Chapter 30 – THE FINAL CHAPTER

… und warum uns LEMMY verreckt, wie ich Jutta wieder aufgebaut bekomme und weshalb wir zweimal nach Hause kommen… oder dreimal…?

Heute ist der 28.06.2022. Reisetag. Besser gesagt: Abreisetag von einem fantastischen Stellplatz. Von einem Ort, an dem wir länger standen als je zuvor auf dieser einjährigen Reise. Die letzten sieben Tage haben wir hier verbracht, Corona auskuriert, Wale beobachtet, viel gelesen und gefaulenzt. Nun sind wir wieder fit, physisch jedenfalls. Es bleiben uns nur noch knapp zwei Wochen, denn am 11.07.2022 startet unsere Maschine von Halifax nach Frankfurt.

Jetzt aber freue ich mich auf die Wegstrecke, die vor uns liegt, besonders auf den Cabot Trail auf Cape Breton Island durch den Highlands National Park. Dann werden wir Quebec bereits verlassen haben, New Brunswick im Rückspiegel sehen und wieder über Nova Scotias Asphalt rollen. So ist es einfacher für mich, den unaufhaltsamen Termin des endgültigen Rückfluges auszublenden, beiseite zu schieben. Jutta sehnt diesen Tag herbei, ist des Reisens müde geworden, (vermisst Familie und Freunde immer mehr). Nicht das erste Mal, seit wir vor fast einem Jahr aufgebrochen sind.

Ich werde mir die größte Mühe geben, sie für die verbliebenen knapp 2000 Kilometer zu motivieren, sie an Bord zu holen und die Reisemüdigkeit abzubauen, so gut es eben geht.

Es ist, wie üblich, bereits Mittag, bevor wir aufbrechen. Wir verabschieden uns von unserem zuvorkommenden Gastgeber und versichern ihm diesen Platz weiter zu empfehlen und eines Tages wieder zu kommen.

Um den Tag mit einem Highlight zu beginnen, werden wir den nahegelegenen Walbeobachtungsposten Cap de Bon-Dèsir besuchen. Insgeheim hoffe ich darauf Juttas Wohlbefinden zu steigern und mit einigen Walsichtungen könnte die Gute-Laune-Skala weiter nach oben steigen. Mit Glück taucht ein Blauwal auf. Durch das geöffnete Fenster winkend, verlassen wir den Paradis Marin Campingplatz. Ein perfekter Gastgeber, ebenfalls winkend, bleibt lächelnd zurück.

Cap de Bon-Dèsir

Wir zahlen ein paar Dollar Eintritt, spazieren durch eine wundervoll angelegte Parkanlage mit vielen verschiedenen Pflanzen, unter Bäumen hindurch zur Hauptattraktion, dem Aussichtsplateau am Fluss. Über moosbewachsene Felsen und durch andere Walspotter mit riesigen Objektiven vor ihren Kameras, montiert auf Stativen, suchen wir uns einen guten Platz nah am Wasser. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es bereits erwähnte, katzengleich bewege ich mich von Felsen zu Felsen, springe von hier nach dort und habe kein Problem mit der Balance. Jutta reiche ich, nach Bedarf, stets eine helfende Hand, damit sie auf dem zum Teil von Moos bewachsenen glatten Fels nicht ins Rutschen gerät. Einen Blauwal sehen wir leider nicht und als nach zwei Stunden in der Sonne unsere mitgebrachten Snacks und Getränke aufgebraucht sind, beschließen wir zu gehen. Der Ausflug hat sich gelohnt, obwohl es nichts zu sehen gab, was wir nicht auch schon von unserem Camp gesehen haben. Hauptsächlich sind Grindwale vorbeigekommen und die süßen Belugas.

Whale watching

Jetzt geht es weiter Richtung Les Escoumins und dann auf die Fähre rüber nach Trois-Pistoles. Bereits auf dieser Überfahrt sind es bereits mehr als 20 Kilometer bis ans andere Ufer und diese Entfernung wird sich um ein vielfaches vergrößern, je näher wir uns dem Sankt-Lorenz-Golf und dem Atlantik nähern.

Mit der Fähre nach Trois-Pistoles
Die Sonne brennt

Lange müssen wir nicht auf die Fähre warten. Sie ist relativ pünktlich im Zeitplan und die Überfahrt genießen wir an Deck bei strahlendem Sonnenschein. Vor uns ist nur Wasser zu sehen, kaum Land in Sicht. Sogar Juttas Laune steigt bei dem Vitamin D Überschuss durch die Sonne am heutigen Tag und die Walsichtungen spielen vielleicht auch eine Rolle. In Trois-Pistoles angekommen überschreite ich eine weitere Grenze, wir sind nun östlich dieses wahnsinnigen Stroms, weit entfernt unseres ursprünglichen Startpunkts des ewig langen Trans Canada Highways, dem Point Zero auf Victoria Island in British Columbia. Viele tausende Kilometer liegen hinter uns. Wehmütig schaue ich beim Verlassen der Fähre in den Rückspiegel. Mir wird klar, eine irrsinnig lange Zeit wird vergehen, bis ich wieder westlich dieses mächtigen Flusses unterwegs sein werde.

LEMMY on the ferryboat

Unsere Vorräte sind deutlich dezimiert nach der langen Corona-Zwangspause, also ist ein Großeinkauf wirklich nötig. Ich weiß genau, Jutta liebt es einzukaufen und durch fremde Supermärkte zu stöbern. Mir macht es auch Spaß, nur haben wir unterschiedliche Interessen was die Abteilungen angeht. Wir nutzen die nächste Gelegenheit hinter Trois-Pistoles und shoppen ausgiebig. Juttas Laune steigt weiter in der Gemüse- und Obstabteilung und weil unser Lebensmittelvorrat aufgestockt wird, meine Laune steigt in atmosphärische Höhen, als der Biervorrat aufgefüllt wird.

Eglise Notre-Dame-Des-Neiges – Trois-Pistoles

In Rimouski, nicht wirklich weit entfernt von unserem heutigen Startpunkt, endet der Tag am späten Nachmittag für uns auf einem netten Umsonst-Stellplatz. Mit den frischen Einkäufen von heute bereiten wir uns gemeinsam ein leckeres Pasta-Menü, trinken köstlichen Wein dazu, schauen zwei Filme von der Festplatte meines Laptops („Deception“ und „Todfreunde“) und gehen dann schlafen. Na ja, Jutta verabschiedet sich schon während des zweiten Films ins Land der Träume und geht, nachdem sie, an mich gelehnt, wieder aufgewacht ist, ins Bett. Ich schaue „Todfreunde“ noch zu Ende und dann mache auch ich mich fertig für die Nacht.

Free overnight parking
Östlich des Sankt-Lorenz-Stroms

Der Abflugtermin ins Waterhole rückt mit jedem Tag näher. Ich hasse das Gefühl, wenn eine Reise endet und deshalb verdränge ich diese Erkenntnis aus meinem Bewusstsein. Mein Fokus richtet sich auf die kommenden Ereignisse. Ich versuche Jutta für die Gaspè Halbinsel zu begeistern und die bevorstehende Strecke. Es gibt zwei Möglichkeiten, zum Einen können wir außen herumfahren, worauf ich ziemlich Bock hätte, zum Anderen können wir den kürzeren Weg wählen, durch den Parc National de la Gaspesie. Beide Strecken haben etwas für sich. Der lange Weg um die Halbinsel verläuft fast komplett an der Küstenlinie und wir würden ständig fantastische Ausblicke auf den Sankt-Lorenz-Strom genießen, bis in den Golf hinein. Andererseits fahren wir durch den Nationalpark der Halbinsel und sparen viel Zeit, die uns hinten heraus wertvoll sein kann. Ich selbst bin viel zu unentschlossen, so überlasse ich Jutta die Entscheidung. Sie wählt den Weg durch den Nationalpark, die kürzere Strecke.

Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, der Sankt-Lorenz-Strom ist für mich der beeindruckendste Fluss, den ich bisher erlebt habe. Da kann nur der Amazonas in Südamerika mithalten und der Mekong in Asien. Kein Fluss in Europa ist annähernd ebenbürtig.

Der 29. Juni beginnt relativ früh. Jutta weckt mich bereits morgens um 9:00 Uhr. „Denk dran, wir haben heute einen sehr langen Road Day!“, sagt sie. Ich rieche Kaffee und höre das Blubbern des Perkolators auf dem Herd. „Ja ja, ich steh schon auf!“, sage ich. Das angenehme Kaffeearoma erleichtert es mir etwas, mich aus den Federn zu quälen. Wir wollen heute knapp 600 Kilometer fahren, bis nach Miramichi.

Dort hat Jutta einen großartigen Übernachtungsplatz an Richies Wharf aufgestöbert. Die Beschreibung war so vielversprechend, das wir den langen Weg gerne in Kauf nehmen wollen. Die vergangenen Tage sind wir häufig nur sehr kurze Distanzen gefahren und ich habe richtig Lust heute Kilometer zu fressen. Ohne Eile und mit einigen Pausen. Die reine Fahrzeit wird etwa sieben Stunden betragen.

Um 10:30 Uhr nach einem reichhaltigen Frühstück, sind wir startklar. Zunächst geht es nach Sainte-Anne-des-Monts. Auf diesen 182 zu bewältigenden Kilometer und zwei Stunden Roadtime befindet sich der Sankt-Lorenz-Strom nun auf unserer linken Seite. Diese kleinen Details schreibe ich unter anderem für meine Freundin Maddi, die sich selbst als Kartenfreak bezeichnet und denen, die gerne mal einen Blick auf die Map riskieren, um zu sehen, wo wir gerade sind. By the way, ich empfehle allen, meine Route neben dem Lesen des Blogs, auch kartografisch nachzuverfolgen.

In Sainte-Anne-des-Monts biege ich rechts ab und verabschiede mich innerlich und stumm von diesem gigantischen Fluss. Ich schaue in meinen großen LKW Rückspiegel, sehe kein Land auf der anderen Seite, fahre ostwärts und der mächtige Strom wird kleiner und kleiner und schließlich, nach einer Kurve verschwindet er gänzlich.

Der Parc National de la Gaspesie liegt vor uns. Es wird etwas bergiger. Wir durchfahren den Park von West nach Ost und bekommen einen wundervollen Eindruck von der Naturschönheit, die Quebec im Sommer auf dieser Halbinsel auszeichnet. Inmitten des Parks erlauben wir uns eine kleine Wanderung. Jutta ist gut drauf und ich bin überglücklich, weil sie sich, erstens darauf einlässt diesen Spaziergang mit mir zu machen und die übliche Priorität hinten anstellt, das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen und zweitens, weil ihre Reisemüdigkeit weniger wird. Wenn es weiter so läuft wie bisher, dann wird es in einigen Tagen überwunden sein. Ich bin sehr optimistisch und werde versuchen meine positive Stimmung auf sie zu übertragen.

Natur pur in Quebec

Der Park bietet uns kristallklare Flüsse, kleine Brücken, die wir überqueren und endlosen Wald. Ist man nicht nur auf der Durchreise, so wie wir in diesem Moment, dann könnte man hier mit dem Zelt, einen großen Rucksack und Proviant ausgestattet, viel Zeit abseits der Zivilisation verbringen.

Parc National de la Gaspesie

Mit Juttas Streckenwahl durch den Nationalpark erleben wir einen sehr intensiven Blick in Canadas beeindruckende Natur, wenngleich sie auch nicht ganz so spektakulär ist wie an der Westküste und in den Rocky Mountains. Quebec ist ein riesiger State, der erobert werden will. Hier kann man sich nach Herzenslust in der wilden Natur austoben, Städte besichtigen oder dort weiter fahren, wo die Straßen enden, theoretisch bis an der Rand der Nordwest-Passage.

Wir erleben Quebec wie aus dem Bilderbuch, mit dem einen Makel, dass wir manchmal nicht verstanden werden. Aber beginnt nicht genau dann das Abenteuer? Wenn die asphaltierten Straßen enden und die Zweitsprache nicht weiter hilft? Ich sage: „Ja genau, exakt dann beginnt die Reise ins Abenteuer!“

River Matapedia

Aber unser Abenteuer nähert sich unweigerlich dem Ende, nur noch ein Einziges steht uns bevor. Davon ahnen wir jetzt noch nichts. Schon morgen wird es passieren. Eine kleine Katastrophe. LEMMY wird verrecken.

Der Nationalpark bleibt hinter uns zurück, doch das erste Drittel der verbleibenden Strecke von 364 km und etwas über vier Stunden Fahrzeit, führt uns immer noch über die Gaspè Halbinsel bis an den Sankt-Lorenz-Golf. Bevor wir den Golf erreichen, fahren wir durch ein Gebiet der First Nations, der Micmac (Mi’kmaq). Ein Pow Wow findet zurzeit nicht statt, allerdings sehen wir ihre zeremonielle Feierstätte aus dem Fenster im Vorbeifahren.

Weiß-blaue Zelte mit schwarzen Büffeln verziert übersähen den Platz. Und dann ist er da, der Golf dieses mächtigen Stroms. Einige Stunden wird er an unserer linken Seite zum ständigen Begleiter und meinen Blick immer wieder auf sich ziehen. In Campbellton überqueren wir die J.C. Van Horn Bridge, verlassen die Halbinsel, verlassen Quebec und machen einen kurzen Stopp, um uns etwas die Beine zu vertreten und eine Pinkelpause ist auch mal nötig.

J.C. Van Horn Bridge

Wir sind in New Brunswick angekommen, etwa eine Tagesreise von Nova Scotia entfernt. Dort wo wir vor ca. 6 Monaten im Winter aufgebrochen sind, um nach Florida in den „Endless Summer“ zu fahren. Alte Erinnerungen werden wach. Im Schneesturm haben wir Halifax verlassen und kaum ein Mensch war unterwegs auf den Freeways. Fast nur Räumfahrzeuge kreuzten unseren Weg.

Ich muss an unsere erste Übernachtung im Auto denken, nachdem wir drei Wochen im Appartement des Residence Inn by Marriott gewohnt hatten. In Saint John an der Bay of Fundy hatte Jutta einen großartigen freien Stellplatz rausgesucht. Versteckt in einer Senke, im tiefen Schnee und mit Blick auf eine aus allen Rohren dampfenden Fabrik. War es eine Papierfabrik? Ich weiß es nicht mehr. Wie schnell man vergisst. An der Grenze in die USA am folgenden Tag waren wir die einzigen Reisenden, das Winterchaos noch im vollen Gange und jeder der konnte, blieb zuhause am warmen Ofen. Aber wir wollten nach New York und weiter in den Süden, bis Key West, ninety miles close to Cuba.

Ich erlebe den Beginn dieses Trips noch einmal im Schnelldurchlauf. Beim Fahren können die Gedanken so schön kreisen. Es sind nur noch knapp zwei Stunden bis Miramichi. Hoffentlich wird es wieder ein schöner Platz für die Nacht. In der Regel liegt Jutta mit ihrer Wahl genau richtig und ich habe keinen Grund mich zu beschweren. Hinter Bathurst sagt der Sankt-Lorenz-Golf erst einmal „Goodbye“, aber nur für eine Stunde. Dann haben wir unseren Stellplatz gefunden, an einem Seitenarm dieses wahnsinnigen Flusses: Ritchie Wharf Park.

Angekommen in Miramichi

„Jutta, da hast du dich mal wieder selbst übertroffen, der Platz ist perfekt!“ Wir biegen um eine Ecke und der Asphalt endet, geht über in eine Dirt Road mit einigen Mulden, tiefen Rillen und großen Schlammlöchern. Wir fahren in eine Sackgasse nah ans Wasser heran, mit einem tollen Ausblick. Ich rangiere LEMMY bis er halbwegs gerade steht und mir entgeht Juttas Lächeln nicht. „Ist doch gut hier oder?“, fragt sie, obwohl ich ihr die Antwort bereits zuvor gegeben habe. „Yes, das ist super hier! Kann ich nach dem langen Fahrtag Feierabend machen?“, frage ich noch. „Ja, du bist gut gefahren und hast dir ein Bier verdient!“, sagt sie. „Ich kümmere mich um das Essen. Gucken wir noch einen Film heute Abend?“ „Unbedingt!“, antworte ich und fange an zu überlegen, welche Filme sich noch auf der Festplatte befinden. Dann hole ich mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank, setze mich nach draußen auf die Felsen am Ufer und genieße den Ausblick über den Fluss.

Miramichi River

Kein Gedanke wird ans Waterhole verschwendet, ich genieße den Augenblick im Hier und Jetzt, lasse mich treiben ohne an etwas zu denken. So in etwa stelle ich mir Meditation vor. Das habe ich tatsächlich noch nie probiert. Oder mache ich es gerade? Keine Ahnung. Mein Kopf dreht sich langsam von links nach rechts, dann wieder zurück. Ich scanne den Fluss, die weit entfernte Brücke unter dem blauen, etwas bewölktem Himmel und wie sie in einem weißlich grauem Nebel langsam verschwindet und die andere Brücke in der anderen Richtung, mit den beiden riesigen Silos daneben.

Miramichi Bridge
Ritchie Wharf Park – Miramichi

Angenehm kühle Abendluft durchströmt meine Lungen. Ich atme lang und tief ein……, warte eine Weile….., halte die Luft an und entlasse sie wieder aus meinem Körper. Verbraucht. Jetzt noch einmal…. tief einatmen bis es nicht mehr geht……… Luft anhalten….noch ein bisschen länger 34…, 35…, 36…., 37…., 38 Sekunden und langsam ausatmen…. ganz laaangsam. Früher als Kind konnte ich fast zwei Minuten in der Badewanne untertauchen, ohne nach Luft zu schnappen.

Dann hab ich es. „The Air I Breathe“, den Film werden wir heute Abend schauen.

Beim Frühstück planen wir den heutigen Tag. Ich will gerne bis Port Hawkesbury kommen, dem Beginn von Cape Breton Island, der nördlichen Spitze Nova Scotias. Das alleine sind über 460 Kilometer und mehr als fünf Stunden zu fahren, bei der Route am Golf entlang. Am Folgetag möchte ich dann den Rundkurs um diese Halbinsel fahren, durch den Cape Breton Highlands National Park. Das soll eine besonders beeindruckende Strecke sein, auf die ich mich seit Wochen freue. Jutta hat für unterwegs allerdings auch Pläne. „Da gibt es in Moncton eine Gezeitenwelle, die sie sehen will. Und den Magnetic Hill, da rollen die Autos den Berg hinauf.“, sagt Jutta.

Second breakfast coffee, before we leave Miramichi

„Wow, das will ich auch machen, den Berg hinauf rollen, meine ich und die Gezeitenwelle geht ebenfalls klar, bin dabei!“, antworte ich. „Dann sollten wir bald starten, denn die nächste Welle wartet nicht auf uns.“, bemerkt Jutta noch. Sie hat den Zeitplan im Blick und wir haben noch fast eine halbe Stunde Puffer bis ins Zentrum von Moncton, der größten Stadt New Brunswicks, vor Saint John. Jetzt geben wir richtig Gas, packen alles zusammen und sehen zu, auf die Straße zu kommen.

Bye bye Miramichi

Wir sind noch 20 Minuten im Plus als wir Miramichi verlassen und ich bin optimistisch rechtzeitig anzukommen. Bis zur „Welle“ brauchen wir 139 Minuten für 153 Kilometer. „Fahr mal ein bisschen schneller!“, drängelt Jutta. „Na gut, wie du meinst.“, erwidere ich. Seit der Türkei bin ich nicht mehr angehalten worden wegen einer Geschwindigkeitsübertretung, obwohl ich fast immer schneller als erlaubt unterwegs bin. Allerdings versuche ich darauf zu achten, einen gewissen Toleranzbereich nicht zu überschreiten, was sich bei mir so um 10-20 km/h über dem Limit einpendelt. „Es ist viel Verkehr, dafür kann ich nichts!“, bemerke ich. Juttas gute Laune ist auf Talfahrt, sie wird schweigsamer. Noch können wir es schaffen, aber es wird knapp. Unser Puffer schmilzt dahin.

Im Zentrum angekommen bleiben uns nur noch fünf Minuten bis zur Welle und ich habe noch keinen Parkplatz. „Da vorne hinter der nächsten Kreuzung links kannst du parken!“ Die verdammte Ampel springt auf Rot. Ich bremse. Juttas Laune sinkt weiter. Ich tue was ich kann, riskiere ein gewagtes Manöver, nachdem die Ampel auf Grün wechselt. Ich fahre in den Gegenverkehr, um auf die andere Straßenseite zum Parkplatz zu kommen, nehme meinem Gegenüber die Vorfahrt, hebe entschuldigend die Hand, weil der Fahrer des Pickup auf der anderen Seite wegen mir auf die Bremse treten muss. Er nickt mit etwas verkniffenem Gesichtsausdruck, aber verständnisvoll. Wahrscheinlich denkt er sich: „Diese blöden Touristen, immer in Eile.“

Endlich steht LEMMY in der ersten Parklücke die ich entdecke. Es sind noch zwei Minuten bis zur Welle. Als ich aussteige und um das Auto herumgehe ist Jutta weg. Ich schau mich um und rufe nach ihr. Keine Antwort. Ich habe keine Ahnung in welche Richtung es jetzt weiter geht. Mein Blick schweift suchend umher. Dann entdecke ich sie an einer anderen Ampel, sie geht rüber ohne sich nach mir umzudrehen oder auf mich zu warten. Ohne Eile gehe ich hinterher, sie wird vermutlich der Meinung sein, es sei mein Fehler, dass wir zu spät angekommen sind. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, habe nicht getrödelt, bin deutlich schneller gefahren als erlaubt und hoffe sie wird sich bald wieder fangen. Noch bevor ich Jutta eingeholt habe, kommt sie mir entgegen. „Verpasst!“, sagt sie nur. „Oh, das tut mir leid.“, sage ich. Das ganze Spektakel ist natürlich der Augenblick, wenn das Wasser kommt und das Flussbett füllt, nicht wenn es schon da ist. Vermutlich hat es sich um Sekunden gehandelt, aber zu spät ist zu spät. Kleinlaut frage ich: „Magnetic Hill machen wir aber noch, oder?“

Zu spät, die Welle ist bereits da

Einen Zoo hat Moncton auch zu bieten, direkt beim Magnetic Hill, aber ich hasse Zoos und eingesperrte Tiere. Als Zivildienstleistender arbeitete ich 18 Monate in der Lebenshilfe in Syke und war mit meiner Kindergruppe einmal im Zoo in Ströhen. Das war ein traumatisches und deprimierendes Erlebnis. Ein ausgewachsener Tiger lief in einem vergitterten Käfig von vielleicht 8 x 6 Metern apathisch von links nach rechts und von rechts nach links, den ganzen Tag. Dieses Bild vergesse ich nie wieder und wenn ich dran denke, deprimiert es mich erneut. Als ich am Kassenhäuschen gefragt werde, ob ich das Kombi Ticket erwerben möchte oder……., da unterbreche ich die nette Dame und sage schnell: „ONLY the Magnetic Hill!“

Jetzt ist Jutta nicht mehr alleine schlecht gestimmt, ich bin es auch. „Filmst du mich gleich, wenn wir an der Reihe sind?“ Wir stehen „in Line“ am Magnetic Hill. Vier Fahrzeuge sind noch vor uns. „Ja sicher, kann ich machen.“, antwortet sie etwas gelangweilt. Wir beobachten die Anderen vor uns, sehen wie es läuft. Es sind drei PKWs und ein anderer Camper, ein Wohnmobil. Als wir an der Reihe sind, setze ich Jutta ab und fahre ans andere Ende der Strecke. Dann lege ich den Leerlauf ein und rolle rückwärts den Berg hoch. Jutta filmt mit dem Handy, während ich mich schnell auf sie zubewege und alles aufmerksam in den Rückspiegeln beobachte. Ist der Berg wirklich magnetisch? Nun, ich denke jeder wird wissen wie dieses Phänomen zu erklären ist. Es war den Spaß wert und die gute Laune kehrt allmählich zurück, sogar bei Jutta.

