktioniert und sie druckt zwei Tickets aus. Überaus glücklich und zuversichtlich, doch noch heute nach Hause zu kommen, schlage ich vor, das mit einem Bier zu feiern und etwas zu essen. Was für ein Glück, dass alle Leute sich an den Service Points angestellt haben. Wir machen uns auf den Weg eine Location zu finden, wo es Drinks gibt und etwas zu essen. Ich bin nicht besonders wählerisch im Moment. Wir bestellen Pizza und Bier. Dann schauen wir uns die ausgedruckten Tickets genauer an. „FUCK!“ Das sind ja STANDBY Tickets. Es bleibt also noch immer ungewiss, ob wir heute einen Flug nach Bremen bekommen. Mittlerweile ist es mir aber scheißegal. „Noch ein Bier bitte, ein Großes!“, sage ich zum Kellner, der unsere Teller abräumt.

Jutta will los zum Gate, ich habe resigniert. Mein Bier ist fast leer. Ich bin leicht angetrunken und mir ist jetzt alles egal. Meinetwegen verbringen wir halt die Nacht in München. „Komm schon, vielleicht bekommen wir den Flug!“, sagt Jutta. Ich zahle und wir gehen.
Um 18:37 Uhr besteigen wir dann tatsächlich noch mit unseren Standby Tickets die Lufthansa Maschine LH 2196 nach Bremen. Es ist ein Non Alkoholic Flight, keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat. Früher gab es immer was zu trinken, auch auf Kurzstrecke. Aber was soll’s, wir sind auf dem Weg ins Waterhole. Wir sind in Deutschland und unser Trip neigt sich dem Ende.
Wir landen in Bremen und ich erkenne Maddi durchs Fenster des Flugzeugs auf der Aussichtsterrasse. Dies ist ein kleiner Flughafen und entsprechend schnell vollzieht sich die Gepäckausgabe und die Zollabfertigung. Nur ein einziges Mal wurden wir bei der Ankunft aus Indonesien in Bremen durchsucht, aber das ist eine andere Geschichte. Vom Gepäckband geht es nun in die Ankunftshalle und da steht sie schon, unsere Freundin Maddi. Den ganzen verdammten Tag hat sie sich Zeit genommen und auf uns gewartet. Wir fallen uns in die Arme und ich habe Schwierigkeiten die Tränen zurückzuhalten. Beim Auto im Parkhaus reicht sie mir ein fast kaltes Hemelinger. Dann bringt sie uns ins Waterhole.

Vor unserer Haustür holt sie noch eine Kiste Hemelinger aus dem Kofferraum, damit ich auch was zu trinken habe die ersten Tage, mit einem Gruß vom „Blonden“. Drinnen finden wir ein selbstgebasteltes „WELCOME HOME“ Banner im Wohnzimmer, von Immi und Erdal, ein gemaltes LEMMY Bild und eine Herrenhandtasche bestehend aus verschiedenen Biersorten von Carsten und Olha. WE ARE BACK AT THE WATERHOLE!

Die große Depression bleibt zum Glück aus. Ich erleide keinen Zusammenbruch, wie nach früheren Reisen. Ich freue mich auf das Reload Festival und auch darauf LEMMY vom Oswaldkai im Hafen von Hamburg abzuholen. Aber jetzt will ich erst mal schlafen, ohne Wecker!