Vom Magnetic Hill fahren wir zunächst durch Amherst, verlassen New Brunswick und kommen 6 Monate nachdem wir in diesem Bundesstaat unsere Nordamerika Tour begonnen haben, zurück nach Nova Scotia. Wir wollen nah am Wasser fahren, mit Blick auf Prince Edward Island und die Northumberlandstraße. Orte mit bezaubernden Namen wie Pugwash, Bayhead und Tatagamouche werden passiert und New Glasgow liegt vor uns. Irgendwo zwischen Melville und Toney River halten wir an einem ansprechenden Roadhouse und gönnen uns eine Pause. Das Essen auf der Terrasse schmeckt hervorragend, ebenso wie die „Home Made Lemonade“ und die Laune steigt weiter. Die Sonne scheint und die Strecke ist wenig befahren und wunderschön.

Nach dem Essen ist mein Gute-Laune-Pegel zurück im oberen grünen Bereich, kurz vor orange, Euphorie. Nicht wegen des Lunchs, sondern weil wir uns Cape Breton Island nähern. In weniger als zwei Stunden werden wir die Halbinsel erreichen und dann spontan entscheiden, wie lange wir heute noch fahren wollen. Der Highlands N. P. ist heute nicht mehr in Reichweite, aber das macht nichts, morgen haben wir den ganzen Tag Zeit für diese Traumroute und den Cabot Trail, eine der schönsten Straßen ganz Nordamerikas. So denke ich jedenfalls jetzt noch. Aber es soll anders kommen. Schon in weniger als einer Stunde wird es geschehen. Bis dahin schmieden wir, ahnungslos wie wir sind, Pläne.

Heute ist der 30. Juni 2022. Am 04. Juli wird LEMMY von Halifax nach Hamburg verschifft. Das bedeutet, wir haben noch drei Tage bis wir im Hafen sein müssen. Das ist mehr Zeit als genug, um diese Route zu fahren, das Auto gründlich zu waschen und alles Organisatorische zu erledigen. Auf Nova Scotia sind wir bereits und Halifax nur Stunden entfernt. Wir überlegen uns wieder einen Leihwagen zu nehmen, wenn LEMMY im Hafen, bzw. auf der Atlantic Sail ist. Außerdem will ich unbedingt im Residence Inn by Marriott einchecken, am liebsten im selben Appartement wie vor einem halben Jahr.

Bei der Abreise im Februar habe ich angekündigt im Sommer zurückzukehren und mir wurde ein guter Deal zugesagt. Allerdings sei dann „High Season“ und ich müsste mit einer Preiserhöhung rechnen. Wenn man online auf verschiedenen Portalen schaut, wird einem schwindelig bei den Preisen. Unter 500 Euro pro Nacht finden wir auf keinem Portal ein vergleichbares Appartement wie im Januar. Aber das bereitet mir noch kein Kopfzerbrechen. Ich bin positiv gestimmt und denke, sie werden uns schon ein gutes Angebot machen. Schließlich zählen wir sicher zu den Stammgästen, weil wir drei Wochen dort gewohnt haben und erneut einchecken werden.

Noch eine halbe Stunde bis LEMMY verreckt….

„Wir kommen gleich an Antigonish vorbei, also weniger als eine Stunde bis Cape Breton Island!“, teile ich Jutta freudig erregt mit, den Blick aufs Navi. Ich markiere gerne Etappenziele. Bei anstrengenden Wanderungen sage ich aus Spaß oft: „Nur noch zehn Schritte!“ Bei langen Fahrten heißt es: „Unter 300 Kilometer bis zum Ziel!“, sobald ich die 299 auf dem Tacho sehe. In regelmäßigen Abschnitten wird es dann wiederholt, unter 200 Kilometer oder nach der nächsten Kurve „Nur noch zehn Schritte.“ Bis zur nächsten Kurve, dann wieder: „Nur noch zehn Schritte.“ Das können Überlebensstrategien sein oder simpel gesagt, es kann einfach die Zeit verkürzen. Dabei muss ich an die Zeitschrift „MAD“ denken. Zeit ist relativ und zugleich subjektiv, wie kaum ein anderer Faktor. Sind fünf Minuten lang oder kurz? Beim Zahnarzt sind, fünf Minuten ohne Betäubung mit dem Bohrer malträtiert werden eine Zumutung und damit eine endlos lange Zeit. Ein Masochist kommt eventuell zu einer anderen Beurteilung. Hingegen sind 5 Minuten für ein Pint eiskaltes, frisch gezapftes Pabst Blue Ribbon eine viel zu kurze Zeit.

„WAS MACHST DU DENN?“, ruft Jutta zu mir rüber. Ich bin mitten auf dem Highway rechts auf den Seitenstreifen gefahren. Der Motor ist aus. Verreckt. Wir sind kurz hinter Havre Boucher auf dem HWY 104 East, bei Kilometer 264.

„FUCK!!!“ LEMMY ist verreckt

Ich schaue genauso entsetzt in Juttas Gesicht, wie sie in meins. „Ich weiß nicht was los ist. Der Bordcomputer hat auf dem Display angezeigt ich soll sofort rechts ran fahren und den Motor abschalten, aber der ist ganz von alleine ausgegangen! SCHEISSE!“

„Fuck, was machen wir jetzt?“ Erst mal ruhig bleiben und überlegen. Wir stehen auf dem Seitenstreifen des Highways. Hier ist mehr Verkehr als auf den Nebenstrecken, die wir zuvor gefahren sind, aber viel ist nicht los. „Starte noch mal, vielleicht springt er an!“, sagt Jutta. „OK, ich versuchs!“ Nichts! Der Motor ist tot. Es tut sich rein gar nichts. Kein Klicken, keine Kontrollleuchte geht an. Stille.

Wir ziehen unsere Warnwesten an und halten uns rechts am Straßenrand. „Wir müssen wissen, wo genau wir sind!“, sage ich. „Da hinten steht ein Schild, da gucke ich mal.“ Zur Sicherheit fotografiere ich es, weil ich in der Aufregung bestimmt vergesse, was darauf steht. „Lass uns den ADAC in München anrufen!“, schlage ich vor, als ich zurück komme und tippe kurz darauf die Nummer in mein Handy. Jutta nickt mir zu. Mit dem ADAC habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Sie haben mir bei Pannen oft helfen müssen, denn ich bin früher nur sehr billige, alte Autos gefahren. Ich habe es nicht eingesehen viel Geld auszugeben für einen Gebrauchsgegenstand, mehr war ein Fahrzeug damals nicht in meinen Augen. Ein Freund von mir hat sogar einmal mehr Geld für sein Fahrrad bezahlt, als ich für mein Auto. Er wollte damit durch die Pyrenäen fahren und es war ein sehr hochwertiges Bike. Ich hatte wenig Ansprüche an meinen fahrbaren Untersatz, er musste nur laufen. Mittlerweile hat sich mein Standpunkt verändert.

Irgendwo im Nirgendwo, vor dem Nationalfeiertag

Es hebt jemand ab in München. Ich schildere mein Problem. „Wir stehen mit unserem Camper an einem Highway in Nova Scotia, der Motor ist ausgegangen, nachdem eine Warnmeldung auf dem Display angezeigt hat, ich solle sofort rechts ran fahren.“ Der Mensch am anderen Ende der Leitung kann uns leider nicht helfen, er mag uns nicht mal eine Adresse oder Telefonnummer geben, wo wir Hilfe bekommen. Es tue ihm sehr leid, aber in Kanada sind wir auf uns gestellt. Das sei nicht seine Zuständigkeit. Ungläubig lege ich auf. Das habe ich ja noch nie erlebt. Die haben mir doch immer geholfen. Bei jeder verfickten Panne oder als ich damals in Nimes in Frankreich mit einem Virusinfekt eine Woche im Krankenhaus gelegen habe. Sie haben mich mit dem Ambulanz-Jet von Montpellier nach Hamburg geflogen, mich dort mit einem Fahrdienst abgeholt und vor der Haustür abgesetzt. Für Jutta wurde ein zusätzlicher Fahrer eingeflogen, um meinen alten Honda Accord mit ihr nach Hause zu fahren.

Jetzt bin ich echt angepisst: „Fuck you ADAC!“

Während ich telefoniere ist Jutta nicht untätig. Sie findet online einen Abschleppservice, McEwans Towing & Hotshot Service. Die Firma ist ganz in der Nähe. 12533 NS- 4, Havre Boucher, NS BOH 1PO, Kanada.

Ich bin leider kein Autoschrauber und weiß nicht weiter, also bitte ich Jutta bei McEwans anzurufen. Zehn Minuten später kommt ein Pickup vorbei und stellt sich direkt hinter uns. In der Wartezeit hat Jutta weitere Recherchen betrieben, die uns später vielleicht noch nützlich sein können. Der Typ aus dem Pickup begibt sich direkt auf die Fehlersuche. Wir setzen all unsere Hoffnung in ihn. Morgen ist Freitag, der 1. Juli, Canada Day, Nationalfeiertag. Also wird morgen am Freitag nichts mehr laufen und am Wochenende noch weniger. Montag ist der 4. Juli, dann MUSS LEMMY im Hafen sein. Der Mann vom Abschleppservice erweist sich als rettender Engel.

Als erstes will er mit seinem Diagnosegerät die Fehlersuche starten, hat es aber in der Werkstatt vergessen. Er fährt kurz zurück und ist ca. 20 Minuten später wieder da. Leider ist LEMMY zu neu und das Gerät nicht kompatibel. Dann telefoniert er einige Minuten mit jemandem. Hin und wieder nickt er und wir deuten das als gutes Omen. Wir klammern uns an jeden Strohhalm, der uns Hoffnung vermittelt. Jutta berichtet mir inzwischen, was sie zu dieser Fehlermeldung im Display rausgefunden hat. Was sie mir da erzählt, ergibt auf jeden Fall Sinn. Unser Mechaniker hat auch einen Plan. Jetzt kombinieren wir beides, ich erzähle von Juttas recherchierter Theorie und er folgt dem Tipp, den er am Telefon erhalten hat.

Ich muss kurz etwas ausholen, um den Fehler zu erklären. Womöglich könnte es für den ein oder anderen in Zukunft von Nutzen sein. An der Westküste in Vancouver, vor vielen tausend Kilometern, habe ich einen Ölwechsel machen lassen. Ich habe den Bordcomputer NICHT resetet, weil ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass das amerikanische Motoröl nicht dem europäischen Standard entspricht und ich unbedingt spätestens nach 7000 Kilometern erneut einen vornehmen lassen sollte. Da dachte ich bei mir, dann lass doch den Bordcomputer unresetet, so erinnert er dich bei jedem Motorstart daran es nachzuholen, wenn du wieder in Deutschland bist, mit gutem europäischem Öl. Ich wusste das, aber der Bordcomputer nicht. Nach weit mehr als 7000 gefahrenen Kilometern, wie der Bordcomputer nun registrierte, OHNE Ölwechsel, hat er wohl einfach dicht gemacht.

Ich teile nun die Erkenntnis, die Jutta mir zugetragen hat, mit dem Mechaniker und er verfolgt seinen Plan. Er trennt den Minuspol von der Batterie für 60 Sekunden und schließt ihn dann wieder an. Ich scrolle im Bordcomputer zu dem Punkt Oelwechsel und setzte ihn zurück. Dann setze ich mich hinter das Lenkrad und stecke den Zündschlüssel ins Schloss. Vier weit aufgerissene Augen schauen erwartungsvoll in Meine. Ich schaue aufgeregt vom Fahrersitz zu Jutta und dem Mechaniker. Was tun wir, wenn der Wagen nicht anspringt? Montag muss LEMMY im Hafen sein. Das Schiff wartet nicht, genauso wie die Gezeitenwelle in Moncton. Dem Schiff und der Welle ist es egal, wo wir sind und welche Probleme wir haben. Mit einem Nicken deute ich an bereit zu sein den Schlüssel umzudrehen. Ich wende den Blick ab von Jutta und dem Mechaniker, gucke nach vorne durch die Windschutzscheibe auf die Straße, so als ob ich gleich los fahren will…. dann sende ich ein kleines Stoßgebet in den Himmel……und drehe den Zündschlüssel um….LEMMY springt an!!!!

Ich erlebe ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung, ein nervenzerreißendes Auf und Ab zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber ich glaube bei Jutta war es noch viel intensiver. Bekommen wir LEMMY noch rechtzeitig auf das Schiff? Was ist, wenn wir hier fest stecken wegen dem Canada Day und von Freitag bis Montag nichts geht? Ist doch jetzt alles egal. Oder? LEMMY läuft wieder.

Unser Highway-Engel rät uns, ihm hinterher zu fahren bis zu seiner Werkstatt, nur um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist. Sehr gerne befolgen wir seinen Rat. Ohne Probleme kommen wir wenig später an. Sein Kollege aus der Werkstatt erwartet uns bereits. Mit ihm hat er vermutlich vorhin telefoniert. Wir plaudern etwas. Jutta ist glücklich, aber auch mit den Nerven am Ende. Ich will meine Tour fortsetzten. Seit Wochen freue ich mich auf den Cabot Trail. Zum jetzigen Zeitpunkt befinden wir uns zweieinhalb Stunden von Halifax entfernt. Die Divergenz zwischen Jutta und mir wird zusehends größer.

Ich mache einen entscheidenden Fehler und frage unseren Mechaniker, was er denn jetzt an meiner Stelle machen würde. Er kennt mittlerweile unsere Situation und weiß, dass wir Montag im Hafen sein müssen. „Ich würde direkt nach Halifax fahren!“, sagt er. Ich bereue in dieser Sekunde gefragt zu haben und gleichzeitig wird mir klar, damit ist es besiegelt. Ich bin geliefert. Im Bruchteil einer Sekunde realisiere ich die grausame Wirklichkeit. Ich weiß, der Fehler war exakt der, den Jutta recherchiert hat. Der Fehler ist behoben und LEMMY wird laufen ohne Probleme zu machen. Wir können unsere Route fortsetzen und kommen pünktlich im Hafen an. Von mir aus ist alles gut und ich bin startklar, aber Jutta will sofort zurück in die Stadt. Da gibt es keine Diskussion.

Sie will nichts mehr riskieren und ich kann ihr nicht 100 prozentig Versprechen, dass nun alles glatt läuft. Sie mag jetzt keine Abenteuer, will nicht das geringste Risiko eingehen. Für Jutta gibt es nur eine Richtung. Halifax. Für meine Argumente: „ Es gibt immer eine Lösung!“, oder „Auch an Feiertagen wird Einem geholfen, wenn man Probleme hat!“, verpuffen im luftleeren Raum. Sie ist nicht mehr empfänglich für meine positiven Botschaften. Ich muss mich geschlagen geben. Wir kehren um und fahren zurück. Aber unseren rettenden Engel muss ich noch einmal erwähnen, er will kein Geld von mir annehmen. Ich möchte ihn bezahlen für die erstklassige Arbeit, für seine Zeit, aber er lehnt kopfschüttelnd ab. Nicht einmal 20 Dollar für die Kaffeekasse will er nehmen. Danke nochmal an dieser Stelle: „McEwans Towing & Hotshot Service, ihr seid fantastisch!“ Es ist einfach wunderbar solche tollen Menschen zu treffen, die einem in der Not völlig uneigennützig helfen. „Danke!“

Nun habe ich das Vergnügen wenige Meter vor Cape Breton Island umzudrehen, um nach Halifax zu fahren. Mein Traum, diese Panoramastrecke zu erleben, platzt in diesem Augenblick. Ich wende und stelle mich der Realität. Die nächsten zweieinhalb Stunden tauschen wir die Rollen. Jutta ist froh über den Richtungswechsel, ich bin todunglücklich.

Gegen Abend erreichen wir die Stadt und Jutta lotst mich zu einem kostenpflichtigen aber günstigen Parkplatz, irgendwo hinter dem Bahnhof und in der Nähe des Port of Halifax. Es ist gestattet über Nacht zu parken. An größeren Häfen gibt es fast immer reichlich Parkmöglichkeiten und von Vorteil hier ist auch der kurze Fußweg in die City und zur Waterfront.

First Homecoming Halifax – Stellplatz für die letzten Nächte mit LEMMY

LEMMY läuft wie erwartet rund, hat keine Probleme mehr gemacht. Wir hätten unsere Tour um Cape Breton Island fortsetzen können. Jutta hat mich mit ihrer Vorsicht um dieses Erlebnis gebracht. Ich arbeite pausenlos daran, ihren Abenteuergeist zu wecken und werde nicht aufgeben. Aber, um es mit Alfs Worten zu sagen: „Was hilft es über verschüttete Milch zu klagen?“

Irgendwie ist es ein bisschen wie „Nach Hause kommen“. Haben wir doch drei Wochen am Beginn unserer Amerika Tour hier in der Stadt gelebt und sie kennen und lieben gelernt. Ein paar Tage werden wir noch mit LEMMY verbringen, bis wir ihn im Hafen abgeben, für die Verschiffung mit der Atlantic Sail nach Hamburg. Gekommen ist LEMMY auf der Atlantic Star, ebenfalls von der Grimaldi Reederei, unter maltesischer Flagge. Wir wollen wieder im Residence Inn by Marriott einchecken. Ich will versuchen dasselbe Appartement zu bekommen, wie vor einem halben Jahr, meinetwegen auch einige Etagen darüber. Die Aussicht war einfach klasse und ich konnte dort sehr gut schreiben. Das Ambiente war super und wir haben uns rundum wohl gefühlt.

Ich hoffe dort noch einige weitere Seiten für meinen Blog zu Papier zu bringen bzw. auf meinen Laptop.

Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden den Cabot Trail beim nächsten Nova Scotia Besuch in Angriff zu nehmen und schlage Jutta vor noch ein Bier auf die Ankunft trinken zu gehen. „Wie wäre es im Durty Nellys?“

Back in town, back in Halifax – „Cheers!“

Wir spazieren entlang der Waterfront, nun im Sommer mit luftiger Kleidung, nicht dick eingepackt wie bei unserer Ankunft im Januar bei -14°. Es ist wundervoll diese Stadt im Winter mit massiven Schneemassen kennengelernt zu haben und nun im Sommer dieselben Wege im T-Shirt zu gehen. Wir stehen „in line“ vor dem Durty Nellys, sind nicht die Einzigen, die Einlass begehren. „Wait to be seated!“, steht auf einer Tafel geschrieben, wir kennen das. Draußen sind noch reichlich Plätze frei. Zehn Minuten später sitzen wir auf der Terrasse und bekommen noch die letzten Sonnenstrahlen ab, bevor sie hinter den Hochhäusern verschwinden. Ich bestelle ein großes dunkles und sehr süffiges Alexander Keiths, Jutta gönnt sich zur Feier der Ankunft einen Rotwein. „Cheers!“

Wine & Beer

Bei Bier und Wein besprechen wir die nächsten Tage. Heute ist Freitag, der 1. Juli und am 4., also in drei Tagen, muss LEMMY im Hafen sein. Solange werden wir auf dem Parkplatz wohnen. „Wir müssen das Auto noch gründlich waschen, bevor wir in den Hafen fahren!“, sage ich zu Jutta. „WIR? Du musst das Auto waschen!“, kontert sie. „Ja klar, schon gut, das meinte ich doch.“ Dann wasche ICH also morgen das Auto und übermorgen parken wir beim Residence Inn by Marriott, checken ein und laden alles aus, was wir hier noch brauchen bis zum Rückflug.“, sage ich.

In dem Augenblick fällt mir noch ein wichtiges Detail ein. „FUCK, ich habe ja gar keinen Trolley mehr. Wir müssen noch einen kaufen, für meine ganzen Klamotten!“ „Oh ja!“, stimmt Jutta zu. „Wollen wir das morgen machen? Es könnte sonst schwierig werden alles zu transportieren. Obwohl ins Hotel bekommen wir deine Sachen auch so. Wir haben einige Beutel und Taschen, dann bringen wir die Sachen in Etappen hoch.“, schlägt sie vor. „Neee, morgen is Samstag, lass uns das am Montag machen.“, sage ich.

„Alles klar! Dann checken wir Sonntag im Hotel ein, laden alles aus und Montag geben wir LEMMY im Hafen ab und am Nachmittag kaufen wir einen neuen Trolley. Wir sollten diesmal besser darauf achten wie groß er wird.“ Jutta lacht, denn sie weiß sofort, worauf ich anspiele. 2018, als wir das letzte Mal in Thailand waren, da wurde mein Trolley auf dem Flug so stark beschädigt, dass er unbrauchbar war. Für die weitere Reise musste ebenfalls ein Neuer her. Ich hatte im Hotel grob Maß genommen an dem demolierten Modell und mich dabei fürchterlich vertan, bei der riesigen Auswahl im Laden am Siam Square. Der neue Trolley war vollkommen überdimensioniert. Als wir das, im Hotel angekommen, feststellten, da hatten wir keinen Bock mehr ihn umzutauschen. Wir nehmen uns vor diesen Fehler nicht zu wiederholen. Was sich am Montag als weitaus größerer Fehler herausstellen wird, davon ahnen wir jetzt noch nichts. Aber dann wird es zu spät sein, solange niemand das Geheimnis der Zeitreise lüftet. Ich werde ausrasten, laut fluchen auf offener Straße und mich schwarz ärgern, aber es wird nichts ändern.

Wir bestellen uns weitere Drinks, etwas zu essen und Jutta schaut online nach der nächsten Self-Service-Waschanlage. Ich drehe mich gelegentlich um und sehe das Hotel auf der anderen Straßenseite und unser Eckappartement, in das ich so gerne wieder einziehen würde.

„Wenn LEMMY auf See ist, dann haben wir noch sieben Tage in Halifax bis zu unserem Rückflug.“, stelle ich fest. Jutta schaut mich neugierig an und wartet bis ich fortfahre mit meinen Gedanken. „Wollen wir nicht wieder einen Leihwagen nehmen und etwas umherfahren?“ Jutta setzt zu einer Antwort an, doch noch bevor sie nur einen einzigen Ton rausbringt kommt mir ein Geistesblitz und ich bedeute ihr, mit dem Zeigefinger auf meiner Lippe, zu schweigen. Ein breites Grinsen entfaltet sich und ich enthülle ihr meinen, in dieser Sekunde, entstandenen Plan. „Wir könnten den Cabot Trail mit einem Leihwagen fahren und in Motels oder B&Bs übernachten! Was hältst du davon?“ Ich sehe wie es in ihr rattert, aber sie scheint es nicht gänzlich auszuschließen.

Dann spricht sie ihre Gedanken aus: „Mal sehen, es kommt drauf an was der Mietwagen kostet und wie viel wir für das Hotel zahlen müssen. Willst du dann wieder aus dem Appartement ausziehen, wenn wir unterwegs sind oder läuft es parallel weiter?“ Alles gute und berechtigte Fragen, denke ich. Hoffnungsvoll doch noch meine Traumroute auf dieser Reise zu fahren antworte ich: „Ok, das finden wir morgen raus.“ Wir reden noch über alles Mögliche, u. a. auch über das maritime Museum mit der dauerhaften Titanic Ausstellung, die ich gerne besuchen möchte. Livemusik dringt von innen nach außen auf die Terrasse und ich befinde mich wieder in exzellenter Stimmung. Vier Faktoren tragen maßgeblich dazu bei: Der Traum vom Cabot Trail könnte noch wahr werden, die Musik ist super, Jutta hat nicht sofort abgelehnt, was den Leihwagen angeht und mein Bier ist noch fast voll. „CHEERS!“

Zurück zum Parkplatz bummeln wir wieder entlang der Waterfront. Am 6. Juli wird die Atlantic Sail den Hafen von Halifax verlassen. Um 23:00 Uhr soll das Schiff auslaufen. Dass diese vermeintliche Startzeit eher als Anhaltspunkt dient und selten eingehalten wird, wissen wir bereits. Aufgrund von Personalmangel, schlechtem Wetter und was weiß ich, kam LEMMY mit einer ganzen Woche Verspätung in Halifax an. Trotzdem will ich mir die Möglichkeit offen halten, das Schiff beim „Auslaufen“ zu beobachten.

„Guck mal da!“, sage ich zu Jutta. „Dort könnten wir auf der Terrasse sitzen und bei einem Drink warten, bis das Containerschiff an uns vorbei kommt. Wäre das nicht großartig?“ Ich zeige, während ich spreche, mit dem Finger auf eine gemütliche Terrasse einer Restaurant Bar mit Tischen, die allesamt in der Mitte mit einer Feuerschale ausgerüstet sind und mit Wolldecken, falls es in der Nacht kühler wird. „Mal sehen.“, sagt Jutta, um sich nicht festzulegen. „Ich habe bestimmt keine Lust stundenlang auf ein Schiff zu warten!“ Sie würde diesem Augenblick auch nicht annähernd dieselbe Bedeutung zukommen lassen wie ich, den Moment zu erleben, wenn das Schiff mit LEMMY an Bord an uns vorüber fährt, auf dem Weg von Amerika nach Europa, über den zweitgrößten Ozean.

Der Samstag beginnt ziemlich ernüchternd. Nach dem Frühstück beim zweiten Kaffee, recherchieren wir beide, sowohl was Leihwagen im Sommer in Halifax angeht und Hotelpreise in der High Season. Auf diversen Portalen kosten die Appartements im Marriott pro Nacht zwischen 400 bis 600 Dollar und mehr.

Als wir vor langer Zeit im Winter gebucht haben, kostete es regulär in etwa 150 Dollar, plus Steuern und den üblichen Gebühren, nur hatten wir eben diesen Special Deal bekommen, wegen der katastrophalen Anreise und dem mitfühlenden Manager. Vielleicht hätte er anders entschieden, wenn er gewusst hätte, dass aus zwei plötzlich drei Wochen werden. Aber egal, sie haben mir bei unserer Abreise erneut einen guten Deal zugesagt, wenn wir im Sommer zurückkehren.

Das hat Avis nicht getan, als wir im Februar einen geilen Chevrolet Traverse mit Vollausstattung gemietet haben. Nur knapp einhundert Dollar/Tag hat es im Winter gekostet. Jetzt wollen sie für dasselbe Model 450 – 700 Dollar pro Tag und vergleichbare Fahrzeuge sind eher noch kostspieliger. Meine Laune stürzt gerade ins Bodenlose, wie die VW Aktie als der Dieselskandal publik wurde. Ebenso wie am Aktienmarkt scheint es gerade an der Mietwagenbörse zu sein. Das Gefühl hatte ich vor sechs Monaten schon mal, aber weit unter diesem exorbitant hohen Preisniveau. Ich schaue noch nach dem Jeep Grand Cherokee, den ich selber im Waterhole fahre, dem Suburban und anderen SUVs. Jutta schaut einige Nummern kleiner. Davon will ich nichts wissen. Ich zahle jetzt im Sommer nicht den gleichen Preis für einen Kleinwagen, den ich vor sechs Monaten für einen mittleren Luxusklassewagen bezahlt habe. „Dann können wir Cape Breton Island vergessen!“, stellt Jutta fest. Mir ist auch etwas klar geworden. Ich zahle keine 300 Dollar aufwärts für einen Leihwagen der mir genehm wäre und ich miete erst recht keinen verdammten Kleinwagen für 100 Dollar oder mehr am Tag. Zum zweiten Mal verabschiede ich mich von meinem Traum den Cabot Trail zu erleben, aber da bleibe ich mir treu, wenn ich so eine Traumroute fahre, dann for sure nicht mit einem Ford Fiesta. (Kleine Anmerkung von Jutta: Na, da bist DU dann wohl etwas unflexibel und nicht sehr abenteuerlustig. Ich hätte das für deinen Traum vom Cabot Trail gerne in Kauf genommen ;))

Der Kaffee ist sozusagen auf und der Mietwagen gestorben. Das Problem mit dem hohen Hotelpreis wird vertagt. „Wollen wir das Auto waschen?“, frage ich. „Nee, wir wollen das Auto nicht waschen!“, sagt Jutta. Ich habe verstanden.

Carwash

Jutta füttert den Automaten mit Münzen, ich sage welches Waschprogramm ich wünsche. „Vorwäsche mit Schaum!“, bestelle ich. Als die Münzen ausgehen zahlt sie mit Kreditkarte. Ich wasche gründlich mit Bürste, Schaum und viel Wasser. Am Ende spritze ich mit dem Hochdruckreiniger alles ab. LEMMY sieht aus wie neu, na ja, fast jedenfalls. Ich bin zufrieden und im Hafen sollte es so keine Probleme geben. Für Australien würde es nicht reichen, aber für Halifax und Hamburg wird LEMMY ausreichend sauber sein.

Self-Service
Clean – Check!

Nach der Autowäsche fahren wir wieder auf unseren Parkplatz hinter dem Bahnhof, packen und sortieren schon mal vor. Was bleibt im Auto und was nehmen wir an uns für die letzten Tage und den Flug. Wir nehmen alles auseinander, ich reinige die Staufächer, packe die Kisten aus und wieder ein, Jutta macht innen klar Schiff.

Letzte Vorbereitungen für die Verschiffung

Zum Lunch gibt es Grilled Cheese Sandwich, danach gönnen wir uns einen Mittagsschlaf. Am Nachmittag genießen wir einen Gourmet Kaffee und zum Abend gibt es ein leckeres Essen, Wein, Bier und einen fantastischen Film, Killing Zoe. Es ist Samstag und am Montag, in zwei Tagen, werde ich mich und die ganze Welt verfluchen, weil ich nicht heute schon meinen neuen Trolley gekauft habe. Die Zeit dazu hätten wir locker gehabt.

Es ist Sonntag, der 3. Juli 2022. Wir lassen es ruhig und entspannt angehen. Der einzige Pflichttermin heute: LEMMY umparken zum Residence Inn by Marriott und einchecken im Hotel bzw. in unser Appartement. Ich bin schon morgens beim Frühstück aufgeregt. Werden wir einen guten Preis bekommen? Können wir überhaupt wieder einziehen oder ist alles ausgebucht? Es ist Sommer und alles scheint komplett anders zu sein als im „Corona Winter“ vor sechs Monaten. Diese horrenden Preise auf den Internetportalen können und wollen wir nicht zahlen.

Nach dem zweiten Kaffee fahren wir los. Gepackt haben wir gestern bereits. Ich stelle LEMMY auf dem Parkplatz gegenüber des Hotels ab und wir gehen über die Straße zur Rezeption. Ich erkläre die Situation, als wir sechs Monate zuvor im Winterchaos angereist sind mit Flugverspätungen, Ausfällen und einem gestarteten und abgebrochenem Flug. Ein guter Deal wurde zugesagt, wenn wir zurückkommen. Dann wünsche ich mir noch mein altes Appartement, in dem wir bereits drei Wochen verbracht haben. Die Rezeptionistin checkt den Computer und findet uns im System. Sie bietet uns ein Appartement an, auf der gleichen Etage, nur ein anderer Flügel und statt 600 Dollar aufwärts kann sie uns einen Preis knapp unter 300 Dollar anbieten. Jutta und ich schauen uns an. So viel Geld haben wir noch nie pro Übernachtung ausgegeben. Irgendwie widerstrebt es mir, fast 300 Dollar zu zahlen, aber es ist auch nicht nur ein Zimmer, wir bekommen ein gut ausgestattetes Appartement. In den ersten drei Wochen haben wir nur ca. 90 Dollar gezahlt, statt 150. Ich jongliere die Zahlen in meinem Kopf hin und her und dann nicke ich Jutta zu. Fragend schaue ich sie an, sie schaut zur Rezeptionistin, die wiederum fragend abwechselnd zu mir und dann wieder zu Jutta blickt. Jutta nickt. Ich zücke meine Kreditkarte und reiche sie an mein Gegenüber. Check!

Home at „The Residence Inn Marriott“
Second Homecoming – Residence Inn Marriott

Jetzt gilt es LEMMY so auszuräumen, wie wir es bereits perfekt vorbereitet haben. Wir holen aus dem Auto, was wir tragen können und werden auf unsere Etage begleitet. Nun, mit Schlüsselgewalt, sind wir auf uns gestellt, dürfen aber auch die rollenden Hotelgepäckwagen benutzen. Wir gehen an unserem ehemaligen Appartement vorbei, an die andere Ecke des Flurs, und sind überaus zufrieden. Bis auf die Aussicht aus dem Fenster sind die Zimmer identisch. Dieser Ausblick ist nicht ganz so fantastisch wie vor Monaten, aber mit dem Defizit kann ich sehr gut leben, trotz des höheren Preises. Schließlich ist High Season. Dreimal müssen wir laufen, bis wir alles oben in unserem neuen Heim für die nächsten Tage haben. By the way, es fühlt sich toll an, wie: „Nach Hause kommen“. Wir richten uns ein für eine letzte Woche. Morgen bringen wir LEMMY in den Hafen, heute machen wir es uns gemütlich.

Papierkram für die Verschiffung

Montag, 4. Juli. 2022. Sehr früh am Morgen treffen wir unsere Reiseagentin von SeaBridge auf dem Parkplatz am Zoll. Wir kennen uns schon von unserer Ankunft. Jutta hatte schon vor einigen Wochen diesen Termin mit ihr ausgemacht. Schnell und äußerst angenehm sind die Formalitäten erledigt. Vom Zoll geht es nun weiter in den Hafen und auch dort werden alle Belange schnell geklärt. Beim Check In erkennen wir den alten Herren wieder, der uns vor einem halben Jahr schon so freundlich empfangen hat. Auch er erinnert sich an uns. LEMMY wird eingecheckt und zum Glück fällt mir noch ein die Kennzeichen zu entfernen, damit kein gelangweilter Seemann sie mopsen kann.

Port of Halifax – LEMMY is waiting for the Atlantic Sail

Wir steigen in einen Linienbus vom Hafen nach Down Town. Auf dem Weg von der Bushaltestelle zurück ins Hotel spazieren wir über Umwege durch einige fotogene Häuserzeilen mit schönen Graffitis. Einige kenne ich bereits. Hier und da schieße ich ein Foto. Der Himmel ist strahlend blau, nicht eine Wolke ist in Sicht. „Wir müssen die Tage noch in den Plattenladen.“, sage ich zu Jutta. „Ich will mal schauen, ob sie hier vielleicht einige Hellacopters Scheiben haben und mit Glück sogar die, die mir der Blonde aufgetragen hat zu suchen!“ „Na klar, das machen wir!“, sagt Jutta.

„Peace & Freedom For Everyone – All Over The Wörld“ (my imagination by this kind of art)

Weil der Tag sehr früh begonnen hat, gönnen wir uns einen Mittagsschlaf, bevor wir den Trolley für den Rückflug kaufen gehen. Jutta weiß einen Laden, ich schaue nach dem Weg dorthin. Dann legen wir uns ins Bett und hören: „Die drei Fragezeichen und das blaue Biest.“

Die wichtigen Dinge sind erledigt. LEMMY steht sicher im Hafen von Halifax, offiziell eingecheckt. Erst in Hamburg werden wir ihn wieder sehen. Und dann wird es nicht lange dauern, bis wir zum RELOAD FESTIVAL fahren. Für heute steht also nur noch eine Sache auf der „To Do Liste“. Ein neuer Trolley muss her. Die Sonne scheint und es ist ein weiterer netter Spaziergang, vorbei an der Zitadelle, wo wir vor 6 Monaten schlotternd vor Kälte runter geschaut haben. Eisige Winde peitschten uns ins Gesicht. Am Anfang des Wegs kennen wir manches wieder, doch dann verlassen wir gewohntes Terrain. Aber das ist gut so und wir genießen die Ausblicke auf die neue Umgebung. Irgendwann kommen wir an und der Laden ist weniger vielversprechend als angenommen und die Auswahl bescheiden. Aber wir haben keine Lust noch woanders zu suchen, also kaufen wir hier.

Halifax Town Clock

„Die Größe passt.“, behaupte ich und bin sicher damit recht zu behalten. Ich wähle extra eine Nummer kleiner. Billig ist er nicht, aber dafür stimmt hoffentlich die Qualität. Dann machen wir uns auf den Rückweg. Ich schiebe einen leeren Trolley an meiner Seite und an der nächsten Kreuzung müssen wir die Straße überqueren. An der Robie Street passiert es dann. Ich sehe schon von weitem ein interessantes Plakat an einem Stromkasten kleben. Ich stehe auf der gegenüberliegenden Straßenseite und denke: „Lies, was da drauf steht. Es sieht aus wie ein Konzertplakat.“

Ich komme immer näher und ahne mit jedem weiteren Schritt, das wird dich interessieren. Bekommen wir auf die letzten Tage noch ein Konzert geboten? Dann stehe ich vor dem Plakat mit einem leeren und nagelneuen Trolley in der rechten Hand. Auf dem Plakat prangt der Name einer Band und ein angekündigtes Konzert. Die Band heißt DAYGLO ABORTIONS, sie kommt aus Victoria, British Columbia, Canada. Sie spielt in Halifax. Nein, SIE HABEN VERDAMMT NOCHMAL GESPIELT, GESTERN! Ich kenne diese Band seit 30 Jahren oder länger und hatte noch nie das Vergnügen sie live zu erleben. Auf dem Plakat steht tatsächlich, SUNDAY, JULY 3TH 8 PM im Gus` Pub. Für verfickte 25 Bucks hätten wir diese geile Hardcore Punk Metal Band in Halifax sehen können, wären wir nur am Samstag schon losgelaufen meinen beschissenen Trolley zu kaufen!!!! Das Plakat wäre mir auch zwei Tage früher nicht entgangen. Ich tobe, fluche und ärgere mich über mich selber, weil ich den verdammten, verfickten und beschissenen Trolleyeinkauf verschoben habe. Hätten wir das am Samstag erledigt, dann wären wir Sonntag im Gus` Pub dabei gewesen. Jetzt bleibt mir nur eins, das verfickte Konzertplakat abzureißen, damit es mich für immer daran erinnert, was ich verdammt nochmal versäumt hast. Es wird den letzten freien Platz an meiner Garagendecke bekommen, in der linken Ecke beim Tor. Möge es mir eine Lehre sein. Jedes Mal wenn ich es betrachte, Dinge die erledigt werden müssen, nicht aufzuschieben.

Konzertplakat als mahnende Erinnerung nichts aufzuschieben

„Lass uns eben in den „NSLC Shop“ (Nova Scotia Liquor Corporation) schauen, dann können wir noch ein paar Bier kaufen und eine Flasche von unserem Lieblingsrotwein. Wir haben den Trolley dabei, dann sollten wir ihn auch nutzen.“, sage ich zu Jutta. Der NSLC Store ist gleich neben unserem Hotel. „Schließlich sind wir noch eine Woche in der Stadt!“, füge ich hinzu, keinen Widerspruch duldend. Ich packe ein paar Sixpacks Molson und Pabst ein und eine große Flasche Rotwein.

Mit meinem neuen Rollkoffer, der nun um einiges schwerer ist, begeben wir uns zurück ins Appartement. „Den richtigen Einkauf machen wir dann morgen, OK?“, sagt Jutta. „Ja klar, wollen wir noch einmal im Atlantic Super Store einkaufen?“, frage ich. Der Laden ist teuer, aber dort gibt es eine tolle Auswahl an leckeren Sachen und das Einkaufen macht mehr Spaß, als in dem günstigen Supermarkt nebenan. Jetzt kommt es darauf auch nicht mehr an. Haben ja 50 Dollar für Konzerttickest gespart!. „Können wir machen.“, sagt Jutta.

Ich packe alles in den Kühlschrank und breite mich mit dem Laptop auf meinem Schreibtisch aus. Morgen will ich mal wieder einen Versuch wagen.

Wir sind angekommen. Ich genehmige mir ein kaltes Pabst Blue Ribbon und wandere durchs Appartement. Irgendwie bin ich glücklich und zufrieden, ein erfolgreicher Tag. Es ist alles erledigt, was zu tun war. LEMMY steht sicher und unbeschadet im Hafen. Alle Formalitäten sind erledigt. Wir haben die Unterkunft, wie gewünscht, einen Kühlschrank mit genügend Drinks und noch eine knappe Woche in Town, bevor wir zurück fliegen. Ich kann mich sechs Tage darauf vorbereiten ins Waterhole zurückzukehren oder 6 Tage lang verdrängen. Noch bin ich mir nicht im Klaren, welche Strategie ich verfolgen soll. Andererseits bin ich frustriert, weil ich in einigen Tagen in ein Flugzeug steige, das mich nach Hause bringt, zurück ins Waterhole. Und auch, weil ich Dayglow Abortions verpasst habe, weil die Mietwagen zu teuer sind und unsere Tour nicht komplett ist ohne Cape Breton Island.

Zimmeraussicht

Jutta liest ein Buch auf ihrem eBook Reader, ich weiß nicht, das Wievielte es ist. Ich glaube, sie beobachtet mich, wie ich durch die Zimmer streiche. Ich trinke einen großen Schluck Pabst und sehe aus dem Wohnzimmerfenster. Der Ausblick war tatsächlich besser in dem anderen Appartement am Ende des Flurs. Dort konnte ich die gesamte Kreuzung einsehen, von hier nur die eine Nebenstraße. Ob der „Schreier“ noch unterwegs ist? Heute Abend nach 23 Uhr werde ich es erfahren. Das war immer seine Zeit. Eigentlich habe ich noch überhaupt keine Lust diese Reise zu beenden. Ich tröste mich mit dem bevorstehenden Reload Festival und das wir immer noch mehr als 6 Wochen frei haben, wenn wir im Waterhole ankommen. Was wird mich im Theater erwarten?

Ich schlürfe, den Kopf weit nach hinten geneigt, den Rest aus der Bierdose und nehme mir ein Molson Canadian aus dem Kühlschrank. Dann setze ich meinen Streifzug fort. Aus dem Augenwinkel kann ich es sehen. Jutta sieht auf von ihrem elektronischen Buch und folgt meinem Gang. Ich biege ab ins Schlafzimmer und entkomme ihren neugierigen Blicken. Versunken in Gedanken schaue ich aus dem Schlafzimmerfenster. Und, als ob meine Gefühlsachterbahn noch nicht genug bekommen hat, bahnt sich die nächste Überraschung an, die meine Gefühle erneut auf die Probe stellt.

Neptune Theater

Ich kann nicht glauben, was ich da nun schon wieder entdecke. Es ist ein weiteres Mal ein Plakat, welches meine Aufmerksamkeit erregt. Diesmal unter Glas an der Fassade des Neptune Theaters. „Du glaubst nicht, was ich da gerade aus dem Fenster sehe!“, rufe ich rüber ins Wohnzimmer. „Das ist ja unfassbar.“ Aufgeregt eilt Jutta zu mir ans Schlafzimmerfenster. „Was siehst du denn?“, will sie wissen. „Hier läuft „Misery“ im Theater, ist das nicht fantastisch? Das müssen wir unbedingt sehen.“, sage ich. Sie teilt meine Begeisterung: „Wie geil ist das denn?“ Der begnadete David Nathan hat uns etliche Stunden auf dem langen Trans Canada HWY begleitet, indem er uns das gesamte Buch vorgelesen hat. Was sage ich? Vorgelesen? Er liest nicht vor, er haucht den Protagonisten Leben ein, lässt Bilder im Kopf entstehen. Sie werden real und erscheinen vor unserem inneren Auge. Ich sehe die verrückte Annie Wilkes wütend durchs Haus toben und Paul Sheldon, angsterfüllt mit schmerzverzerrtem Gesicht, verzweifelt an sein Bett gefesselt.

„Ich lauf mal schnell runter und gucke, an welchen Abenden es aufgeführt wird!“, sage ich zu Jutta, ohne eine Antwort abzuwarten. Leicht frustriert komme ich zurück ins Zimmer. „Mit Plakaten scheine ich im Augenblick kein Glück zu haben. Entweder sehe ich sie zu spät und das Konzert ist bereits vorbei oder ich sehe es zu früh und die Premiere findet erst im November statt.“ Monate nachdem wir abgereist sind. „So ein Mist, wir werden wohl kaum für einen Theaterabend über den Atlantik fliegen.“, sage ich zu Jutta. „Oder vielleicht doch?“ Mit einem Besuch in New York City wollen wir auch nicht so ewig warten, haben wir uns im Februar vorgenommen. Jutta rollt mit den Augen und widmet sich auf der Couch wieder ihrem Buch und meine Gedanken gehen auf die Reise. Ich darf leise Musik auf dem riesigen Flatscreen hören, mit meinem Handy logge ich mich über YouTube ein. Irgendwann geht Jutta schlafen, ich folge ein paar Pabst Blue Ribbon später….

Den „Schreier“ habe ich nicht mehr gehört.

Dienstag, 05.07.2022. Die letzte Nacht war unruhig. Ich habe nicht gut geschlafen. Normalerweise werde ich erst einen Tag vor dem Rückflug depressiv. Das ist also gerade ungewöhnlich für mich. Wie soll es erst werden, wenn wir in Deutschland landen? Wenn wir aus Asien nach Hause gekommen sind, dann habe ich durchgehalten, bis unsere Freunde uns im Waterhole abgeliefert haben, dann erst kam der Zusammenbruch in der Garage. Jutta kennt das schon ewig und gibt mir die benötigte Zeit in meiner Höhle. In den letzten Jahren ist es allerdings viel besser geworden und ich habe gelernt, mit dem Zurückkommen besser umzugehen.

Zuletzt war es sogar so, dass es nach Reisen mit dem Camper keinen Zusammenbruch gab, sondern nur nach Flugreisen aus fernen Ländern. Aber was erwartet mich nach dieser Langzeitreise? Wir sind unterwegs mit dem Camper, aber auch mit dem Flugzeug aus einem Land, welches nicht gerade um die Ecke liegt. Mir fällt ein, jemand hat mich unterwegs aufgefordert über Langzeitreisen zu schreiben, ein Fazit bzw. eine kleine Zusammenfassung, wie ich es empfunden habe. Ich weiß nicht mehr genau, wer es war. Aber ich wollte mir Gedanken darüber machen, schreiben wie es mir damit geht und das werde ich auch. Im Grunde bin ich schon dabei. Für den Moment soll das allerdings reichen. Ich reiße mich zusammen, will Jutta nicht den Tag verderben und noch eine großartige letzte Woche hier verbringen in Halifax, Nova Scotia.

Beim Frühstück schlage ich für heute den Museumsbesuch vor und einen Spaziergang zum Plattenladen. Das „Maritime Museum of the Atlantic“ beinhaltet eine dauerhafte Titanic – Ausstellung, die mich interessiert. Es liegt direkt an der Waterfront, nicht weit von unserem Appartement. Und danach können wir noch nach Lust und Laune Kartons nach Vinyl-Scheiben durchstöbern. Denn die Chance will ich nicht ungenutzt lassen, eine oder eventuell sogar beide Platten von den „Hellacopters“ zu ergattern, die sich „Der Blonde“ wünscht. Den „TAZ Record Store“ kennen wir bereits von außen, er befindet sich unweit von unserem Hotel, neben der „Saint Marys Cathedral Basilica“. Wir sind häufig beim Einkaufen daran vorbei gekommen. Jutta stimmt sofort zu. Sie liebt „Den Blonden“ ebenso wie ich und nichts würde uns glücklicher machen, ihm eine (oder beide) dieser Scheiben zu präsentieren, damit er genauso verblüfft aus der Wäsche schaut, wie ich damals, als er mir zwei Platten von Sharky’s Machine geschenkt hat. Wir räumen schnell den Frühstückstisch ab und machen uns im Bad fertig. Hochmotiviert und hoffnungsvoll auf einen erfolgreichen Plattenkauf starten wir bei strahlendem Sonnenschein in den Tag.

Saint Marys Cathedral Basilica

Wir spazieren die Sackville Street runter ans Wasser und gleich links um die Ecke, erblicken wir das Museum. Gemeinsam lösen wir die Tickets und danach findet jeder sein eigenes Tempo, zwischendurch kreuzen sich unsere Wege. Wir wechseln Blicke und gelegentlich ein paar Worte, dann begeben wir uns zurück in das Jahr 1912, als die Titanic am 15. April im Nordatlantik sank. Ich versuche mir vorzustellen, mit welchen Erwartungen und Hoffnungen die Reisenden an Bord des Schiffes gegangen sind. So viele Menschen, wie damals in Southampton an Bord gingen, so viele Träume und Ziele hatten sie vermutlich auch. Doch ein Ziel vereinte sie alle gemeinsam – New York City, Amerika.