Völlig übermüdet legen wir uns ins Bett. Das war eine ganz schön lange Rückreise. 12 Monate waren wir auf Tour. Wie werden wir uns morgen fühlen, wie kommen wir im Waterhole an und wie zum Teufel soll ich meine Langzeitreisebeschreibung liefern? Unruhig falle ich in den Schlaf.
Ich wache auf. Alles ist komplett dunkel. Wo bin ich? Ich kann mich nicht orientieren, was ist das für ein Bett, was für ein Zimmer? Ruhig bleiben! Überlegen! Ach ja, ich bin Zuhause. In meinem Schlafzimmer. Für einen Augenblick, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt, bin ich komplett lost, verloren in Raum und Zeit. Jetzt sehe ich wieder klarer. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich nehme den Kleiderschrank an der Wand, mein Wasserbett und den Nachttisch neben mir wahr, mit dem Wecker, dessen Display ein wenig leuchtet. Ich drehe mich auf den Rücken und höre Jutta neben mir leise atmen. Dann taste ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch und finde es sofort. Ich will noch ein Hörspiel anmachen. Meine Brille muss da auch irgendwo liegen. Ich taste erneut blind, ohne mich umzudrehen und finde sie. Das Handy in der Hand, die Brille auf der Nase suche ich bei Spotify nach einer Professor van Dusen Folge: Eine Unze Radium. Ich stelle noch den Sleep Timer auf eine Stunde, drücke Play und drehe mich wieder auf die Seite. In diesem Moment fällt mir die Lösung ein. Ich schreibe einfach einen Epilog übers Langzeitreisen, damit muss ich mich jetzt gar nicht stressen. Thats it! Schnell schlafe ich wieder ein, von Professor van Dusen bekomme ich nicht viel mit, macht aber nix, ich kenne die Folge bereits.
Mittwoch, 13.07.2022. Erster Tag nach dem Ankommen im Waterhole. Noch knapp drei Wochen bis wir LEMMY in Hamburg abholen können, wenn alles planmäßig mit dem Schiffsverkehr läuft. Etwas mehr als fünf Wochen vor dem RELOAD FESTIVAL. Jetzt müssen wir uns erst mal in Deutschland akklimatisieren. Jutta hat mich ausschlafen lassen, bis kurz vor 12 Uhr habe ich im Bett gelegen.
Ein paar Tage später sind wir angekommen. Wir leben in den Tag hinein und genießen die letzten Wochen, bevor es wieder zur Arbeit geht. Jutta war schon zum Räumen und Arbeiten in der Schule und ist voller Vorfreude, aber meine Begeisterung auf die Arbeit hält sich in Grenzen. Auf das Theater freue ich mich riesig und auch auf viele Kollegen, aber ich weiß auch um die Probleme, die mich erwarten werden. Die Probleme in den eigenen Reihen, die vorher bereits da waren und auch jetzt noch präsent sein werden. Ich verdränge das allerdings bis auf weiteres.
Zweieinhalb Wochen später: Die Atlantic Sail hat Hamburg erreicht. Wir können LEMMY im Hafen abholen. Wird er unversehrt sein? Mit dem Jeep fahren Jutta und ich zum Oswaldkai. Die Kennzeichen habe ich mitgenommen. Alle Formalitäten erledigen wir gemeinsam, auf das Hafengelände darf ich nur alleine, um LEMMY in Empfang zu nehmen. Ein aufregender Moment. Da steht er schon, ich sehe ihn. Mir wird der Schlüssel ausgehändigt in dem kleinen Häuschen, wo ich ihn vor Monaten abgegeben habe. Wir machen eine Abnahme und alles ist in bester Ordnung. Der Motor startet einwandfrei und ich fahre nach erhaltener Instruktion vom Gelände, wie mir geheißen wurde. Jutta erwartet mich bereits mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Kennzeichen werden angebracht und nun geht es noch zum Zoll.
Wen wundert’s, wir müssen warten. Es ist niemand vor uns. Wir stehen alleine vor dem Zollgebäude, aber niemand kümmert sich um uns. Ich gehe hinein und frage, wie es jetzt weiter geht, überreiche einige Papiere, den Fahrzeugschein und was mir vorher ausgehändigt wurde. Wir sollen ans Ende des Gebäudes fahren und dort warten. Wir fahren ans Ende des Gebäudes und warten…. und warten…..und warten…..niemand außer uns ist hier. Dann endlich, nach einer knappen Stunde kommt jemand auf uns zu. Ein Beamter und eine Kollegin. „Habt ihr etwas zu verzollen?“ „Nö!“, sage ich. Die Beiden drücken mir den Fahrzeugschein und einige Papiere in die Hand, wünschen eine gute Fahrt und das wars. „Danke!“