Aussicht von der Terrasse des Maritme Museum of the Atlantic
Dartmouth – Auf der anderen Seite

Nach dieser zweistündigen, beeindruckenden Zeitreise machen wir uns auf den Weg in die 1521 Grafton Street zu „TAZ Records“. Ich begeben mich direkt zu den Kartons, die unter dem Buchstaben „H“ im Rock und Metal Bereich zu finden sind. Bevor ich den Verkäufer frage, will ich erst mal selber suchen. „By the Grace of God“ und „Rock & Roll Is Dead“ sind die Titel meiner Begierde. Jutta stöbert derweil woanders im weitläufigem Laden. „Yes!“, im zweiten Karton finde ich zumindest schon mal eine Hellacopters Scheibe, leider nicht der gewünschte Titel, geschweige denn die Pressung von 2002 und 2006. Ich wühle mich durch alle Kartons mit „H“ und hoffe noch eine weitere Platte zu finden, aber das Glück ist nicht auf meiner Seite. Nun wende ich mich doch an den Verkäufer mit exakt den beiden Titeln aus den entsprechenden Jahren. Er tippt alle Daten in seinen Computer und schüttelt den Kopf. Wie schon der Plattendealer in Quebec City zuvor. „No chance!“ Wie bedauerlich. Ich danke ihm für seine Bemühungen und schaue, wo Jutta steckt. Ohne Plattenkauf verlassen wir den Laden. Dafür werden wir dem Atlantic Super Store einen Besuch abstatten und nicht mit leeren Händen gehen. Im Gegenteil, mit prall gefüllten Beuteln machen wir uns auf den Heimweg.

Mir fällt ein Song von Motörhead ein: „God was never on your side“, was ich eigentlich nicht behaupten kann, aber heute im Plattenladen hat er mich verlassen. Na macht nix, er hat Wichtigeres zu tun, als meine Vinyl-Träume zu erfüllen.

Im Hotel angekommen verstauen wir die Einkäufe, gönnen uns einen kleinen Lunchbreak und machen Mittagsschlaf. Zum späten Nachmittag kochen wir uns einen Kaffee und essen den Kuchen, den wir im Atlantic Superstore gekauft haben. Wir haben heute nichts Weiteres vor, außer einen gemütlichen Abend zu verbringen. Ich will auf jeden Fall mit meinem Blog vorankommen, und nach dem Abendbrot und einem gemeinsamen Film, weiter schreiben. Ich habe Lust mich an die Arbeit zu machen, denn es geht mit der Stadt der Engel weiter, mit Los Angeles. Dort hatten wir eine fantastische Nacht im Rainbow, Lemmy Kilmisters Stammkneipe in West Hollywood.

Nachtschicht

Als Jutta bereits im Bad ist und sich für die Nacht fertig macht, fahre ich meinen Laptop hoch und hole mir ein kleines Molson Canadian aus dem Kühlschrank. Auf dem riesigen Flatscreen logge ich mich bei You Tube ein und spiele „Johnny Hobo and The Freight Trains“, daraus wird meistens ein guter Selbstläufer. „Mach aber nicht so laut!“, vernehme ich einen liebevollen Ruf aus dem Badezimmer. Ich öffne vom Desktop: 2. Akt CHAPTER VII – CALIFORNICATION, VOM ATLANTIK ZUM PAZIFIK IN DIE STADT DER ENGEL und höre den ersten Song von Johnny Hobo’s Album „Love Songs For The Apocalypse“. Es ist der New Mexico Song. Dann fange ich an zu schreiben….

Später spiele ich noch die Red Hot Chili Peppers, zuerst das gleichnamige Album, nachdem dieses Kapitel benannt ist und dann „Stadium Arcadium“, ein grandioses Doppelalbum. Irgendwann klappe ich mein Laptop zu und gehe leise und überaus zufrieden ins Bad, um mich von dort ins Bett zu schleichen…. Auf den Straßen draußen bleibt alles ruhig.

Silent Night

Mittwoch, 06.07.2022, ist der Tag an dem LEMMY ab 23:00 Uhr den Hafen von Halifax verlassen wird, für die große Überfahrt. Die Atlantic Sail wird zunächst Baltimore in den USA anlaufen und erst danach geht es über den großen Teich. Weitere Häfen werden Liverpool und Antwerpen sein, bevor sie Hamburg erreichen wird. Wir werden vorher bereits in Deutschland sein und die Passage des Schiffes verfolgen. Aber bevor es soweit ist, möchte ich dieses gigantische Containerschiff beim Auslaufen beobachten, mit einem Bier auf dem Tisch vor mir. Mal sehen, ob ich Jutta motivieren kann, so spät noch mal mit mir loszugehen. Auszustehen haben wir heute wieder nichts. Nur faulenzen. Vielleicht machen wir einen Spaziergang, wenn wir Lust dazu haben. Aktivitäten sind ansonsten nicht geplant. Essen, schlafen, lesen und ich werde immer mal mein Laptop aufklappen und etwas schreiben, wenn mir danach ist. Gestern habe ich ein paar Seiten geschafft, es hat Spaß gemacht, bin in „den Flow“ gekommen. Die Musik hat mich beflügelt. Ich werde dieses Chapter hier in diesem Appartement fertigstellen, nehme ich mir vor.

Am frühen Nachmittag versuche ich Jutta von meiner Idee zu überzeugen, ein oder zwei Stunden im Sea Smoke Restaurant & Bar an der Waterfront auf ein riesiges Containerschiff zu warten. Ich erkläre ihr, wo der Laden ist und das wir schon daran vorbeigelaufen sind. „Das ist das Restaurant mit den Feuertischen auf der Terrasse.“ sage ich. „Dort haben wir einen tollen Blick und können das Schiff nicht übersehen, wenn es in der Zeit ausläuft.“ Sie guckt mich kritisch an. „Nicht eine Minute länger als zwei Stunden!“, sagt sie bestimmt. „Oh ja, versprochen!“, antworte ich strahlend. Gut gelaunt setze ich mich mit einem Becher Tee an den Schreibtisch.

Mein Arbeitsplatz

Um 22:30 Uhr gehen wir los, allerdings nicht ohne vorher die „Marine Traffic“ App gecheckt zu haben. LEMMY befindet sich noch im Hafen. Keine Updates vorhanden. Um 23:00 Uhr soll der Ozeanriese auslaufen. „Das wird sowieso nichts.“, meint Jutta. Mir ist ebenfalls klar, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, hätten wir so ein unverschämtes Glück und das Schiff würde annähernd pünktlich Halifax verlassen. Von der Sackville St. gerade einmal abgebogen, sehen wir bereits das Wasser und können somit ab jetzt nichts verpassen. Vor elf Uhr wurde uns bereits ein Platz auf der Terrasse an einem der vorderen entflammten Tische zugewiesen. Sollte das Feuer nicht ausreichend wärmen, liegen noch zusätzlich Wolldecken auf den Stühlen. Ich bestelle ein großes und sehr teures Bier, Jutta wählt einen alkoholfreien Cocktail. Wir zahlen hier für die Lage und vermutlich auch für die gehobene Küche, aber was soll`s? „Vielleicht haben wir Glück und es klappt doch.“, sage ich, obwohl ich dieses Mal selber nicht daran glaube. Ein zweites Bier bestelle ich noch, was auch der „last call“ ist und wir bezahlen die Rechnung. Sitzen dürfen wir noch so lange wir wollen. Ein Schiff kommt nicht mehr vorbei und wir machen uns auf den Heimweg. Die Enttäuschung hält sich in Grenzen, haben wir doch beide nicht wirklich damit gerechnet, die Atlantic Sail auslaufen zu sehen.

Kein Schiff kommt vorbei – Keine Atlantic Sail mit Lemmy an Bord

Im Durty Nellys ist noch was los, aber wir gehen hoch ins Bett. Vom „Schreier“ auch heute Nacht keine Spur.

07.07.2022, Donnerstag. Nur noch wenige Tage bis zu unserem Rückflug. Es geht mir erstaunlich gut und ich fühle mich relativ gelassen, wenn ich an den 11. Juli denke. An den Tag, an dem wir in den Bus zum Flughafen steigen. Ich habe noch immer die Visitenkarte von Sam unserem Taxifahrer, der uns vor 6 Monaten im Schnee verwehten Halifax, im Residence Inn by Marriott abgesetzt hat, aber noch mal werden wir nicht über 80 $ zahlen für einen Airport Transfer. Die Haltestelle zum Bus ist nur wenige Gehminuten entfernt, also auch mit Gepäck kein Problem. Habe ja einen nagelneuen Trolley. Daran, dass er mich ein verpasstes Dayglo Abortions Konzert gekostet hat, denke ich lieber nicht!

In mir ist auch nicht mehr der Druck, unbedingt noch etwas Sensationelles zu erleben. Den Mietwagen habe ich als zu teuer abgehakt, den Cabot Trail habe ich mit dem fehlenden Mietwagen abgeschrieben. Ich bin zufrieden mit einem Museumsbesuch, einem leckeren Essen und einem guten Film auf der Couch neben Jutta. Es liegt, denke ich jedenfalls, an Halifax. Und daran, dass ich nicht mehr an FOMO (Fear Of Missing Out / Angst etwas zu verpassen) leide. Diese Stadt fühlt sich an….. wie Zuhause.

Room View

Dabei spielen mit Sicherheit alle vergangenen Reisen eine Rolle und besonders diese Langzeitreise, obwohl wir 3 Wochen zu Weihnachten und zum Jahreswechsel 2021/22 im Waterhole waren. Wahrscheinlich wird sogar Corona zu meiner Gelassenheit beitragen. Wegen des Virus haben wir diese Reise ein Jahr verschoben. Wir haben gelernt zu warten, mit schwierigen Situationen umzugehen. OK, das lernt man auf fast jeder Reise, aber mit Corona gab es schon diverse erhebliche Herausforderungen, auch noch als wir ein Jahr später aufgebrochen sind. Corona war nicht vorbei und ist es jetzt auch noch nicht. Sind wir doch gerade erst seit einigen Wochen genesen von einer Covid 19 Infektion. Wo haben wir uns doch gleich infiziert? Ach ja, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beim D.O.A. Konzert in Quebec City. Rückblickend betrachtet war es womöglich eine gute Fügung, den Trolley erst am Montag gekauft zu haben und das Dayglo Abortions Konzert zu verpassen. Das Risiko sich erneut anzustecken wäre wohl gering, aber nicht ausgeschlossen. Den Rückflug hätten wir infiziert nicht antreten können. Keine Ahnung warum, aber wieder fällt mir ein Songtitel dazu ein. Diesmal von Kid Rock – Only God Knows Why.

Ich bekomme Lust noch etwas zu Arbeiten, also setze ich mich an meinen Schreibtisch.

Perfect place to work

Ich beame mich nach Los Angeles, in die Stadt der Engel und gehe auf den Hollywood Forever Cemetary, Jutta und ich stehen am Grab von Johnny Ramone, von Chris Cornell dicht daneben und auch bei Dee Dee Ramone verweilen wir. Linda Ramone, Johnnys Frau, wird sich später für meine schönen Bilder von Johnnys Grab bedanken und meinen Beitrag liken. Das fühlt sich großartig an und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Jutta verlässt vor mir diesen beeindruckenden Friedhof, ich will allerdings unbedingt noch das Grab von Vito Scotti besuchen. Er war Schauspieler und spielte in vielen Columbo Krimis eine Nebenrolle. Ich freue mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich ihn erkenne, in immer anderen Rollen und Outfits. Trotz 5 $ Lageplan finde ich sein Grab nicht. Das ist aber nicht so schlimm. Ich sehe Peter Falk als Inspektor Columbo vor mir, wie er in seinem Trenchcoat in so manchen Columbo Folgen auf diesem Friedhof in Szene gesetzt wird, mal scheint die Sonne und manchmal gießt es in Strömen. Ich kann mich durchaus als Columbo Fan bezeichnen, habe ich doch alle Staffeln auf DVD und das Columbo Lexikon im Schrank. Die Filme kann ich fast komplett mitsprechen. Mit einem Lächeln mache ich mich auf den Weg zum Auto, welches am Straßenrand, vor einem Zelt auf dem Bürgersteig parkt. Dann fahren wir weiter.

Freitag 08.07.2022, später Vormittag. „Ich bin gestern Nacht fast fertig geworden.“, verkünde ich stolz beim Frühstück. Jutta ist bereits bei ihrem zweiten Kaffee. Sie hat auf mich gewartet, damit ich wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekomme. Jutta weiß, ich rede von Chapter VII, 2. Akt. „Wie viel fehlt denn noch?“, fragt sie.

„Na mal sehen.“, sage ich unverbindlich. „Noch 2, 3 oder 4 Seiten vielleicht. Heute schaffe ich den Rest!“, behaupte ich selbstbewusst. „Wollen wir später noch mal ins Durty Nelly’s, es ist Wochenende.“ Sie weiß, wir fliegen in drei Tagen und tut sich deshalb schwer, mir diesen Wunsch abzuschlagen. „Na gut, wenn du unbedingt willst!“, sagt sie. „Und was ist mit deinem Blog, wird das Kapitel trotzdem heute fertig?“ „Ja bestimmt!“, sage ich „und wenn nicht, dann morgen.“

Irgendetwas geht vor in mir. Ich fürchte eine altbewährte Strategie anzuwenden. Ich befinde mich in einem ganz bestimmten Modus. Verdrängung! Das ist nicht gut und gefällt mir gar nicht. Scheinbar drückt der verbindliche Rückflugtermin unerwünschte Knöpfe in meinen Schaltkreisen. Knöpfe, die nicht gedrückt werden wollen. Je näher der verdammte Rückflug naht, desto chaotischer werden die Weichen gestellt. Ich flüchte in die Arbeit, trinke ein wenig zu viel und versuche alles, um das Unwiderrufliche auszublenden. Ich muss schleunigst Ordnung in das Chaos bringen, damit die Züge nicht entgleisen oder schlimmer noch, kollidieren. Aber wie soll ich das anstellen? Ich weiß es nicht.

Erst mal Ruhe bewahren, nachdenken. Mit Stress kann ich umgehen. Das habe ich schon als Kind lernen müssen. Und auch auf vielen Reisen habe ich gelernt, mit Problemen fertig zu werden. Was gab es da nicht schon alles? Verschiedene Unfälle mit dem Motorrad, drei alleine in Thailand, zwei davon mit erheblichen Verletzungen (Schlüsselbeinbruch, großflächige entzündete Schürfwunde). Autounfälle, auch schon in den USA. Nicht zu vergessen unser Abenteuer auf dieser Reise in Albanien, wo wir bangen mussten ALLES zu verlieren. Des weiteren gab es Autopannen, Krankheiten, Lebensmittelvergiftung, allergische Reaktionen und mehr. Alles haben wir überstanden und nicht zuletzt hat mich mein Beruf eine gewisse Stress-Resistenz gelehrt. „Nachdenken.“, sage ich mir erneut.

„Wie wäre es, wenn wir gleich einen schönen Spaziergang an die Waterfront machen und danach einen schönen Film zum Kaffee schauen? Wir könnten uns Kuchen kaufen für heute Nachmittag.“, sage ich zu Jutta. Mir selber hämmere ich unaufhörlich ein Wort ein: „Nachdenken!“

„Ja klar, super Idee.“, sagt Jutta. „Ich bin in 20 Minuten soweit.“ „Klasse!“, sage ich, „ich bin in 10 Minuten soweit.“… Nachdenken…… Nachdenken……Nachdenken….

Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, genieße den Spaziergang an der Waterfront. Die Atlantic Sail hat irgendwann heute morgen, weit vor Sonnenaufgang, den Hafen von Halifax verlassen. Sie wird bereits Kurs auf Baltimore, USA genommen haben und dort einiges an Fracht ab- und wieder zuladen, bevor sie nach Europa in See sticht. Sie wird genau hier im Mondschein vorbeigefahren sein, wo wir in diesem Augenblick lang laufen. Dann sehen wir den Tisch, an dem wir gestern noch Drinks hatten, im Sea Smoke Restaurant & Bar.

LEMMY wird stummer Zeuge von all den Häfen, die das Containerschiff der Grimaldi Reederei noch passieren wird und von allem was drumherum geschieht.

Wir schauen mittlerweile nach köstlichem Kuchen in einem unserer Lieblingsläden, in Arthur’s Urban Market, für den Filmnachmittag. Ich werde mich wieder bei Netflix einloggen und reichlich Auswahl haben. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht einen schönen Nachmittagsfilm finden. Jutta kümmert sich um den Kaffee, ich um den Film. Wie hieß es früher noch immer bei den Leihvideos aus der Videothek: „Alltag raus, Video rein!“ Nach genau diesem Motto verfahren wir gerade, ich mehr als Jutta, sie weiß nichts von meinem Dilemma.

Später schreibe ich noch ein wenig und dann gehen wir rüber ins Durty Nelly’s. Wir trinken etwas und essen auch zu Abend, ein letztes Mal in der Bar. Wieder Zuhause liest Jutta noch eine halbe Stunde im Schlafzimmer und ich vollende Chapter VII aus dem 2. Akt. Das dauert allerdings etwas länger als eine halbe Stunde, aber das macht nichts, es sind noch ein paar Dosen Pabst Blue Ribbon und Molson Canadian im Kühlschrank. „Cheers!“

Samstag, 09.07.2022. Noch zwei Tage bis zum Abflug. Jutta ist schon auf und kocht Kaffee, ich liege im Bett und denke nach. Mir geht es etwas besser als gestern. Schon am Nachmittag beim Spaziergang an der Waterfront, wurde meine Stimmung etwas heller. Die alten Mechanismen der Verdrängung helfen, positive Gedanken aber auch. Ich überlege, wie ich eine Zusammenfassung über Langzeitreisen zustande bekommen soll, und bin ratlos.

Wir waren in Texas, wenn ich mich nicht irre, als dieser Gedanke an mich herangetragen wurde. Schreib mal darüber, wie es ist, so lange zu Reisen! Wer war das bloß noch? War es Angela? Ich glaube ja. Wenn nicht, möge man mir bitte verzeihen. Mein Gedächtnis ist eigentlich sehr gut auf Reisen eingestellt und ich komme fast aus, ohne mir Notizen zu machen. Aber manchmal spielt es mir einen Streich und ich bin verunsichert. Schon ein dutzend Mal habe ich in Gedanken diese Zusammenfassung geschrieben, immer wenn ich nachts wach im Bett lag. Aber jetzt ist alles weg, wie kann das sein? Einmal hatte ich einen ähnlichen Fall. Mir fiel ein Name nicht mehr ein. Der Name einer Person, die mich beeindruckt hat, die ich gerne hatte, nach nur ein paar Stunden Billard spielen. Es war in North Bend, Washington, USA oder anders ausgedrückt in Twin Peaks, in einem Paralleluniversum. Ich war soweit, dieses Chapter über Washington zu schreiben, aber mir fiel der Name nicht ein, von meinem neuen Freund, den ich dort kennengelernt hatte. Es hat Wochen gedauert, bis zu einem Geistesblitz. Vorher war ich mir so sicher, diesen Namen niemals zu vergessen, so speziell ist er und Teil eines Filmtitels ebenfalls. Wie gesagt, Jutta und ich waren Billard spielen in Twin Peaks, in der Pour House Bar & Grill. Irgendwann hatte Jutta keine Lust mehr und ein Typ kam auf mich zu und hat gefragt, ob ich mit ihm spielen würde. Zuvor hatte er mit seiner Freundin am Nebentisch einen Burger gegessen und uns zugeschaut. Na jedenfalls hat er mir einiges von sich offenbart und wir haben uns prima verstanden. Als es dann allerdings ans Schreiben ging, Monate später, da war sein Name weg. Deletet. Gelöscht aus meinem Gedächtnis. Ich konnte das nicht begreifen, denn wenn ich mir bei einer Sache sicher war, dann dabei, diesen Namen niemals zu vergessen. Ich habe Jutta gefragt: „Wie hieß der Typ denn bloß? Das kann doch nicht wahr sein!“ Sie wusste es auch nicht mehr. Ich habe das Chapter zur Hälfte fertig geschrieben, ohne seinen Namen zu wissen. Aber dann kam der Geistesblitz und sein Name war auf einmal da. Mein Freund aus Twin Peaks (North Bend, Washington, USA) heißt Kimble.

Was mache ich hier eigentlich gerade? Flüchte ich mich in die Vergangenheit? Mache ich das, um diese Zusammenfassung zu umgehen? Ich weiß es nicht, noch nicht. Vielleicht bekomme ich noch etwas zustande, später. Noch ist diese Reise nicht am Ende. Dieser Trip endet mit dem Reload Festival 2022, das habe ich mir vorgenommen. Und bisher habe ich alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe.

Ich sollte wohl mal aufstehen, Jutta wartet sicher schon ungeduldig mit dem Frühstück. Gestern habe ich sie schon so lange zappeln lassen. Als ich aus dem Bad komme, sitzt sie bereits am gedeckten Tisch, frischer Kaffee dampft aus meinem Becher. Ich nehme mir fest vor, heute einen tollen vorletzten Tag mit Jutta in Halifax zu verbringen.

Wir reden über alles Mögliche, auch über die Rückreise und ich kann das händeln. Ich habe meine Gedanken neu sortiert, bin wieder selber verantwortlich im Stellwerk. Ich lenke die Züge, stelle die Weichen neu, ordne das Chaos. Jetzt verläuft alles über die richtigen Gleise, ich vermeide jede Kollision.

Jutta und ich bummeln an diesem wundervollen Sommertag an der Waterfront und jetzt am Wochenende haben die ganzen Fressbuden auf, die wir schon vor einem halben Jahr im Schnee hier gesehen haben bei -14°. Eine Vertrautheit stellt sich ein, ich kenne diese Stadt im Sommer und im Winter. Und nicht nur diese Stadt, ganz Nova Scotia. Ganz Nova Scotia? Nein, nicht ganz Gallien. Ach Moment mal, das ist eine andere Geschichte. Nicht ganz Nova Scotia, Cape Breton Island fehlt noch und wird eines Tages nachgeholt.

Poutine – Fries, Gravy & Cheese

Das Frühstück liegt eine Weile zurück und wir verspüren ein leichtes Hungergefühl. Zeit für ein Lunchbreak. Mit einer Hütte liebäugle ich schon seit geraumer Zeit, Smoke’s Poutinery, dort gibt es Poutine. Wir checken das gesamte Angebot an der Waterfront und entscheiden uns für meine erste Wahl. Einmal, an einem Roadhouse, auf dem langen Trans Canada HWY, hatten wir bereits das Vergnügen eine Poutine zu kosten. Das sind French Fries, mit verschiedenen Zutaten, wie zum Beispiel Gravy & Cheese, also mit Bratensoße und geschmolzenem Käse, was meine absolute Leibspeise hier ist. So etwas habe ich in Europa noch nicht bekommen. Und genau das bestellen wir jetzt und es befördert mich in den siebten Himmel bei jedem Bissen mit Fries, Cheese und Gravy. Notiz an mich selber: Finde eine Bratensoße in Deutschland, die dieser ebenbürtig ist!

Sonntag, 10.07.2022. Der letzte Tag vor dem Rückflug. Wir packen unsere Sachen, jedenfalls alles, was wir nicht mehr benötigen. Ich schaue in die Schubladen und Schränke, um nichts zu übersehen. „Denk bitte mit dran, ich muss mich noch bei Netflix ausloggen, wenn wir morgen abreisen!“, sage ich zu Jutta. „Mach ich.“ Dass die Rückreise in einer Odyssee ausartet, ähnlich wie die Anreise nach Canada, davon haben wir noch keinen Ahnung. Und das wir nicht mit Lufthansa fliegen, sondern auf Eurowings umgebucht werden, davon ebenfalls nicht. „Ich bin fertig mit Packen!“, lässt Jutta mich wissen, als hätte sie ein Rennen gewonnen. „Ich auch gleich. Was machen wir heute noch?“, frage ich. „Wie wäre es mit einem ausgedehnten Abschiedsspaziergang?“, schlägt sie vor. „Yes, super Idee. Das machen wir!“, sage ich.

Bereit zu gehen…

Nach dem Lunch machen wir einen kleinen Mittagsschlaf, trinken noch einen Kaffee zum letzten Stück Strawberry Cheesecake von Arthur’s Urban Market und machen uns fertig für einen ausgiebigen Spaziergang. Die Sonne scheint herunter von einem blauen und wolkenlosen Himmel. Wir sehen die Old Town Clock durch die Carmichael Street, laufen runter zum Hafen und lassen uns treiben. Immer wieder entdecke ich tolle Graffiti. Einige fotografiere ich.

Downtown Halifax

Vorbei geht es auch an der Saint Mary’s Cathedral, am Bicycle Thief, einem hochpreisigen Restaurant, mal biegen wir rechts ab, mal links, ganz intuitiv. Eine Melancholie überkommt mich, während wir durch die Straßen bummeln. Mit dem Rückflug habe ich mich arrangiert, hatte schließlich Zeit genug, mich darauf vorzubereiten. Und dann gibt es ja noch diese eine große Sache im August für mich, das RELOAD FESTIVAL. Das erleichtert mir den Rückflug ins Waterhole. Darauf freue ich mich unglaublich, ist es doch das beste Wochenende im ganzen Jahr, abgesehen von unseren Reisen. „Na, so nachdenklich?“, fragt Jutta, die genau weiß, was gerade in mir vorgeht. „Ja, geht aber schon.“, sage ich nur und sie versteht. Hand in Hand biegen wir links in die Hollis St. ab.

Am letzten Abend schauen wir einen Film auf Netflix, machen uns eine Flasche Wein auf und essen Käse und Cracker vor dem Fernseher. Alltag raus, Video rein. Bloß nicht nachdenken. Ich habe noch keine Idee, was ich über Langzeitreisen schreiben soll. Vielleicht kommt mir im Waterhole die „Eingebung“ oder ich erinnere mich wieder, was ich etliche Male, wach im Bett liegend, in Gedanken formuliert habe. Jutta sagt mir immer wieder, ich solle in solchen Fällen aufstehen und meine Gedanken in ein bereitliegendes Notizheft schreiben. Jetzt wünschte ich mir ihren Rat befolgt zu haben. Der Abspann läuft schon und ich stelle fest, kaum etwas vom Film mitbekommen zu haben. Zu sehr wanderten meine Gedanken umher.

Nach dem Film verabschiedet Jutta sich ins Bett, ich switche um auf You Tube und schaue Musikvideos. Als erstes wähle ich „Chet Baker – I’m a fool to want you“, das Video, welches ich hier im Residence Inn by Marriott in dem anderen Appartement vor ungefähr 6 Monaten entdeckt habe. Ich fülle den Rest aus der Weinflasche in mein Glas.

Abreisetag, 11.07.2022. Unser Flug LH 4399 geht erst am Abend. Klamotten sind gepackt. Weil wir früh auf sind gönnen uns unten ein kleines Frühstück. Ich liebe diese Hash Browns und Scrambled Eggs. Heute Mittag werden wir auschecken und unser Gepäck an der Rezeption deponieren. Im Frühstücksraum läuft auf einem großen Flatscreen TV an der Wand CNN, mit Nachrichten aus aller Welt. Ich fülle meinen Kaffeebecher zum zweiten und meinen Orangensaft zum dritten Mal auf. „Denk dran dich bei Netflix auf dem Fernseher auszuloggen!“, erinnert Jutta mich. „Danke!“, sage ich, „das hab ich vorhin schon erledigt, als du im Bad warst.“ Es ist deutlich mehr los beim Frühstück als im Januar, fällt mir auf. Da haben sich die Hotelgäste ihre Frühstücksboxen mit auf die Zimmer genommen, so wie wir auch manchmal. Jetzt sind alle Tische besetzt und Corona scheint fast vergessen zu sein. Nach dem zweiten Kaffee räumen wir unseren Tisch und begeben uns aufs Zimmer.

Bedroom

Pünktlich um 12:00 Uhr checken wir aus und lassen unser Gepäck an der Rezeption zurück. Die nächsten Stunden bummeln wir durch die Stadt, so wie gestern bereits, essen eine Pizza zum Lunch und stehen um 15:00 Uhr mit unserem Gepäck an der Bushaltestelle. Planmäßig steigen wir in den Bus zum Flughafen und etwas Wehmut kommt in mir auf. Jutta freut sich. Auf etwas freue ich mich auch, besser gesagt auf jemanden. Maddi wird uns vom Flughafen in Bremen abholen und ich freue mich sie wiederzusehen.

Warten auf den Airport-Bus

Nach 38 Kilometer erreichen wir den Robert L. Stanfield International Airport. Der Check In verläuft ohne Komplikationen, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, hinter der Flugnummer LH 4399 verbirgt sich keine Lufthansa Maschine, sondern ein Eurowings Flieger. Das stinkt mir schon gewaltig, denn ich weiß wir werden deutlich enger sitzen. Und auf das nächste Problem werden wir direkt hingewiesen. Der Airport Frankfurt hat massiven Personalmangel und kann nicht alle Maschinen abfertigen, unter anderem auch unseren Anschlussflug nach Bremen, der bereits gecancelt ist. Wir werden umgebucht Halifax – Frankfurt – München – Bremen. Ob das allerdings klappt ist ungewiss. Die anderen großen Flughäfen in Deutschland haben ähnliche Probleme, auch München. Ob wir von dort nach Bremen kommen steht in den Sternen. Möglich wäre es auch in Frankfurt in den Zug zu steigen, aber vermutlich sind bei dem Chaos sämtliche Sitzplätze der Bahn bereits reserviert. Ich möchte auf keinen Fall 4-5 Stunden übermüdet, mit unserem ganzen Gepäck, nach einem Flug über den Atlantik, im Gang eines Zuges hocken. Also riskieren wir Plan A, um über München nach Bremen zu gelangen. Meine Klimabilanz macht einen gewaltigen Schritt abwärts und ich sollte einen gehörigen Arschtritt dafür kassieren, aber das nehme ich im Augenblick so hin.

My Canadian Friends – Airport Halifax

Was zum Teufel ist da nur los an den deutschen Drehkreuzen? Natürlich, durch Corona fanden kaum Flüge statt und Personal wurde entlassen. Nun nimmt der internationale Flugverkehr wieder deutlich an Fahrt auf, aber es wurde versäumt Leute, die vorher entlassen wurden, wieder einzustellen. Ich frage mich, ist das nur in Deutschland so? Hier in Halifax ist nicht ein einziger Flug gecancelt. Ich fürchte andere Länder haben das besser im Griff. Die deutsche Bahn ist auch so ein Thema. Sie ist sehr selten pünktlich. Wieso können andere Länder das alles so viel besser?

Da fällt mir gerade noch was ein. Eins der vermutlich letzten Rätsel der Menschheit. Warum hat die Elbfähre Glückstadt – Wischhafen jeden verdammten Tag eine bis dreieinhalb Stunden Verspätung? Ich verstehe das nicht. Stau wird es da ja wohl nicht geben, oder? An jedem Tag auf dem Weg zur Arbeit höre ich im Autoradio die Meldung im Verkehrsfunk: „An der Elbfähre Glückstadt – Wischhafen heute anderthalb Stunden Wartezeit in beiden Richtungen.“ Wieso ist dieses Problem in den vergangenen 30 Jahren nicht zu lösen gewesen?

Mit unseren Bordkarten und dem Handgepäck begeben wir uns durch die Passkontrolle ins Terminal. Boarding ist um 19:05 Uhr an Gate 28. Wir haben die Plätze 021 D und 021 E. „Es ist noch Zeit bis zum Boarding, lass uns mal was trinken gehen!“, sage ich zu Jutta. Sie nickt. Ich weiß genau, wo ich hin will. In die Bar mit den leckeren Sorten einer Micro Brewery. „Weißt du noch, wo das war?“, frage ich Jutta, „wir waren auf dem Hinflug doch schon da.“ „Nee, keine Ahnung!“, sagt Jutta und während sie es ausspricht fällt mir ein: „Fuck, das war ja in Montreal.“ Wir finden eine andere Airport Bar und ich bestelle mir ein großes Molson Canadian. Mein Letztes für eine lange unbestimmte Zeit.

Molson Canadian

Wir checken regelmäßig die Monitore und stellen ein Gate Change fest. Die Boarding Time bleibt unverändert. „Wollen wir gleich mal los?“, drängelt Jutta, die langsam ungeduldig wird. Ich trinke mein Glas leer und nicke. Wie üblich startet das Boarding nicht pünktlich. Das ist auf allen Airports der Welt so.

Leider stoße ich mit meinen Knien an den Sitz vor mir an, wie es zu erwarten war. Mit einigen Minuten Verspätung startet unsere Maschine nach Frankfurt. Auf dem In Seat Monitor vor mir sehe ich die Flugroute und alle relevanten Daten. Es ist ein Nachtflug. Auf Reiseflughöhe stöbere ich durch die Filmauswahl und markiere meine Favoriten. Noch bevor das Dinner serviert wird, sehe ich einige Reihen vor uns die Stewardessen Wolldecken für die Nacht verteilen. Noch bevor sie unsere Plätze erreichen realisiere ich, die Wolldecken werden nicht verteilt. NEIN, verdammt noch mal, sie werden verkauft! Zehn Euro verlangt diese Airline für eine Wolldecke. „NO THANKS!“ Das habe ich noch nie erlebt. Dann friere ich lieber. Hier geht es mir nicht ums Geld, hier geht es ums Prinzip. Nie wieder werde ich mit Eurowings fliegen und mit Lufthansa auch nicht, solange mir nicht garantiert wird, nicht umgebucht zu werden auf diesen Billigflieger.

Echt angepisst starte ich meinen Film. Ich habe mich für Teil 1 von „It“ entschieden, die Neuverfilmung eines Stephen King Romans. Er ist sehr lang und verkürzt mir die Flugzeit. Als das Dinner serviert wird, muss ich den nächsten Schock verdauen. Ich bekomme ein kostenfreies Bier zum Essen, aber alle weiteren alkoholischen Getränke müssen nach dem Essensservice bezahlt werden. Ich kann es nicht fassen was hier passiert.

Bei Ryan Air von Bremen nach Marrakesch musste ich für eine kleine Dose Bier 5 Euro bezahlen, aber bei einem Transatlantik Flug? Gebucht mit Lufthansa? Ich bin schon mit vielen Airlines geflogen, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Air India ist vielleicht nicht gerade eine der weltbesten Airlines und manche Staufächer über den Sitzen wurden mit Gaffer Tape gesichert, aber auf meinem Flug von Bangkok nach Tokyo bekam ich auf die Frage, was ich denn zu trinken wünsche gleich zwei Dosen King Fisher in die Hand gedrückt, mit einem überaus freundlichen Lächeln des Stewards. Hoch lebe Air India, damit hatten sie mich.

Und dann kann ich sagen, dass ich bis heute etwas eine Dreiviertelmillion Flugmeilen auf dem Konto habe, eher mehr als weniger. Man möge mich auch dafür ordentlich in den Arsch treten, aber ich bin früh angefangen zu fliegen, als das Klima noch nicht ganz so am Arsch war bzw. nicht so in meinem Bewusstsein. Bei KLM habe ich es bis zum Gold Status gebracht, den ich zwei Jahre lang halten konnte. Hin und wieder gab es dann sogar eine Upgrade in die Business Class, u. a. von Amsterdam nach Bangkok. Diese Strecke sind wir in den 90er Jahren häufig geflogen. Einmal haben wir Meilen eingelöst, für einen Business Class Flug von Amsterdam über Paris nach Montreal und zurück.

Das sensationellste Erlebnis hatten wir auf einem Stop Over Flug von Hamburg nach Thailand, mit einer Zwischenlandung in Dubai für drei Tage.

Emirates Flight Dubai – Bangkok
Business-Class im A 380

By the way, Dubai sucks, Es ist zu heiß und zu trocken. Nirgends gibt es Bier, nur in wenigen lizenzierten Bars, in internationalen Hotels und im Hard Rock Café. Aber mal eben am Strand, im Restaurant oder beim Spaziergang durch die Stadt ein kaltes Bier trinken? Fehlanzeige. Eine Bar in Down Town? Fehlanzeige. Am Flughafen von Dubai nach Bangkok wurden unsere Namen aufgerufen. „Mr. and Ms. Godt please contact the check in counter immediately. Wir waren bereits in der Wartezone und dementsprechend schnell am Counter. „I have some good and some bad news for you! “, sagte die nette Dame am Schalter. „What would you know first?“ Jutta und ich starrten uns irritiert an, dann schenkten wir wieder der Dame am Schalter unsere Aufmerksamkeit. Ich sagte hastig: „First the bad news, please!“ Sie guckt mir ernst in die Augen. Dann sagt sie: „Der Flug ist überbucht und sie können nicht zusammen sitzen!“ Ich will etwas erwidern, denn wir haben den Flug schon zehn Monate im Voraus gebucht und ich bin damit überhaupt nicht einverstanden….., doch sie setzt ein Lächeln auf und unterbricht meine Gedanken. „But!“, sie legt eine kurze Pause ein und spricht weiter, „but you fly business class!“ Dieser Emirates Flug ist auf einen Airbus A 380 gebucht. Wir fliegen also in einem A 380 in der Business Class von Dubai nach Bangkok. Diese 6 Stunden Flugzeit war uns viel zu kurz, noch nie zuvor verging die Zeit so schnell.

Business-Class Lounge im A 380 von Dubai nach Bangkok

Wieso komme ich darauf und wieso erzähle ich das? Weil ich in der Luft bei einer dreiviertel Million Flugmeilen schon viel erlebt habe. Auf diesem Flug mit dem A 380 in der Business Class hatte ich eine Bar an meinem Platz. Ich bekam Bier, wann immer ich wollte. Jutta saß direkt vor mir, neben mir gab es keinen Platz, da war der Gang. Hinter mir war eine Lounge mit Snacks und einem Tresen, an dem frisches Bier gezapft wurde. Selbstverständlich gab es auch alles andere an Getränken von erlesenen Weinen, schottischen Whiskys, diversen Cocktails und was internationale Bars so zu bieten haben. Von Singapur nach Sydney sind wir auch schon einmal mit dem A 380 geflogen, ohne es vorher zu wissen. Es war das Jahr 2008 und der Papst hat Sydney besucht. Aus diesem Grund wurden größere Flugzeuge gebraucht, denn mehr Menschen als gewöhnlich wollten zu diesem Ereignis nach Australien fliegen. Wir wussten vorher nichts vom Papstbesuch und haben uns wahnsinnig gefreut, als wir am Gate den riesigen Airbus gesehen haben. Das war schon unglaublich, es war leise und wir hatten so viel Platz. Eine völlig neue Flugerfahrung. Und nun sitze ich eingeklemmt in dieser scheiß Eurowingsmaschine, bekomme keine Decke für die Nacht und muss jeden verdammten Drink teuer bezahlen. So habe ich mir das nicht vorgestellt.

Ich folge dem Film, den ich zum zweiten Mal sehe und verdränge meinen Ärger. Den zweiten Teil werde ich mir im Waterhole ansehen. Wir haben natürlich Pullover für die Nacht dabei, schließlich fliegen wir nicht zum ersten Mal und wissen, nachts wird es frisch. „Fuck you Eurowings!“

Während der Abspann läuft klettere ich vorsichtig über Jutta, die bereits schläft, putze mir auf der Toilette die Zähne und denke: „Was wird uns morgen wohl erwarten?“ Dann versuche ich etwas zu schlafen.

12.07.2022. Ich drehe mich im Sitz von links nach rechts, dann wieder in die Ausgangsposition. Die Knie schmerzen, der Sitz ist fast aufrecht. So unbequem war es noch nie auf einem langen Flug. Ich mache zwar die Augen zu, aber von Schlaf kann keine Rede sein. Dauernd sehe ich auf die Uhr und die Zeit zieht sich. Auf dem Monitor überprüfe ich die Entfernung bis zum Ziel, die Flugdauer, die Reisehöhe, die Außentemperatur und die Ankunftszeit. Endlos. Doch irgendwann schlafe ich doch ein und mache wenigstens einen Sprung von knapp zwei Stunden. Lange dauert es nun nicht mehr bis das Frühstück serviert wird. Wir hören die Vorbereitungen in der Bordküche und riechen den Kaffee.

Nachdem das Frühstück beendet ist, geht es immer relativ schnell bis zum Landeanflug. Wir sind bereits im Sinkflug und die Waschräume sind hoch frequentiert. Alle wollen sich vor der Landung in Frankfurt noch schnell frisch machen. Wir haben das bereits erledigt. Pünktlich landen wir auf Deutschlands größtem Flughafen. Früher mochte ich diesen Airport überhaupt nicht, hasste ihn beinahe. Doch im internationalen Vergleich hat Fraport in den letzten Jahren etwas aufgeholt, obwohl er immer noch weit hinter vielen anderen bedeutenden Flughäfen dieser Welt liegt. Wir sind gelandet in Deutschland. Müde und erschöpft machen wir uns auf den Weg zur Zollkontrolle. Die Einreise gelingt ohne Probleme. Unser Gepäck ist angekommen. Aber wie geht es jetzt weiter? Der Flug nach Bremen wurde gestern schon gecancelt. Wir sind umgebucht auf Flug LH 0108 nach München. Boarding 12:45 Uhr. Es ist früher Morgen, also einige Stunden Zeit bis dahin. Noch sind wir positiv gestimmt und hoffnungsvoll, doch das wird sich in einigen Stunden ändern.

Wir warten an Gate A 01 auf unseren Flug. Es ist bereits eine Stunde nach der angegebenen Boarding Time. Wir sitzen hier und warten, wissen nicht was passiert. Alle Passagiere sind ratlos. Eins ist jetzt schon klar, unseren Anschlussflug von München nach Bremen können wir nicht mehr erreichen. Es ist 13:50 Uhr und beim Flug LH 2194 von München nach Bremen beginnt das Boarding um 14:25. Aussichtslos.

Ich versuche den Tag relativ kurz zusammenzufassen. Wir warten in Frankfurt 9 Stunden auf einen Flug nach München. Es fehlt an Personal um das Gepäck ein- bzw. auszuladen. Es fehlen Leute um die Treppen an die Maschinen zu fahren. Corona hat seinen Schrecken verloren und die Menschen fliegen wieder. An den Flugschaltern, wo früher 4-5 Leute ihren Dienst absolvierten, müht sich nun eine Person ab. Überall sehen wir lange Schlangen und ratlose Gesichter. In München soll es noch schlimmer kommen.

Nach 9 Stunden ergattern wir zwei Plätze nach München. Der zweite erhoffte Anschlussflug ist nicht mehr realistisch, wir werden zu spät in Bayerns Hauptstadt ankommen. Aber noch gibt es einen einzigen späteren Flieger nach Bremen. Wir fragen eine Stewardess nach unseren Chancen, heute noch nach Hause zu kommen, aber sie kann uns nichts sagen. Wir müssen uns vor Ort erkunden, wie es weiter geht. Nachdem wir gelandet sind kontaktieren wir Maddi. Seit Frankfurt halten wir sie auf dem Laufenden. „Hey Maddi, wir sind endlich in München und müssen schauen, wie es weiter geht. Noch wissen wir nicht, ob wir es heute noch nach Bremen schaffen. Es tut uns leid, dich so lange hinzuhalten und im Ungewissen zu lassen!“

Chaos am Airport

Was hat die Stewardess noch gesagt? Wendet euch an den Service Point. Wir holen unser Gepäck, was glücklicherweise nun auch diesen Airport erreicht hat und eilen zum Service Point. Überall endlos lange Schlangen von Menschen. Ich entdecke einen Service Point an dem etwa 150 oder mehr Leute anstehen. Das können wir vergessen. Bis wir dort an der Reihe sind, ist es Nacht geworden. Es gibt kleine Self Check In Terminals, die nicht genutzt werden und Jutta ist so geistesgegenwärtig und versucht uns dort eigenständig umzubuchen auf Flug LH 2196. Boarding soll um 18:10 sein. Es funktioniert und sie druckt zwei Tickets aus. Überaus glücklich und zuversichtlich, doch noch heute nach Hause zu kommen, schlage ich vor, das mit einem Bier zu feiern und etwas zu essen. Was für ein Glück, dass alle Leute sich an den Service Points angestellt haben. Wir machen uns auf den Weg eine Location zu finden, wo es Drinks gibt und etwas zu essen. Ich bin nicht besonders wählerisch im Moment. Wir bestellen Pizza und Bier. Dann schauen wir uns die ausgedruckten Tickets genauer an. „FUCK!“ Das sind ja STANDBY Tickets. Es bleibt also noch immer ungewiss, ob wir heute einen Flug nach Bremen bekommen. Mittlerweile ist es mir aber scheißegal. „Noch ein Bier bitte, ein Großes!“, sage ich zum Kellner, der unsere Teller abräumt.

Local beer

Jutta will los zum Gate, ich habe resigniert. Mein Bier ist fast leer. Ich bin leicht angetrunken und mir ist jetzt alles egal. Meinetwegen verbringen wir halt die Nacht in München. „Komm schon, vielleicht bekommen wir den Flug!“, sagt Jutta. Ich zahle und wir gehen.

Um 18:37 Uhr besteigen wir dann tatsächlich noch mit unseren Standby Tickets die Lufthansa Maschine LH 2196 nach Bremen. Es ist ein Non Alkoholic Flight, keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat. Früher gab es immer was zu trinken, auch auf Kurzstrecke. Aber was soll’s, wir sind auf dem Weg ins Waterhole. Wir sind in Deutschland und unser Trip neigt sich dem Ende.

Wir landen in Bremen und ich erkenne Maddi durchs Fenster des Flugzeugs auf der Aussichtsterrasse. Dies ist ein kleiner Flughafen und entsprechend schnell vollzieht sich die Gepäckausgabe und die Zollabfertigung. Nur ein einziges Mal wurden wir bei der Ankunft aus Indonesien in Bremen durchsucht, aber das ist eine andere Geschichte. Vom Gepäckband geht es nun in die Ankunftshalle und da steht sie schon, unsere Freundin Maddi. Den ganzen verdammten Tag hat sie sich Zeit genommen und auf uns gewartet. Wir fallen uns in die Arme und ich habe Schwierigkeiten die Tränen zurückzuhalten. Beim Auto im Parkhaus reicht sie mir ein fast kaltes Hemelinger. Dann bringt sie uns ins Waterhole.

Airport Bremen

Vor unserer Haustür holt sie noch eine Kiste Hemelinger aus dem Kofferraum, damit ich auch was zu trinken habe die ersten Tage, mit einem Gruß vom „Blonden“. Drinnen finden wir ein selbstgebasteltes „WELCOME HOME“ Banner im Wohnzimmer, von Immi und Erdal, ein gemaltes LEMMY Bild und eine Herrenhandtasche bestehend aus verschiedenen Biersorten von Carsten und Olha. WE ARE BACK AT THE WATERHOLE!

Die große Depression bleibt zum Glück aus. Ich erleide keinen Zusammenbruch, wie nach früheren Reisen. Ich freue mich auf das Reload Festival und auch darauf LEMMY vom Oswaldkai im Hafen von Hamburg abzuholen. Aber jetzt will ich erst mal schlafen, ohne Wecker!

…ohne Worte…

Völlig übermüdet legen wir uns ins Bett. Das war eine ganz schön lange Rückreise. 12 Monate waren wir auf Tour. Wie werden wir uns morgen fühlen, wie kommen wir im Waterhole an und wie zum Teufel soll ich meine Langzeitreisebeschreibung liefern? Unruhig falle ich in den Schlaf.