Jutta fährt den Jeep nach Hause, ich fahre mit LEMMY vorweg. Ein gutes Gefühl! Was mir allerdings sofort auffällt ist, die Musik im Radio ist genau so scheiße, wie vor unserer Abreise vor beinahe 13 Monaten. Ich höre immer noch dieselben Lieder, als wäre nicht ein Jahr vergangen, sondern nur ein Tag. Wie kann das sein, es ist mir ein Rätsel. Es ist fast so, als könnte ich die nächsten drei Titel vorhersagen. Ich sehne mir eine Rock Station aus irgendeiner US Metropole herbei und ärgere mich. Zu allem Überfluss fliegt von einem vor mir fahrenden Fahrzeug ein kleines Steinchen auf die Windschutzscheibe. Da ist mein zweiter Steinschlag, klein, aber diesmal im Sichtfeld, jedenfalls wenn es nach dem deutschen TÜV geht. Na egal, den werde ich im März 2023 schon bequatschen, so dass mir der Prüfer die Plakette gibt. Im Waterhole klebe ich ein Pflaster drauf. Das muss ich unbedingt Omi Hans erzählen, wenn wir uns bald bei ihnen treffen. Mit Steinschlägen haben wir beide so unsere Erfahrung.
Wie geht es jetzt weiter? Jutta und ich treffen viele unserer Freunde, planen unsere alljährliche Party im September und unsere nächste Reise nach Thailand im Sommer 2023. Aber eine große Sache gibt es noch in diesem August 2022. Das ist das RELOAD FESTIVAL. Und das ist auch das Ende meines ganz persönlichen Reiseblogs. Dort sind wir verabredet mit Torre und Maddi, mit meinem Kollegen und Freund Micha, seinen Kumpels Feivel, den Isensee Brüdern und deren Freunden und Freundinnen, mit Daniel und seinem Sohn Max, mit Carsten unserem Freund und Nachbarn, mit Isa und Chris, mit Andi und Doris und mit………
Donnerstag, 18.08.2022. Reload Day.
Mittags um 12 Uhr fahren wir mit Carsten los. Er hat einen Wohnwagen. Wir fahren mit LEMMY. Daniel und Max sind auch mit dabei. Daniels Bulli ist noch nicht repariert, deshalb fahren sie mit dem PKW und einem Zelt. Verabredet sind wir mit Micha und seinen Freunden an der Tankstelle in Sulingen, dachte ich jedenfalls. Da haben wir uns das Jahr davor getroffen und das Jahr davor auch. Als wir ankommen ist niemand da. Wir warten, aber keiner kommt. Das ist ungewöhnlich, sonst sind sie alle immer vor uns da und essen Burger bei McDonalds nebenan. Mein Handy klingelt. „Wo bleibt ihr?“, fragt Micha. Ich bin irritiert. „Wo bleibt ihr?“, frage ich zurück. „Wir sind schon da!“, bekomme ich als Antwort.
Um es kurz aufzuklären: In Sulingen ist eine große Baustelle, deshalb waren wir in Bassum bei McDonalds verabredet. Ich habe die Nachricht von Micha nicht richtig gelesen und bin einfach davon ausgegangen, dass es so ist, wie jedes Jahr. „FUCK, wir sind in Sulingen!“, teile ich ihm mit. Nun wollen wir versuchen uns an der großen Erdbeere zu treffen, wo sie diese leckeren Früchte von den Feldern verkaufen.
Ich mache es kurz, das klappt auch nicht. Daniel, Max, Carsten, Jutta und ich stellen uns auf Camp 2. Micha und seine Leute landen auf Camp 1.
Sehen werden wir uns trotzdem alle noch, denn das „Warm Up“ startet heute auf der kleinen Stage vor dem Battlefield und vor der eigentlichen Eröffnung des Festivals am Freitag. Nachdem unser Camp steht, muss ich mich bereits beeilen, denn um 15:05 fangen „Dirty Shirt“ an zu spielen, meine erste gesetzte Band. Sehen werde ich heute noch Wargasm, Born from Pain, Bloodywood, Comeback Kid und Jinjer. Einige Bands zwischendurch lasse ich aus.
Timetable:
15:05 – 15:45 Dirty Shirt
16:05 – 16:45 Wargasm
17:05 – 17:45 Born From Pain
18:05 – 18:45 Mr Irish Bastard
19:05 – 19:45 Watch Out Stampede
20:05 – 20:45 Unearth
21:05 – 21:45 Bloodywood
22:05 – 22:45 Bleed From Within
23:05 – 00:05 Comeback Kid
00:30 – 01:30 Jinjer
Bei Jinjer bin ich bereits so betrunken, dass ich einen Kollegen aus dem Theater fast nicht erkenne. Morgen weiß ich nur noch, dass ich jemand getroffen habe, aber nicht mehr, wer es war. Das stellt sich erst später auf der Bühne heraus, als ich wieder arbeite. Aber das alles, was hier an diesem Wochenende und danach geschieht ist eine andere Geschichte.

Nur eine Sache will ich noch sagen: Das RELOAD FESTIVAL findet immer auf dem „BATTLEFIELD“ statt, seit ich es besuche. Nun ist das anders und das ist gut und richtig so. Seit dem Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine steht dort etwas anderes auf dem Schild über dem Einlass auf das Festival Gelände. Und das ist der Augenblick, warum ich dreimal nach Hause komme während dieser Reise. Dort wo letzte Jahr noch stand: „Welcome To The Battlefield“, da steht jetzt:
„WELCOME HOME“

THE END
…. und was als nächstes geschieht…., es folgt ein Epilog