Ich wache auf. Alles ist komplett dunkel. Wo bin ich? Ich kann mich nicht orientieren, was ist das für ein Bett, was für ein Zimmer? Ruhig bleiben! Überlegen! Ach ja, ich bin Zuhause. In meinem Schlafzimmer. Für einen Augenblick, der mir wie eine Ewigkeit vorkommt, bin ich komplett lost, verloren in Raum und Zeit. Jetzt sehe ich wieder klarer. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich nehme den Kleiderschrank an der Wand, mein Wasserbett und den Nachttisch neben mir wahr, mit dem Wecker, dessen Display ein wenig leuchtet. Ich drehe mich auf den Rücken und höre Jutta neben mir leise atmen. Dann taste ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch und finde es sofort. Ich will noch ein Hörspiel anmachen. Meine Brille muss da auch irgendwo liegen. Ich taste erneut blind, ohne mich umzudrehen und finde sie. Das Handy in der Hand, die Brille auf der Nase suche ich bei Spotify nach einer Professor van Dusen Folge: Eine Unze Radium. Ich stelle noch den Sleep Timer auf eine Stunde, drücke Play und drehe mich wieder auf die Seite. In diesem Moment fällt mir die Lösung ein. Ich schreibe einfach einen Epilog übers Langzeitreisen, damit muss ich mich jetzt gar nicht stressen. Thats it! Schnell schlafe ich wieder ein, von Professor van Dusen bekomme ich nicht viel mit, macht aber nix, ich kenne die Folge bereits.

Mittwoch, 13.07.2022. Erster Tag nach dem Ankommen im Waterhole. Noch knapp drei Wochen bis wir LEMMY in Hamburg abholen können, wenn alles planmäßig mit dem Schiffsverkehr läuft. Etwas mehr als fünf Wochen vor dem RELOAD FESTIVAL. Jetzt müssen wir uns erst mal in Deutschland akklimatisieren. Jutta hat mich ausschlafen lassen, bis kurz vor 12 Uhr habe ich im Bett gelegen.

Ein paar Tage später sind wir angekommen. Wir leben in den Tag hinein und genießen die letzten Wochen, bevor es wieder zur Arbeit geht. Jutta war schon zum Räumen und Arbeiten in der Schule und ist voller Vorfreude, aber meine Begeisterung auf die Arbeit hält sich in Grenzen. Auf das Theater freue ich mich riesig und auch auf viele Kollegen, aber ich weiß auch um die Probleme, die mich erwarten werden. Die Probleme in den eigenen Reihen, die vorher bereits da waren und auch jetzt noch präsent sein werden. Ich verdränge das allerdings bis auf weiteres.

Zweieinhalb Wochen später: Die Atlantic Sail hat Hamburg erreicht. Wir können LEMMY im Hafen abholen. Wird er unversehrt sein? Mit dem Jeep fahren Jutta und ich zum Oswaldkai. Die Kennzeichen habe ich mitgenommen. Alle Formalitäten erledigen wir gemeinsam, auf das Hafengelände darf ich nur alleine, um LEMMY in Empfang zu nehmen. Ein aufregender Moment. Da steht er schon, ich sehe ihn. Mir wird der Schlüssel ausgehändigt in dem kleinen Häuschen, wo ich ihn vor Monaten abgegeben habe. Wir machen eine Abnahme und alles ist in bester Ordnung. Der Motor startet einwandfrei und ich fahre nach erhaltener Instruktion vom Gelände, wie mir geheißen wurde. Jutta erwartet mich bereits mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Die Kennzeichen werden angebracht und nun geht es noch zum Zoll.

Wen wundert’s, wir müssen warten. Es ist niemand vor uns. Wir stehen alleine vor dem Zollgebäude, aber niemand kümmert sich um uns. Ich gehe hinein und frage, wie es jetzt weiter geht, überreiche einige Papiere, den Fahrzeugschein und was mir vorher ausgehändigt wurde. Wir sollen ans Ende des Gebäudes fahren und dort warten. Wir fahren ans Ende des Gebäudes und warten…. und warten…..und warten…..niemand außer uns ist hier. Dann endlich, nach einer knappen Stunde kommt jemand auf uns zu. Ein Beamter und eine Kollegin. „Habt ihr etwas zu verzollen?“ „Nö!“, sage ich. Die Beiden drücken mir den Fahrzeugschein und einige Papiere in die Hand, wünschen eine gute Fahrt und das wars. „Danke!“

Jutta fährt den Jeep nach Hause, ich fahre mit LEMMY vorweg. Ein gutes Gefühl! Was mir allerdings sofort auffällt ist, die Musik im Radio ist genau so scheiße, wie vor unserer Abreise vor beinahe 13 Monaten. Ich höre immer noch dieselben Lieder, als wäre nicht ein Jahr vergangen, sondern nur ein Tag. Wie kann das sein, es ist mir ein Rätsel. Es ist fast so, als könnte ich die nächsten drei Titel vorhersagen. Ich sehne mir eine Rock Station aus irgendeiner US Metropole herbei und ärgere mich. Zu allem Überfluss fliegt von einem vor mir fahrenden Fahrzeug ein kleines Steinchen auf die Windschutzscheibe. Da ist mein zweiter Steinschlag, klein, aber diesmal im Sichtfeld, jedenfalls wenn es nach dem deutschen TÜV geht. Na egal, den werde ich im März 2023 schon bequatschen, so dass mir der Prüfer die Plakette gibt. Im Waterhole klebe ich ein Pflaster drauf. Das muss ich unbedingt Omi Hans erzählen, wenn wir uns bald bei ihnen treffen. Mit Steinschlägen haben wir beide so unsere Erfahrung.

Wie geht es jetzt weiter? Jutta und ich treffen viele unserer Freunde, planen unsere alljährliche Party im September und unsere nächste Reise nach Thailand im Sommer 2023. Aber eine große Sache gibt es noch in diesem August 2022. Das ist das RELOAD FESTIVAL. Und das ist auch das Ende meines ganz persönlichen Reiseblogs. Dort sind wir verabredet mit Torre und Maddi, mit meinem Kollegen und Freund Micha, seinen Kumpels Feivel, den Isensee Brüdern und deren Freunden und Freundinnen, mit Daniel und seinem Sohn Max, mit Carsten unserem Freund und Nachbarn, mit Isa und Chris, mit Andi und Doris und mit………

Donnerstag, 18.08.2022. Reload Day.

Mittags um 12 Uhr fahren wir mit Carsten los. Er hat einen Wohnwagen. Wir fahren mit LEMMY. Daniel und Max sind auch mit dabei. Daniels Bulli ist noch nicht repariert, deshalb fahren sie mit dem PKW und einem Zelt. Verabredet sind wir mit Micha und seinen Freunden an der Tankstelle in Sulingen, dachte ich jedenfalls. Da haben wir uns das Jahr davor getroffen und das Jahr davor auch. Als wir ankommen ist niemand da. Wir warten, aber keiner kommt. Das ist ungewöhnlich, sonst sind sie alle immer vor uns da und essen Burger bei McDonalds nebenan. Mein Handy klingelt. „Wo bleibt ihr?“, fragt Micha. Ich bin irritiert. „Wo bleibt ihr?“, frage ich zurück. „Wir sind schon da!“, bekomme ich als Antwort.

Um es kurz aufzuklären: In Sulingen ist eine große Baustelle, deshalb waren wir in Bassum bei McDonalds verabredet. Ich habe die Nachricht von Micha nicht richtig gelesen und bin einfach davon ausgegangen, dass es so ist, wie jedes Jahr. „FUCK, wir sind in Sulingen!“, teile ich ihm mit. Nun wollen wir versuchen uns an der großen Erdbeere zu treffen, wo sie diese leckeren Früchte von den Feldern verkaufen.

Ich mache es kurz, das klappt auch nicht. Daniel, Max, Carsten, Jutta und ich stellen uns auf Camp 2. Micha und seine Leute landen auf Camp 1.

Sehen werden wir uns trotzdem alle noch, denn das „Warm Up“ startet heute auf der kleinen Stage vor dem Battlefield und vor der eigentlichen Eröffnung des Festivals am Freitag. Nachdem unser Camp steht, muss ich mich bereits beeilen, denn um 15:05 fangen „Dirty Shirt“ an zu spielen, meine erste gesetzte Band. Sehen werde ich heute noch Wargasm, Born from Pain, Bloodywood, Comeback Kid und Jinjer. Einige Bands zwischendurch lasse ich aus.

Timetable:

15:05 – 15:45 Dirty Shirt
16:05 – 16:45 Wargasm
17:05 – 17:45 Born From Pain
18:05 – 18:45 Mr Irish Bastard
19:05 – 19:45 Watch Out Stampede
20:05 – 20:45 Unearth
21:05 – 21:45 Bloodywood
22:05 – 22:45 Bleed From Within
23:05 – 00:05 Comeback Kid
00:30 – 01:30 Jinjer

Bei Jinjer bin ich bereits so betrunken, dass ich einen Kollegen aus dem Theater fast nicht erkenne. Morgen weiß ich nur noch, dass ich jemand getroffen habe, aber nicht mehr, wer es war. Das stellt sich erst später auf der Bühne heraus, als ich wieder arbeite. Aber das alles, was hier an diesem Wochenende und danach geschieht ist eine andere Geschichte.

RELOAD FESTIVAL 2022 (some of my friends)

Nur eine Sache will ich noch sagen: Das RELOAD FESTIVAL findet immer auf dem „BATTLEFIELD“ statt, seit ich es besuche. Nun ist das anders und das ist gut und richtig so. Seit dem Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine steht dort etwas anderes auf dem Schild über dem Einlass auf das Festival Gelände. Und das ist der Augenblick, warum ich dreimal nach Hause komme während dieser Reise. Dort wo letzte Jahr noch stand: „Welcome To The Battlefield“, da steht jetzt:

„WELCOME HOME“

THE END

…. und was als nächstes geschieht…., es folgt ein Epilog

Chapter 29 – Montreal, Quebec und der unglaubliche Sankt-Lorenz-Strom….

.und wie uns Corona doch noch erwischt und was D.O.A. damit zu tun hat…

This Chapter is dedicatetd to Mr. Chi Pig – R.I.P. (16.07.2020)

Ich wälze mich aus dem Bett und schaue aus dem Fenster. Dann sehe ich das Drama von dem Jutta gesprochen hat. Wir sind komplett zugestellt. Aber warte mal, hatte der Typ, der uns hier gestern eingewiesen hat, nicht so etwas erwähnt? Er sagte doch: „Wir regeln das schon!“ und wir sollen nicht erschrecken oder so sinngemäß. „Lass uns erst mal frühstücken“, schlage ich vor, „die holen uns hier schon raus, wenn wir los wollen.“ Jetzt erinnert Jutta sich auch wieder daran. „Stimmt ja, der morgendliche Wahnsinn, wenn alle Angestellten in den Büros einfallen und einen Parkplatz bis zum Feierabend brauchen.“ Der Parkraum in Downtown Toronto ist sehr begrenzt.

Wir lassen es heute morgen sehr relaxt angehen, denn besonders weit werden wir nicht fahren, wenn wir die Stadt verlassen. Cobourg soll der erste Zwischenstopp sein, ein nettes kleines und beschauliches Städtchen am Ontario Lake. Danach geht es direkt weiter bis Kingston. Dort wollen wir eine „1000 Islands“ – Bootstour machen, von der Omi Hans uns so vorgeschwärmt hat.

Toronto Streetlife

Aber erst mal ist Frühstück angesagt und dabei besprechen wir die nächsten Tage. Jutta hat bereits wieder einige besonders schöne Campgrounds rausgesucht und berichtet mir beim Kaffee davon. Schnell werden wir uns einig welches unsere Favoriten sind. Die grobe Richtung steht, bis einschließlich Montreal, dann sehen wir weiter. Als der zweite Kaffee geleert und die Kabine aufgeräumt ist, quetsche ich mich durch die eng geparkten Autos, die uns die Ausfahrt versperren, um im Kassenhäuschen um Hilfe zu bitten. „No problem!“, heißt es nur. Und beim Blick rüber zu unserem Camper greift der Parkplatz Concierge aus einer großen Ablage verschiedener Autoschlüssel, gezielt die Richtigen und ca. 10 Minuten später ist unser Weg frei. Vorsichtig rangiere ich LEMMY durch die geräumte Spur vom Parkplatz. Vorausschauender Weise wurde ich rückwärts eingeparkt, so dass jetzt alles problemlos läuft. Wir bedanken uns, winken und verlassen eine fantastische Metropole.

Toronto

Bis Cobourg sind es etwas mehr als hundert Kilometer Asphalt und wir fahren fast die gesamte Strecke dicht am Lake Ontario entlang. Nach über einer Stunde kommen wir an, parken und machen einen kleinen Bummel durch die beschauliche Kleinstadtidylle. So richtig gute Laune kommt allerdings nicht auf bei unserer Besichtigungstour. Nachdem wir einen Eindruck von der Innenstadt und dem Stadtstrand bekommen haben, wollen wir weiter. Bis Kingston sind es schließlich noch drei Stunden zu fahren, sagt das Navi. Wir wählen den längeren Weg über die kleine Halbinsel Prince Edward, kommen dabei auch noch in den Genuss mit der Fähre von Glenora nach Adolphustown überzusetzen und sind insgesamt mehr an der Küstenlinie unterwegs.

Fähre Glenora – Adolphustown
Adolphustown

Die Ausblicke auf den Lake Ontario sind wunderschön heute, bei Sonnenschein und blauem Himmel. Gegenüber befindet sich die USA mit dem Bundesstaat New York. In Kingston übernachten wir im Lake Ontario Park auf einem „Umsonst“ Stellplatz. Als wir am späten Nachmittag ankommen sind noch viele Tagesausflügler unterwegs und picknicken auf den, von Bäumen beschatteten, Grünflächen. Wir machen noch einen kleinen Spaziergang, bis uns die Mücken zu sehr piesacken und beenden den Tag gemütlich mit einem leckeren Abendessen und einem Horrorfilm.

Der nächste Tag beginnt mit einem schnellen Müslifrühstück auf dem grünen Rasen. Jeder schnappt sich einen Stuhl, den Kaffee und die Müslischale, auf einen Tisch verzichten wir. In der Sonne genießen wir den Morgensnack und unseren Wachmacher aus dem Becher. Wir verlieren nicht viel Zeit, dann geht es runter zum Hafen für die „1000 Islands Bootstour“. Ich weiß, dass diese Tour an verschiedenen Stellen, nicht nur in Kingston, unter diesem Namen angeboten wird und hoffe auf ein großartiges Erlebnis. Wir sichern uns das Ticket für die Tour auf der „Island Belle I“ und haben vor dem Ablegen noch Zeit uns etwas umzusehen.

Island Bell I

Nach Toronto haben es diese kleinen Städte schwer bei mir zu punkten, zu langweilig stelle ich mir das Leben hier vor. Da spielt die fantastische Lage, wo der St. Lorenz Strom in den Lake Ontario mündet, keine Rolle. Viel los ist nicht gerade als wir das Boot betreten. Hinter uns steht die „Island Star“, etwa doppelt so lang, aber nicht so schön wie unser Ausflugsdampfer. Die kommt erst zum Einsatz bei größerer Nachfrage. Ich ahne bereits, an der falschen Stelle zu sein, hätte ich bloß besser zugehört, als Omi Hans von seiner Tour berichtet hat.

Kingston City Hall

Wir legen ab und meine Vermutung bewahrheitet sich. Es ist alles ganz interessant, was da vom Kapitän berichtet wird und nette Ausblicke gibt es auch hin und wieder, aber von 1000 Inseln kann nicht die Rede sein. Ich schaue auf meine Handymap und entdecke keine 50 Kilometer von hier den „Thousand Islands National Park“. Na was soll`s, so was kommt dabei raus, wenn man mal nicht gründlich recherchiert oder nicht genau zuhört, wenn Insidertipps verteilt werden. Ich habe mir nur das Stichwort „1000 Islands“ gemerkt, als Hans vor Wochen davon geschwärmt hat.

Tatsächlich haben wir spektakulärere Ausblicke auf dem Weg zu unserem nächsten Nachtlager, dem Ivy Lea Campground. Es sind nur 41 Kilometer zu fahren, aber diese 35 Minuten Fahrzeit haben es in sich. Auf dem „Thousand Islands Parkway“ können wir uns gar nicht satt sehen an der Inselwelt des mächtigen St. Lorenz Stroms. Es gibt große und kleine Inseln, teilweise ist das Wasser türkisgrün.

Auf manchen sehr kleinen Inseln entdecken wir fantastische Villen, Privatanwesen von irgendwelchen Celebreties oder Großverdienern, spekulieren wir. Selbstverständlich haben sie alle einen Bootsanleger mit schicken Yachten vor der Tür. Man muss ja schließlich auch mal einkaufen. Am anderen Ufer parkt dann der Bentley oder der Chauffeur holt einen standesgemäß mit der Stretchlimousine ab. Auch auf dem Festland sehen wir prächtige Häuser mit riesigen Grundstücken am Wasser.

Ich komme ins Träumen und frage mich, ob ich hier denn leben könnte, in so einem Haus, mit dem Boot vor der Tür und diesem Blick aus dem Wohnzimmerfenster? Ich glaube nicht, obwohl es im Dreieck zwischen Toronto, Montreal und New York City liegt. Von den drei Städten ist es mir zu weit entfernt und an den nächsten Nachbarn und kleinen Ortschaften zu nah dran. Dann lieber richtig abgelegen an einem einsamen Bergsee, kein anderes Haus in Sichtweite. Für eine Weile, zum Schreiben zum Beispiel, zum Runterkommen. Vor dem Frühstück schwimmen, gelegentlich mit dem Boot raus fahren, vielleicht sogar angeln. Im Sommer, bei lauen Nächten unter klarem Sternenhimmel auf der Terrasse sitzen und auf den See raus schauen, im Winter am Kamin sitzend ein gutes Buch lesen und einen exquisiten Wein oder Bourbon trinken. Das würde mir gefallen. Vorbei gekommen sind wir bereits an etlichen Orten auf dieser Reise, an denen ich es für einige Wochen oder gar Monate aushalten könnte. Eigentlich ist heute eine perfekte Gelegenheit am Blog weiterzuarbeiten. Wir werden früh ankommen und stehen hoffentlich nah am Wasser.

„…..abbiegen müssen!“

„Waasss isss?“, frage ich erstaunt und Jutta guckt mich mit großen Augen an.

„Du hättest da gerade abbiegen müssen!“, sagt sie, „wir sind da.“

„Oh, sorry. War wohl in Gedanken.“, erwidere ich. Dann wenden wir und kurz darauf sehe ich das Schild: „Ivy Lea Campground“. Der Campingplatz liegt zum Teil unter der „Thousand Islands Bridge“, die rüber in die USA führt. Der Blick von unten auf die Brücke ist grandios, dafür hört man aber den Verkehr, der Tag und Nacht zwischen den beiden Ländern fließt. Wir wollen versuchen einen naturnahen Stellplatz zu ergattern, ohne Strom und irgendwelchen Schnickschnack.

Ivy Lea Campground

Beim Check-in bekommen wir eine Map mit markierten freien Plätzen in die Hand gedrückt. Damit fahren wir los, um uns den schönsten Platz zu suchen. Die Wege sind eng, die Bäume stehen dicht, es geht steil rauf und runter. Wir lassen links und rechts diverse freie Plätze hinter uns, es geht bestimmt noch besser. Die Leute mit ihren Luxuscampern stehen vorne auf Schotter, sie haben keine Chance mit ihren großen Gefährten einen dieser Traumplätze zu erreichen. Mal wieder wird mir klar, mit LEMMY haben wir die beste Wahl getroffen. Mittlerweile bin ich so oft abgebogen in dieser hügeligen, dschungelartigen Vegetation, dass ich die Orientierung verloren habe. „Sind wir hier schon lang gefahren?“, frage ich Jutta, die die Map auf ihrem Schoß liegen hat. „Ich weiß es auch nicht so genau, fahr mal da rum!“, sagt sie und zeigt an einer Gabelung links runter. „Schau mal den da, die Nr. 23.“ „Yes!“, sage ich, „der Platz ist perfekt!“

Thousend Islands National Park

Wir stehen auf einem lang gezogenen Stellplatz an einem Seitenarm des Sankt-Lorenz-Stroms, inmitten dichter Bäume, direkt am kristallklaren Wasser in Ufernähe, weiter hinten wird es türkisgrün. Eine Feuerstelle befindet sich dicht am Wasser und zwei Bäume haben den richtigen Abstand, um unsere Hängematte zwischen ihnen zu spannen. Jetzt müssen wir nur noch beim Check-in Bescheid geben, welchen Platz wir uns ausgesucht haben und den Papierkram erledigen. Jutta erklärt sich bereit zu laufen und ich baue unser Lager auf. LEMMY parke ich quer, mit der Kabinentür zum Fluss. Das Tarp lasse ich weg, da wir genug Schatten durch die Bäume haben. Die Hängematte wird gespannt und die Feuerstelle präpariert. Dann richte ich mir meinen Schreibtisch ein, damit ich später noch arbeiten kann. Nach über einer halben Stunde kommt Jutta erst zurück. Es war doch weiter als gedacht zu Fuß bis zum Eingang.

Perfekter Stellplatz

Überglücklich mit diesem sensationellen Stellplatz genehmigen wir uns ein kaltes Bier und genießen die Natur um uns herum. Ein schwarzes Eichhörnchen gesellt sich zu uns. Es hält ausreichend Abstand, ist aber doch immer in unserer Nähe. Der Kleine ist für ein Eichhörnchen ganz schön groß und ziemlich abgerockt. Er sieht alt aus und, als hätte er schon einiges erlebt. Irgendwie mag ich ihn. Er hat an einigen Stellen graue Haare, so wie ich. Wegen der Atmosphäre und weil ich Campfire einfach liebe, entfache ich die Feuerstelle bereits jetzt schon, am Nachmittag. Beim Check-in habe ich zwei Bündel Feuerholz gekauft und hier liegt reichlich totes Holz herum. Es schadet sicher nicht, wenn ich etwas davon für mein Lagerfeuer verwende.

Zwei Tage verbringen wir in dieser traumhaften Umgebung. Eigentlich zu kurz für so einen schönen Ort, aber der Platz ist danach leider schon für jemand Anderen reserviert. Wir müssen uns langsam der Realität stellen, und zwar, dass wir uns auf dem Rückweg dieser Reise befinden. Das gilt insbesondere für mich, Jutta hat weniger Probleme ins Waterhole zurückzukehren. Mir fällt es schwerer, je weiter wir uns dem Tag der Abreise nähern. Aber noch haben wir fast vier Wochen und ich damit genug Zeit, eine altbewährte Strategie anzuwenden: Verdrängung. Das Waterhole ist noch weit weg und kann mich sonst wo lecken.

„Cheers!“

Ich mache jetzt eine andere Reise, eine Reise in die USA. Um genau zu sein nach Utah, in die Hochwüste, in den Arches National Park. „Jutta, ich schreibe noch an meinem Blog weiter, diese Kulisse animiert mich zum Arbeiten.“, sage ich. „Ja, gute Idee. Das mach mal, ich lese noch. Essen um sieben?“

Kein übler Arbeitsplatz…
Mr. Writer

Das bei Jutta bald das genaue Gegenteil eintreten wird, von dem was bei mir grundsätzlich der Fall ist, nämlich Fernweh, davon ahnen wir jetzt noch nichts: Akute Reisemüdigkeit.

Am Abend schmeißen wir ein paar Sachen auf den Grill, unterhalten uns angeregt und freuen uns auf die folgenden Abstecher nach Montreal und Quebec. Am 20. Juni, also in 6 Tagen wollen wir auf ein D.O.A. Konzert in Quebec City gehen. Die Karten dafür haben wir online schon gekauft. Für mich ist ein Konzert immer was Besonderes und die letzten Gigs, für die ich Tickets gekauft hätte, waren in Seattle leider allesamt bereits ausverkauft. Ihr erinnert euch nicht? Deftones, Ministry, Corrosion Of Conformity, Turnstile….

D.O.A. ist leider nicht dasselbe Kaliber wie oben genannte Bands, dafür haben wir die Karten zu einem Spottpreis bekommen. Konzerte in einem anderen als dem Heimatland sind eh was Besonderes, für mich jedenfalls. Und was dieses Konzert bzw. ein T-Shirt in mir auslösen wird, davon habe ich noch keine Ahnung. Wir sitzen noch eine Weile entspannt am Feuer, reden über dies und das, trinken noch ein Bier zusammen und dann zieht Jutta sich zurück in die Kabine. Ich rücke meinen Stuhl wieder an den Schreibtisch, nah ans Feuer und beame mich zurück nach Utah.

I love Campfire

Der zweite Tag verläuft genauso gechillt, wie der Gestrige. Ab und an kommen Leute mit Kajaks vorbei und winken uns zu. Wir liegen abwechselnd in der Hängematte, dösen vor uns hin, lesen ein Buch oder lösen Sudokus. Ich schreibe schon am Vormittag, sammle und hacke Feuerholz. „Devil“, so habe ich unser schwarzes Eichhörnchen getauft, streicht mir mit gebührendem Abstand um die Füße. Hin und wieder bekommt es eine Erdnuss zugeworfen. Nach dem Mittagessen machen wir ein Schläfchen, hören dabei „Hurricane“, ein neues Hörspiel, welches in Alaska spielt und ganz vielversprechend scheint. Dann gibt es Kaffee und Strawberry Cheesecake, während wir die wärmende Sonne und den Blick auf das türkisfarbene Wasser genießen. In diesem Augenblick wünsche ich, dass diese Reise niemals endet.

Devil, unser ständiger Besucher

Doch es kommt, wie es kommen muss. Die Realität holt mich ein. Auch wenn unsere Reise vorläufig weiter geht, so nähern wir uns immer mehr dem Endpunkt, dem Abflug. Dem Tag, an dem wir nach Deutschland fliegen, zurück ins Waterhole. Ich rede nicht darüber, behalte meine trüben Gedanken für mich, will Jutta nicht die Laune verderben. Ich verdränge, das kann ich gut. „Hey, guten Morgen!“, sage ich, als ich durch köstliches Kaffeearoma am Abreisetag wach werde.

Gegen Mittag starten wir und verlassen Ivy Lea. Ich wurde bei meinem Instagram Post sogar nach der Nummer gefragt, wo genau wir gestanden haben. Den Tipp gebe ich gerne weiter. Bevor wir Richtung Montreal fahren, wollen wir auf die Thousand Islands Bridge zum Thousand Islands Tower, der auf Hill Island liegt, vor der US amerikanischen Grenze. Von dem Turm soll die Aussicht herrlich sein, aber leider ist der Tower geschlossen, wie es scheint bereits seit einem längeren Zeitraum.

Wir fahren noch bis an die US amerikanische Grenze, drehen dann um und fahren weiter auf dem Thousand Islands Parkway Richtung Montreal. Es geht durch Orte wie Butternut Bay, Blue Church, Cardinal und Ingleside, vorbei an luxuriösen Villen, gebaut direkt am Sankt-Lorenz-Strom. Manche dieser Villen sind komplett schwarz und so ganz anders, als wir es aus Europa kennen. Ich denke tatsächlich darüber nach unser Haus auch schwarz zu streichen, wenn ich zurück bin. Vanta Black, das ist meine Farbe. Hinter Ingleside biege ich links ab, auf die „Long Sault Pkwy Scenic Route.

Leider beginnt es in diesem Augenblick heftig zu schütten. Ich trete auf die Bremse, werde langsamer. Von dieser sehenswerten Straße über 11 Inseln, durch Brücken verbunden, sehen wir nur regenverhangene Schleier. Angekommen auf der letzten Insel, auf Mille Roches Island, fahren wir auf den gleichnamigen Campingplatz. Unser auserwählter Stellplatz steht dermaßen unter Wasser, dass uns angeraten wird, auf einem der vorderen Schotterplätze die Nacht zu verbringen. Safety First! Wir hören auf die Leute und ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Bock mich auf der vom Regen aufgeweichten Grünfläche festzufahren. Dieser Tag endet wie er begonnen hat, trüb. Ein heftiges Gewitter setzt ein und der Himmel hat all seine Schleusen geöffnet. Der Regen prasselt lautstark auf das Dach, Donner und Blitze lassen uns zusammenzucken. Es dauert lange, bis wir heute Nacht in den Schlaf finden.

„Willst du nicht mal langsam aufstehen?“, fragt Jutta, als sie mitbekommt, dass ich mich gerade auf die andere Seite wälzen will. „…..mmmhhh, wie spät is es denn?“ „Schon zehn Uhr durch!“, antwortet sie. „Oh, schon? Ja klar, ich komme.“

Zehn Minuten später sind wir beim Frühstück in der Kabine, obwohl die Sonne vom Himmel lacht. Es lohnt sich nicht, für so ein kurzes Vergnügen auf diesem Schotterplatz Tisch und Stühle draußen aufzubauen. Außerdem wollen wir gleich weiter. Doch bevor es nach Montreal geht, werden wir unterwegs das „Upper Canada Village“ besichtigen. Die gute Laune ist mit der Sonne zurückgekehrt. Vielleicht liegt es auch an der Vorfreude auf die Stadt. Heute verlassen wir Ontario und werden Quebec State ein bisschen besser kennen lernen.

Bei bestem Wetter und mit trockenem Asphalt unter den Rädern, nehme ich die letzte Brücke von der elften Insel und biege rechts ab, runter vom Long Sault Parkway, auf den Macdonald Cartier Freeway, straight to Montreal.

CUT!……….., CUT!!!……, Augenblick mal, müssen wir nicht links runter fahren? Wir müssen tatsächlich knapp 20 Kilometer zurück, auf dem Festland allerdings, nicht über die Inseln. Eine Viertelstunde später kommen wir an. Die Sonne brennt. Wir kennen es nicht anders. Ist es doch meistens bei uns so, dass wir erst gegen Mittag mit den Aktivitäten starten.

Das „Upper Canada Village“ ist ein Freilichtmuseum und besteht aus etwa 40 Gebäuden, um das Jahr 1860. Es ist alles so liebevoll hergerichtet bzw. erhalten worden, dass es mir schwer fällt, es angemessen in Worte zu fassen. Nachdem wir den Eintritt bezahlt haben, überqueren wir eine Brücke und begeben uns in das Sägewerk. Es ist wenig los, wahrscheinlich ist der erste Schwung an Leuten bereits früh morgens durch und die Nächsten starten am späteren Nachmittag, wenn die Sonne nicht mehr so brennt. Ich steige die Treppe hoch, um das Werk dort zu erkunden und stelle fest, dass da auf einem Stuhl, halbwegs sitzend, gerade jemand ein Nickerchen macht. Er ist gekleidet, wie man sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Arbeiter in einer Sägemühle gekleidet hat. Ich möchte ihn nicht wecken in seiner Mittagsruhe und versuche leise vom Dachboden zu verschwinden. Ich bewege mich in Zeitlupe und auf Zehenspitzen, aber die alten Holzdielen knarren und quietschen unter meinem Gewicht. Ich blicke mich um, gehe langsam weiter…., knaaarrrrtz….., er öffnet seine Augen. Plötzlich ist er hellwach, springt von seinem Stuhl auf und erzählt von seiner Arbeit als Tischler und Zimmermann. Er führt mir die Funktionsweise seiner Säge vor, ein 6 Meter langes Sägeblatt, welches vom Dachboden bis nach unten reicht, über eine Kurbel betrieben wird und in der Werkstatt eine Etage tiefer, Bäume in Scheiben schneiden kann. Jutta kommt gerade die Treppe hoch, als er mir von seinen deutschen Vorfahren berichtet.

Upper Canada Village

Wir sehen andere Werkstätten, eine Schneiderei, den Schuster, einen Schmied. Überall werden wir äußerst herzlich begrüßt und uns wird etwas berichtet aus der damaligen Zeit, vor über 150 Jahren. In der Schule ist Jutta besonders aufmerksam und beim Bürgermeister staune ich über den Luxus, den die anderen Bürger entbehren mussten. Auch in der Kirche kehren wir ein und werden Zeuge einer Hochzeitszeremonie. Im ganzen „Upper Canada Village“ erleben wir eine Inszenierung, die stattfindet, als ob wir überhaupt nicht da wären. Alle sind zeitgemäß gekleidet und manche spazieren einfach über die Straße, erledigen Einkäufe, ohne von uns Notiz zu nehmen. Das fühlt sich gut an, realistisch, authentisch. Wir sind im Jahr 1860.

Leider kann ich mal wieder nicht anders, als einen Haken zu schlagen zu einem Film, an den ich hier denken muss. Wer mich gut kennt wird jetzt bereits wissen, welcher Film mir im Kopf umgeht. Wohlmöglich erahnen auch aufmerksame Leser, die in meinem Alter sind, den Film, der mich in diesem Augenblick beschäftigt. Eine der Hauptrollen wird von Yul Brynner gespielt, er ist ein Roboter mit einer künstlichen Intelligenz. Der Film entstand im Jahr 1973 und heißt „Westworld“. Erstaunlich, wie damals die KI schon in unserem Bewusstsein war und was bis heute daraus geworden ist. Wird sie zum Segen oder zum Fluch für die Menschheit? Aber ich will nicht zu sehr abschweifen, nur soweit: „Wie geil wäre denn das, wenn jetzt ein durchgedrehter Hufschmied mit seinem Schmiedehammer wild fuchtelnd durch die Church Street rennt und jeden erschlägt, der ihm über den Weg läuft und Jutta und ich um unser Überleben kämpfen müssen….?!“

Eine Zombie-Apokalypse wäre mir auch recht:

Ich renne über die Straße, beim Bürgermeister habe ich einen Degen an der Wand hängen sehen, den muss ich haben. „Warte hier!“, schreie ich Jutta zu, „bin sofort wieder da, muss nur schnell was besorgen!“ Ich trete die Tür des Bürgermeisters ein, renne die Treppe hoch in seinen Empfangsraum und reiße den Degen inklusive Schaft von der Wand. Ich schaue runter auf die Straße, die Untoten kommen, sie umzingeln Jutta. Ich springe durch das Fenster auf das Verandadach, schmeiße den Degen in den Garten und mache einen Sprung mit Rolle hinterher. Dann greife ich nach meiner Waffe, eile Jutta zu Hilfe und kille alle Zombies, wie es im Lehrbuch geschrieben steht, mit einem Kopfstoß. Zum Glück sind es die langsamen Wiedergänger, mit denen werde ich spielend fertig.

Dorfkirche des Upper Canada Village

Ein Fazit vom „Upper Canada Village“: Für mich ein „Must see“, es ist jeden verdammten Cent wert, die Leute spielen ihre Rolle mit Leidenschaft, sie heißen jeden herzlich willkommen, sind beizeiten unaufdringlich, jederzeit hilfsbereit, überaus freundlich und alles ist mit so viel Liebe und Hingabe inszeniert, dass einem das Herz aufgeht. Einzig und allein die verrücktspielende KI hat mir letztendlich gefehlt, für meinen Adrenalinschub.

Jetzt aber: „Auf nach Montreal!“

Jacques-Cartier Bridge

Nach einer Stunde hinter dem Lenkrad wird der Verkehr deutlich dichter, wir nähern uns der Stadt. Völlig ungewöhnlich für uns: Die ganzen letzten Tage sind wir nur sehr kurze Distanzen gefahren, meistens nicht mal 2-3 Stunden. In Montreal werden wir drei Tage bleiben, vom 17.06.22 bis zu dem D.O.A. Konzert in Quebec City am 20. Juni. Und auch dieser Trip wird keine drei Stunden dauern. Aber erst mal geht es durch den wuseligen Innenstadtverkehr. Wir hätten auch eine alternative Route mit weniger Fahrzeugaufkommen wählen können, aber ich wollte gerne durchs Zentrum. Unser Ziel ist auf der östlichen Seite des Sankt Lorenz Stroms, den ich gerade überquere, unter uns ein Freizeitpark auf der Ile Sainte-Helene. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Parkplatz. Hoffentlich kommen wir noch unter, denn in zwei Tagen ist in Montreal ein Formel 1- Rennen, von dem wir jetzt erst erfahren auf den zahlreichen Plakaten in der Stadt. Jutta navigiert mich perfekt durch Downtown, über Brücken und durch diverse Knotenpunkte zur richtigen Abfahrt.

Der Parkplatz sieht verdammt voll aus. Ich stehe „in line“ hinter anderen Autos, die sich langsam dem Kassenhäuschen nähern, um ein Ticket zu ergattern. „Das wird nichts!“, sagt Jutta frustriert. „Da stehen nirgendwo große Autos oder Camper.“, bemerkt sie noch. „Mal abwarten!“, sage ich als Optimist. Noch drei Fahrzeuge sind vor uns, dann endlich kommen wir an die Reihe. Jetzt wird es spannend. „Do you have some space for us, for about three days?“, frage ich den Typen im Häuschen. „Yes, of course!“ Er nennt mir einen sehr fairen Preis für einen relativ zentralen Stadtstellplatz und erklärt, wie ich dorthin komme. Ich muss nur am endlos langen PKW-Parkplatz vorbei fahren, dann sind wir da. An der Waterfront ist alles belegt, aber in zweiter und dritter Reihe gibt es noch genug Auswahl für uns. Auf einer leicht geschotterten Rasenfläche stelle ich LEMMY ab. Vor uns der Sankt Lorenz Strom, hinter uns eine Schnellstraße. Wir dazwischen auf einem stadtnahen Stellplatz für Camper jedweder Couleur.

„Ein bisschen müssen wir noch einkaufen und wie wäre es eigentlich, wenn wir heute noch ausgehen?“ Das sind wieder nur Gedanken, die ich mir mache, aber als ich das Gefühl habe gut angekommen zu sein in Montreal und auch Jutta ihren Wohlfühlfaktor erreicht hat, da spreche ich es aus. Jutta sagt nur ein Wort: „Klar!“

Wir brauchen nicht viel, nur ein paar frische Sachen: Obst, etwas Aufschnitt und Wasser. Es gibt einen 24/7 Supermarkt auf dem Weg in die Kneipe, die ich ausgesucht habe. Vieux-Longueuil ist der Stadtteil, in dem wir uns befinden und im Bungalow Bar Salon möchte ich gerne auf Montreal anstoßen. Die Prioritäten werden festgelegt, erst trinken, dann shoppen. Die Bar machte im Internet einen guten Eindruck und als wir an unserem Fensterplatz den Blick auf die Terrasse und die Straße genießen, können wir das nur bestätigen. Ich bestelle bei der fixen Bedienung ein großes „Boreale Beer“, Jutta trinkt ein Witbeer. „Wollen wir auch noch was essen?“, fragt Jutta völlig berechtigt. Wir hatten noch kein Abendbrot. „Warum nicht!“, sage ich. „Habe zwar keinen großen Hunger, aber eine Kleinigkeit geht immer.“

Boreale Beer

Wir beobachten, was sich vor dem Fenster so abspielt, das alltägliche Drama. In der Kneipe streitet sich ein Pärchen und versöhnt sich. Haben sie später noch Sex? Ich glaube schon. Sie gehen vor uns. Bevor wir unser Bier ausgetrunken haben kommt der nette Typ, der uns die Drinks serviert hat, um abzukassieren. Es ist Schichtwechsel und er macht Feierabend. Ich zahle mit Kreditkarte, wir verabschieden und bedanken uns. „Das war ein netter Guy!“, bemerke ich Jutta gegenüber. Er hat sogar englisch gesprochen, was in Montreal und vor allem in Quebec nicht selbstverständlich ist. Mein Bier ist fast leer und ich sehe, mit wem er die Schicht getauscht hat. „Wow, is die heiß!“, kann ich mir nicht verkneifen, als mir klar wird, wer mir das nächste Getränk serviert. Es ist eine junge, attraktive Lady mit einem extrem kurzen Stretchhöschen, einem schwarzen Latex BH und einem Hauch aus Netz-Shirt darüber. Das gesamte Outfit ist sexy black. Ich signalisiere, dass ich Durst habe. Sie nimmt mich wahr und nickt mir zu. Hoffnungsvoll rechne ich damit in Kürze die nächste Bestellung loszuwerden. Wir warten. Und warten. Irgendwann kommt sie dann doch vorbei und ich bestelle nachdrücklich ein frisches Bier, weil ich schon eine Weile vor einem leeren Glas sitze. Nun ja, sie kann nicht wissen, dass ich es hasse ein leeres Glas vor mir zu haben. Jutta bestellt ein Wasser und das Menü. Dann warten wir erneut. Und warten. Sicher, ihr Englisch ist nicht besonders gut, aber ich hatte den Eindruck, als sie unseren Tisch verlassen hat, sei alles geklärt und verstanden worden. Das hat sie mir jedenfalls zu verstehen gegeben.

So wie ich es kenne, sollte die Bedienung geschäftstüchtiger sein und im Blick haben, welche Gäste habe ich heute? Wer trinkt schnell, wer braucht eine zusätzliche Ansprache, wo muss ich tätscheln, wo die Mutterrolle spielen und wen muss ich arrogant behandeln? Sie weiß nichts von alledem. Sie bringt weder mein Bier, Juttas Wasser oder die Karte für das Essen an unseren Tisch. Ziemlich genervt bekomme ich Blickkontakt zu ihr, sie steht gelangweilt an der Bar und eilt herbei. Was ich denn von ihr will, fragt sie allen Ernstes. Ich falle fast vom Glauben ab und versuche ihr zu verklickern: „One Beer, one water and the food menu!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie an unseren Tisch und serviert ein Wasser und mein Bier. „Where is the menu?“, frage ich. Sie geht und nach 20 Minuten frage ich ein weiteres Mal nach der Speisekarte. Dann bekomme ich sie sogar kurz darauf an den Tisch gebracht. Sie legt die Speisekarte einfach ab, ohne uns eines Blickes zu würdigen. „Willst du hier wirklich noch was bestellen?“, frage ich Jutta. „Ja, ich habe noch Hunger!“ Jutta bestellt sich was zu essen, ich noch ein Bier und wieder warten wir ewig.

Sightseeing

Hier und heute ist das zweite Mal, dass ich kein Trinkgeld beim Verlassen einer Bar gebe. Das erste Mal war in Vancouver, als mich eine Bitch um 25 $ Change betrügen wollte, das zweite Mal ist jetzt. Ich konstatiere: Nur ein sexy Outfit qualifiziert niemanden zu einer erstklassigen Tresenkraft, auch nicht zu einer zweit- oder drittklassigen. Ich erwarte mehr. Eine gute Bedienung weiß, wie schnell oder langsam ich trinke. Sie lernt was ich konsumiere und sie weiß noch eine Menge mehr über mich, jedenfalls wenn ich wiederholt ihre Bar betrete. Sie weiß, was meine besten Freunde nicht wissen. Sie muss ihre Gäste lesen wie ein offenes Buch und wenn sie das nicht kann, dann sollte sie umschulen. Ich selber kenne Barpersonal auf allen Kontinenten, außer der Antarktis, und kann mich mit ihnen verständigen. Durch ein Kopfnicken, durch einen Fingerzeig, durch einen kurzen Blickkontakt oder andere verbale oder nonverbale Kommunikation. My sexy Lady in Montreal beherrscht nichts von alledem und geht deshalb leer aus, ohne Trinkgeld. Ich hasse mich selbst dafür, aber sie noch mehr. Sie hat mir das angetan. Ich verlasse den Bungalow Bar Salon ohne Trinkgeld zu geben. Das zweite und hoffentlich letzte Mal im Leben gehe ich aus einer Bar ohne Tip.

Wir kaufen noch einiges im 24/7 Supermarket ein, füllen unsere mitgebrachten Beutel mit dem, was wir tragen können und gehen nach Hause. Ich gönne mir noch ein nie zuvor getestetes Feierabendbier aus Quebec für den Gaumen und die Butthole Surfers EP von 1983 für die Ohren. Jutta geht schlafen, während die Surfers ihre Instrumente malträtieren und Gibson Haynes ins Mikro brüllt: „The Shah sleeps in Lee Harveys grave!“ Danach wird es ruhiger mit dem zweiten Song auf der EP: „Hey!“

„Guck mal da drüben!“, sagt Jutta beim Frühstück und zeigt mit dem Finger aus ihrem Fenster. „Sieht der nicht geil aus?“ Ich recke den Hals und versuche an Jutta vorbeizuschauen, um durch ihr Fenster zu entdecken, von wem sie spricht. Dann sehe ich es, sie spricht von niemandem, sie spricht von etwas. Da steht ein Offroadcamper wie von einem anderen Stern. Wahrscheinlich von einem dunklen Planeten, von einem Bösen. Vom Dark Star? „Wow, der sieht ja echt mega cool aus!“, sage ich. Ich rutsche rüber auf Juttas Seite, um besser sehen zu können. Das Teil sieht wirklich evil aus, wie von der Rückseite des Mondes, wo die wirklich miesen Deals laufen. Leider sehen wir niemanden vor dem Fahrzeug und auch drinnen können wir kein Lebenszeichen entdecken. Fasziniert und mit gehörigem Respekt werden wir unsere Nachbarn im Auge behalten. Es sollte mich nicht wundern, wenn Darth Vader höchstpersönlich dort aussteigt oder irgendein Anhalter aus der Galaxie.

Camper einer fernen Galaxie zu Besuch in Montreal

Unser Plan für heute ist nichts Besonderes, wir wollen uns treiben lassen in den Gassen von Montreal. LEMMY kann stehen bleiben, denn es gibt eine Fähre, besser gesagt ein Shuttleboat von diesem Parkplatz auf die andere Seite des Sankt-Lorenz-Stroms. Das kostet fast nichts und dauert nur etwa 20 Minuten. Dabei sehen wir noch im Vorbeifahren das Riesenrad, die Achterbahn und andere Attraktionen der Ile Sainte-Helene, die wir schon von der Brücke auf dem Hinweg aus von oben betrachtet haben. Es steigen immer mehr Menschen zu, die Fähre hält zwischendurch, meistens sind es Leute mit Ferrari Mützen und andere sehr motorsportlich gekleidete Typen.

Vieux-Port de Montreal

Mich interessiert allerdings eher die Art und Weise, wie wir uns der Stadt nähern. Für mich ist es immer etwas ganz besonderes eine Stadt von der Seeseite aus zu entdecken, wie wir es bereits in Sydney, New York City, Hong Kong, Manaus, Vancouver, San Francisco oder anderswo erlebt haben. Montreal kann da natürlich nicht in der ersten Liga mitspielen, aber schön ist es trotzdem, die Innenstadt von Montreal über diesen mächtigen Strom zu erreichen. Sie präsentiert sich von ihrer schönsten Seite, bei perfektem Wetter. Nachdem wir die Jacques-Cartier Bridge passiert haben, steuern wir auf die belebte Gegend um Vieux Port de Montreal zu. Hier verlassen wir das Boot und folgen unserer Intuition. Ich bin vollkommen entspannt und habe keine großen Ziele, denn dies ist bereits unser zweiter Besuch in der zweisprachigen Stadt. Wir bummeln auf den Touristenpfaden, trinken Bier in einem Straßencafé, versuchen das billige Hostel zu finden, in dem wir damals übernachtet haben und genießen den Augenblick. Der Lifestyle ist Rock`n Roll und das alte Hotel Nelson ist noch an Ort und Stelle, als wollte es mir zurufen: „Hey du, ich bin hier und wenn die ganze Welt untergeht, dann bin ich immer noch da!“

Hotel Nelson – Le Vieux Montreal

Was soll ich sagen? Wir besuchen die Basilique Notre-Dame de Montreal, China Town, Centre-Ville usw.. Auf dem Hausberg waren wir damals schon und die touristische Bootstour auf dem Fluss haben wir ebenfalls bereits abgehakt, also können wir uns gegen Abend mit dem Bootsshuttle auf den Heimweg machen. Montreal ist eine interessante Stadt, besonders irgendwie, gerade weil sie zweisprachig ist, englisch und französisch. Manchmal ist sie aber auch nur französisch.

Street Life

Mit der Taschenlampe leuchten wir uns den Weg über den Parkplatz zurück. Vom Bootsanleger zu LEMMY ist es schon ein gutes Stück zu laufen, aber wir kommen heile an. Die Space Troopers aus dem anderen Camper schlafen wohl schon, alles ist stockdunkel. So ein Mist, hatten wir doch gehofft dort noch ein Lebenszeichen zu erkennen heute Nacht.

Ich habe bereits darüber berichtet, inzwischen keine Angst mehr davor zu haben, etwas zu verpassen (FOMO – Fear Of Missing Out). Deshalb steht die heutige Nacht im Fokus des Schreibens. Ich fühle mich so voller Input, dass ich einfach nur weiße Seiten entjungfern und mit schwarzer Tinte besudeln will. In Montreal beende ich das 5. Chapter des 2. Aktes von unserem Dilemma in der Geisterstadt Desert City in der Mojave Wüste, Kalifornien.

Nachtschicht beendet

Ein paar Stunden Schlaf habe ich trotzdem bekommen und weil ich mich so auf heute Abend freue, mir der Kaffeeduft in die Nase strömt und Jutta nicht gerade leise ist, stehe ich auf. Es ist der Morgen des 20. Juni 2022, fast halb zehn. Heute Abend spielt D.O.A. in Quebec City. Das letzte nennenswerte Livekonzert für das ich im Voraus Karten erworben habe, ist ewig her. Die Bands in der Horseshoe Tavern in Toronto zählen da nicht mit. Ich rede von Bands wie MANTAR, Monster Magnet oder Solstafir, wo man sich lange vor dem Konzert auf den Abend der Show freut. Wenn mir die Erinnerung keinen Streich spielt, dann waren diese Drei, unter anderem, die letzten Bands, die ich vor dem Lockdown gesehen habe.

Dumb Station

Nach einem gemütlichen Frühstück machen wir uns auf den dreieinhalbstündigen Weg ins Zentrum von Quebec City. Vorher leere ich noch den Grauwassertank an der Dumpstation, fülle Frischwasser auf und unterhalte mich solange mit einem anderen Camper vor uns, der ein wenig Englisch spricht. Seine Muttersprache ist französisch. Er mag unseren Wagen, aber mehr noch schwärmt er von seiner Heimat, von dem Bundesstaat, den wir jetzt erkunden wollen. Wir plaudern, bis der 100 Liter Tank fast überläuft und ich den Schlauch schnell raus ziehe, damit kein schlimmerer Schaden entsteht und das Staufach voller Wasser läuft. Nun sind wir gerüstet für die nächsten Tage. Ausreichend Verpflegung ist an Bord, Getränke, Diesel und Frischwasser. Ich überlege gerade, wo ich den Biervorrat einordne, unter Getränke oder Verpflegung? Geht eigentlich Beides, im Grunde auch egal.

Bye bye Montreal

Auf der 40 fahren wir am westlichen Ufer des Sankt Lorenz Stroms, nordöstlich, Richtung Quebec City. Häufig sind wir nah, bisweilen sehr nah an diesem mächtigen und beeindruckenden Fluss. Wieder sehen wir fantastische Häuser, je dichter sie sich am Wasser befinden, desto luxuriöser und prächtiger sind sie. Die Fahrt ist kurzweilig und wie 298 absolvierte Kilometer kommt uns die Distanz nun echt nicht vor, als wir die Innenstadt erreichen. Jutta lotst mich zum Parkplatz, auf dem wir auch übernachten werden. Wir stehen auf dem Stationnement Dorchester, 600 Meter Fußweg von der L’Anti Bar & Spectacles entfernt, besser geht es nicht. Da wir bis zum Konzert noch ein paar Stunden Zeit haben, genehmigen wir uns einen Mittagsschlaf, schließlich hatte ich eine lange Nacht gestern.

Es gibt noch einen Kaffee, eine heiße Dusche und ein kleines Abendessen, dann machen wir uns auf den Weg zum D.O.A. Konzert in der L’Anti Bar. Ich will auf jeden Fall rechtzeitig da sein, falls es voll wird. Um sieben Uhr ist Einlass und um Acht soll die Show beginnen. Um viertel vor sieben laufen wir los, 600 Meter schaffen wir in wenigen Minuten. Es geht auf ein Punk Konzert, drum lasse ich mir ein „Weg – Bier“, ein „Fuß – Pils“ nicht nehmen. In einer Papiertüte unkenntlich gemacht, nehme ich alle paar Meter mal einen Schluck aus der Dose. Ich rechne damit, eine längere Schlange vor der Location anzutreffen in die wir uns dann einreihen dürfen, aber weit gefehlt. „Guck mal da vorne, das ist doch die L’Anti Bar.“, sage ich zu Jutta, als wir in Sichtweite auf der gegenüberliegenden Straßenseite angekommen sind. „Kein Mensch steht da vor der Tür.“

L’anti Bar & Spectacles

Ich ahne Böses und rechne mit dem Schlimmsten. Es wird ausfallen wegen „Fuck Corona“ oder es ist abgesagt, weil der Drummer Dünnschiss hat, der Sänger zu besoffen oder der Tourbus verreckt ist. „Lass uns mal rüber gehen und schauen, ob da was an der Tür steht!“, schlage ich vor. Jutta schaut skeptisch und ebenso verwundert wie ich aus der Wäsche. Es ist kurz vor 19 Uhr und an der Tür steht nichts von einer Absage oder dergleichen. „Hey!“, sagt Jutta und zerrt mich am Arm. „Da kommt noch einer.“ Ich ändere schlagartig die Blickrichtung von der Tür auf den Bürgersteig. Jutta hat recht, der Typ sieht aus wie ein Metalhead, der will auch auf das Konzert gehen, soviel ist sicher. Mal sehen, ob er weiß, was hier los ist.

Door closed – WHY???

Mittlerweile ist es kurz nach Sieben. Der Typ geht an die Tür, versucht sie zu öffnen, nichts tut sich. Verschlossen. Das ist der richtige Moment. Ich frage ihn, ob er eine Ahnung hat, warum die Tür immer noch zu ist. Er schaut mich freundlich und lächelnd, aber fragend an. Dann sagt er etwas, von dem ich kein Wort verstehe. Er spricht nur französisch und versteht kein Wort englisch. Ich spreche nur deutsch und englisch, verstehe aber kein Wort französisch. „Na toll“, denke ich, „we are in Quebec.“ Er schaut auf die Uhr, dann telefoniert er. Wir warten was passiert. Es ist fast viertel nach Sieben und drinnen tut sich etwas. Wir vernehmen Geräusche und Lichter gehen an hinter der Glastür. „Yes!“ jubiliere ich innerlich, das Konzert findet statt heute Nacht. Die Tür wird geöffnet und ein schlaksiger Kerl mit langen Haaren bereitet den Einlass vor. Jutta präsentiert unsere Tickets auf ihrem Handy, einen Augenblick später sind wir in der L’Anti Bar & Spectacles.

Stage for D.O.A. tonight

Der Bühnenraum ist relativ klein und dunkel. Wir sind die einzigen Gäste. Als erstes gibt es ein Bier für uns. Ohne anzustehen kann ich meine Bestellung loswerden. Die Barfrau ist sehr freundlich und versteht mich ohne Probleme, obwohl laute Musik vom Band läuft. Sie antwortet auf englisch. Der Metalhead von draußen kommt auf uns zu. Er hat ebenfalls ein Bier in der Hand und stößt mit uns an, das geht auch, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Er ist deutlich jünger als wir, lächelt sympathisch und erzählt und erzählt…., bis wir irgendwann etwas heraus filtern können, von dem was er sagt (Jutta versteht auch noch einige Brocken französisch), .…. Scanner Bistro, gute Bar, Rock Musik. Er scheint sich in dieser Umgebung uns gegenüber wohler zu fühlen als draußen vor der Tür. Dort war er zurückhaltend und schüchtern, hier tritt er selbstbewusst auf und die Sprachbarriere scheint überwunden. Wir nicken und signalisieren ihm verstanden zu haben. Nach dem Konzert geht es in eine Rock Bar namens Scanner Bistro. „Why not!“, sage ich und meine es ernst.

Noch immer ist wenig los, vielleicht sind jetzt ein Dutzend Leute dazugekommen und unser neuer Freund hat mittlerweile seinen Kumpel am Tresen entdeckt und verabschiedet sich vorläufig von uns. Etwa 19:40 Uhr wird es dann doch noch deutlich voller, aber die Wartezeit an der Bar hält sich in Grenzen. Ich habe einen guten Draht zur Bedienung. Sobald ich mit ihr Blickkontakt habe, eilt sie herbei um meine Bestellung aufzunehmen. Möglicherweise liegt es aber auch daran, dass ich für jedes Bier einen Dollar Tip gebe, denn die Bierpreise sind absolut top in diesem Laden.

Und dann passiert es. Ich sehe etwas, was mich nicht nur über diesen Abend beschäftigen wird, nicht nur über die nächsten Wochen, sondern für lange Zeit, sehr lange Zeit, vielleicht für immer. Denn ich tauche ein in ein Thema, aus dem es keinen Ausweg gibt, noch bevor die Support Band zu spielen anfängt. Ich komme von der Bar mit zwei frisch gezapften Bieren zurück in unsere Ecke. Jutta hält uns dort den Platz frei. Wir stehen an der rechten Seite an der Wand vor der Bühne. Ich glaube fast meinen Augen nicht zu trauen. Ich sehe jemanden, der ein tiefschwarzes T-Shirt trägt. Darauf aufgedruckt in fetten weißen Buchstaben steht geschrieben: „OPEN YOUR MOUTH AND SAY…“, darunter abgebildet erscheint eine Monsterfratze und dann…. S N F U.

„Thanks my friend, for this intense moment together“

„Weißt du, was ich gerade gesehen habe?“, frage ich Jutta. „Nee!“, sagt sie verständlicherweise. Woher sollte sie auch. „Da hat jemand ein schwarzes S N F U T – Shirt an.“, sage ich. Jutta schaltet sofort, da sie mein T-Shirt kennt. Es ist dasselbe, nur durch die ganzen Wäschen über die vielen Jahre ist es hellgrau geworden. Sie hat mehrmals versucht es aus dem Kleiderschrank zu verbannen. „EIN SCHWARZES!“, sage ich zum zweiten Mal. Das muss brandneu sein oder aber, da ist ein Megafan, der sein T-Shirt nur zu ausgewählten Anlässen trägt. „Ich gehe da mal eben rüber, um mit ihm zu quatschen, OK?“ „Ja klar!“, sagt Jutta, „aber bleib nicht so lange, es geht bestimmt gleich los!“ „OK!“, antworte ich.

S N F U (Society’s No Fucking Use) ist eine kanadische Hardcore-Punk-Band und sie waren über viele Jahre die Helden meiner jungen und wilden Zeit. Ich fühle mich augenblicklich in die späten 80er und die frühen 90er Jahre zurückversetzt. Jutta, ein paar Kumpels und ich waren am 11.10.1992 in Hamburg, um uns ein Konzert in der Fabrik anzusehen. Leider habe ich vergessen, welche Bands an dem Abend gespielt haben, aber eins weiß ich noch, als wäre es gestern. An der Tür hing ein Plakat von den Bands die an diesem Abend auftreten werden und ein Name wurde durchgestrichen und durch vier Großbuchstaben ersetzt: „S N F U!“

Ich bin vor Freude ausgerastet, denn bis dato habe ich meine Lieblingsband noch nie live gesehen. Jutta und meinen Freunden war es etwas unangenehm, weil ich wohl durch meinen Freudentanz nicht mehr ganz ihrem Coolness Faktor entsprach. Mir war das scheißegal, denn: „S N F U spielt heute!“ An diesem Abend haben wir vier oder fünf Bands gesehen. S N F U war, glaube ich, als letzte Band auf der Bühne und der Sänger Kendall Steven Chinn sprang, hüpfte und rockte die Stage, als gäbe es kein Morgen mehr. Er war ein Sunnyboy, wie er im Buche steht, ein Surfer Typ, gut gebaut, attraktiv. Er hatte blonde Rastalocken und ganz bestimmt sind die Ladys voll auf ihn abgefahren. Ich finde mich in Gedanken wieder auf diesem Konzert 1992 in Hamburg.

L’anti Bar & Spectacles

Dann stehe ich vor dem Typen mit dem S N F U T-Shirt. Ich frage ihn, ob er bereit ist kurz mit mir zu sprechen. Er versteht mich und sagt: „Ja sicher, warum denn nicht!“ Ich komme sofort zum Thema und berichte von der S N F U Tour im Jahr 1992 und davon, dass ich mir damals eben dieses T-Shirt gekauft habe und wie es denn sein kann, dass sein Shirt immer noch schwarz ist? Er hat es am 09.09.2016 auf einem S N F U Konzert in Quebec gekauft, erzählt er mir und dann reden wir über die Verfassung von Mr. Chi Pig in den Jahren 1992, 2014 und 2016. Wir führen ein tolles Gespräch, es dauert nur ca. 10 Minuten, aber es ist intensiv. Ein Gespräch von Rock’n Roller zu Rock’n Roller.

Mr. Chi Pig lebt jetzt, zu diesem Zeitpunkt leider nicht mehr, die Drogen haben ihn umgebracht. Ich bedanke mich für das Gespräch und kehre nachdenklich zurück zu Jutta. Die Vorband spielt bereits.

„Ich hol mir noch ein Bier, willst du auch noch eins?“, frage ich Jutta. „Nee, bring mir bitte ein Wasser mit!“

Der Support von D.O.A. ist langweilig und gibt mir Zeit zum Nachdenken. Ich denke zurück an einen Abend in Hamburg im Hafenklang. Es war der 28. Juli 2014. Seit 1992 hatte ich S N F U nicht mehr gesehen und wusste auch nicht, wie es um Mr. Chi Pig bestellt ist. LEMMY gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, also bin ich mit meinem Jeep auf das Konzert gefahren. Meine Freundin Gudo, bei der ich normalerweise übernachte, wenn ich Konzerte in Hamburg besuche, hatte keine Zeit. Egal, dachte ich mir. S N F U ist in Town, da musst du hin. 22 Jahre später, nach dem legendären Auftritt in der Fabrik.

Schon die Fahrt nach Hamburg ist eigentlich immer ein Genuss, die ganzen Kräne im Hafen, die ich aus dem Auto sehe, der Elbtunnel und dann die Reeperbahn, all das treibt meine Laune normalerweise in die Höhe. Der gnadenlose Absturz lässt nicht lange auf sich warten. Ich parke beim Fischmarkt und laufe rüber zum Hafenklang, voller Vorfreude auf S N F U. Ich hatte keine Ahnung was mich erwartet, denn ich hatte mich die vergangenen Jahre nicht mehr mit dieser Band beschäftigt. Sie war aus meinem Bewusstsein verschwunden, ich wusste nicht mal, dass sie noch existiert. Umso schockierender war es dann, als ich in den Club eingetreten bin. Ich sah ein kleines Männlein, zahnlos, mit einer fast leeren Flasche Jägermeisterin der Hand. Diese Person war gezeichnet, von jahrelangem, harten Drogenkonsum. Diese Person war Mr. Chi Pig, mein Held aus den frühen 90er Jahren.

Ich hatte sechs Bier auf diesem Konzert, bin mit tränenden Augen in der Nacht nach Hause gefahren. Zum Abschied hatte ich Mr. Chi Pig noch die Hand gedrückt. Er stand nah am Ausgang, wo er schon zu Beginn des Abends mit der Jägermeisterbuddel auf seinen Auftritt wartete und habe ihm: „God bless you!“ gewünscht. Er hat sich bedankt, mir in die Augen geschaut, es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit und meine Hand gedrückt, als wollte er sich verabschieden, für immer.

Mr. Chi Pig wurde am 19.11.1962 in Edmonton, von deutsch-chinesischen Eltern geboren und starb mit 57 Jahren, an einem Donnerstag, den 16.07.2020. Schon Ende des Jahres 2019 gaben ihm die Ärzte nur noch etwa einen Monat zu leben. Er war das zweitjüngste von 12 Kindern. Schon in jungen Jahren hatte Kendall Stephen Chinn mit traumatischen Erlebnissen zu kämpfen und später wurde bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert. Was ihn allerdings fertig gemacht hat waren die Drogen. Eine Zeit seines Lebens war Mr. Chi Pig obdachlos, die er in Vancouver verbrachte, in der East Hastings Road, nahe China Town, dem Viertel der Untoten. Von diesem Viertel der Untoten habe ich ja schon ausführlich berichtet. Ich meine mich an ein Interview zu erinnern, da sagte er, dass er bei einem Restaurant immer mal ein Stück Pizza bekommen hat, wenn er hungrig war, aber kein Geld in der Tasche hatte. Am Tag nach seinem Tod veröffentlichte die Band den Song „Cement Mixer“ (For all my beautiful friends). Ich muss gestehen, ich höre ihn gerade, mit Tränen in den Augen. Das ist sein Abschiedslied für uns…

Dave Bacon, langjähriger S N F U Bassist, bestätigte auf Facebook den Tod des Freundes und Bandkollegen.

It breaks my heart to say this, but our beloved friend has left this mortal coil just a short while ago. He is now at peace. May he live on in our hearts and memories forever.“

Mr. Chi Pig hat kurz vor seinem Ableben noch eine Platte veröffentlicht, einen der erfolgreichsten Songs von S N F U (Painful Reminder) und ein Cover von Nine Inch Nails, welches auch schon Johnny Cash gecovert hat: „HURT“. Ich hatte meine letzte Begegnung mit Mr. Chi Pig am 29. Januar 2017, im Tower in Bremen.

Die Vorband ist komplett an mir vorbei gegangen. Sie haben mich allerdings auch gleich zu Beginn gelangweilt. Ich realisiere erst als Jutta mich anspricht, dass die Musik vom Band kommt und nicht mehr live von der Bühne. „Wie fandst du die denn?“, fragt Jutta. „Keine Ahnung, war nicht wirklich dabei!“ Es ist deutlich voller geworden, obwohl einige zum Rauchen nach draußen gegangen sind. D.O.A. bewegt wohl doch noch einige alte Fans vom Sofa. Ich nutze die Pause und gehe an die Bar um Nachschub zu holen, Jutta mag auch wieder ein Bier mit trinken. Der Metalhead, der nur französisch spricht, winkt zu mir rüber. Er steht ebenfalls am Tresen, vier Leute zwischen uns. Ich hebe die Hand und grüße zurück. Vielleicht sehen wir uns später noch im Scanner Bistro. In Gedanken bin ich immer noch bei Mr. Chi Pig und stelle ihn mir auf einer Wolke im Himmel vor. Ich glaube der Tod ist nicht das Ende und danach kommt noch was, etwas, was wir (noch) nicht begreifen. Ich sehe ihn dort oben am blauen Himmel, im Schneidersitz auf einer weißen Wolke sitzen, an einer fetten Opium-Pfeife saugend, er zwinkert mir grinsend zu und atmet aus. Jetzt begreife ich, die Wolke auf der er sitzt, entstammt seiner eigenen Pfeife…. und sie wächst mit jedem Atemzug.

Nun muss auch ich lächeln, die Bedienung kommt rüber und erwidert mein Lächeln, welches nicht mal ihr gegolten hat. Ich drücke ihr zwei Dollar mehr in die Hand als zwei Biere kosten und sie weiß genau was ich will. Ein Nicken meinerseits auf ihren fragenden Blick und zwei Finger reichen aus in dieser wortlosen Kommunikation.

Die trüben Gedanken abgeschüttelt, kehre ich zu Jutta zurück. In dem Augenblick wird das Licht gedimmt, die Musik aus der Konserve wird runter geregelt und die Lichter über der Bühne künden den nächsten Auftritt an. D.O.A. tritt ins Rampenlicht.

Sie liefern eine solide Show, an Spielfreude mangelt es nicht und die Leute vor der Bühne gehen gut ab. Ein wenig spiegelt der Sänger mich selber. Er ist alt geworden. Und diese Realität hasse ich, diese Erkenntnis, grausam und unausweichlich.

Nach der Zugabe stelle ich unsere Gläser auf dem Tresen ab und verabschiede mich von der netten Bedienung. Sie schenkt mir ein letztes Lächeln auf dem Weg nach draußen. Jutta und ich wollen noch auf ein Bier ins Scanner Bistro schauen, es ist direkt bei unserem Parkplatz. Wenn wir schon einen Insidertipp bekommen, dann müssen wir ihn auch nutzen. Der Parkplatz ist gut beleuchtet und LEMMY besonders, da ich ihn immer gerne in der Nähe einer Laterne abstelle, sofern wir in Städten übernachten.

Outside Scanner Bistro

Unser neuer Kumpel begrüßt uns schon, bevor wir am kleinen Tisch am Fenster Platz nehmen. Er scheint sich sehr zu freuen, weil wir seinen Rat befolgt haben. Er redet eine Weile, blickt zwischendurch zurück zu seinen Freunden, die weiter hinten im Lokal sitzen und dann wieder zu uns. Wir verstehen kein Wort, aber das ist egal. Er freut sich, weil wir hier sind, wir freuen uns ebenfalls hier zu sein. Um auch etwas zu sagen, zeige ich mit dem Finger durch die Scheibe raus zu LEMMY. Ich erkläre, wir seien Globetrotter und reisen ein Jahr um die Welt mit dem kleinen Expeditionsmobil. Er schaut mit großen Augen nach draußen, sieht LEMMY und ich glaube, er hat wenigstens ein bisschen von dem verstanden, was ich gesagt habe. Ich deute auf die Bar und signalisiere ihm etwas bestellen zu wollen. Er nickt lachend und zieht sich zu seinen Freunden zurück.

Inside Scanner Bistro

Beim süffigen Bier genießen wir die Aussicht durchs Fenster. Im Blick haben wir die Leute vorm Bistro und etwas weiter entfernt LEMMY auf dem Parkplatz. Wir schmieden Pläne für die nächsten Tage. Morgen wollen wir durch Quebec City spazieren, uns einen Eindruck verschaffen und mir kommt die Idee, „dem Blonden“ vielleicht eine Schallplatte mitzubringen. „Hier gibt es doch bestimmt einen Plattenladen!“, sage ich zu Jutta. „Würde mich wundern, wenn nicht.“, antwortet sie.

Torre, „Der Blonde“, hat im September Geburtstag und mit einer Schallplatte würde ich ihm vielleicht eine Freude machen. Er sammelt seit seiner Jugend Platten (die ist, wie bei mir, schon lange her) und hat vermutlich mehrere tausend LPs in seinem Zimmer. Jedenfalls ist eine ganze Wand von links nach rechts und vom Boden bis zur Decke voller Vinyl Scheiben, keine Ahnung wie viele Platten auf einen Meter nebeneinander passen. Und an den anderen Wänden befinden sich auch Regale mit LPs Ich schreibe unverzüglich Maddi an, ob sie einen Tipp für mich hat, was der Blonde auf seiner Wunschliste haben könnte.

Ich habe Torre mal von Sharky’s Machine erzählt, die ich live erleben durfte. Das war ein fantastisches Konzert, welches mich nachhaltig beeindruckt hat. Leider, warum auch immer, habe ich keine Platte auf dem Konzert gekauft. Nicht mal ein T-Shirt, weiß der Teufel, was mich damals geritten hat. Jedenfalls muss ich wohl häufiger äußerst begeistert von dem Konzert und der Band gesprochen haben, dass es dem Blonden im Gedächtnis haften blieb. Es sind Jahre vergangen, viele Jahre. Es waren, glaube ich, mehr als zehn, da kam der Blonde und Maddi von einem Städtetrip aus London zurück. Wir waren bei den Beiden in Wulfhoop zu Besuch, denn wir haben uns früher sehr regelmäßig getroffen. Mal bei uns, mal bei ihnen. Der Blonde verlässt den Raum und kommt mit zwei Flaschen Hemelinger zurück ins Wohnzimmer, und mit einer quadratischen Plastiktüte. „Hier für Dich!“, sagt er und drückt mir die Tüte und ein Hemelinger in die Hand. Mein Geburtstag lag noch in weiter Ferne. „Wofür is das?“, frage ich verwundert. „Einfach nur so…!“, sagt er. Ich hole etwas Flaches, Quadratisches, in Geschenkpapier Eingewickeltes aus der Tüte heraus. Wer vorher bereits einmal eine Schallplatte in der Hand hatte, ahnt jetzt was passiert. Ich reiße das Papier auf und bin sprachlos, was da zum Vorschein kommt. Es sind zwei Scheiben von Sharky’s Machine: „A Little Chin Music“ von 1986 und „Let’s Be Friends!“ von 1987. Ich kriege kaum einen Ton raus, drück den Blonden so fest ich kann und flüstere nur: „Du bist ja verrückt…!“

Jutta blickt von ihrem Handy auf und sagt: „Ich habe einen Plattenladen gefunden, ganz in der Nähe. Da gehen wir morgen als erstes vorbei!“

Mit dieser tollen Neuigkeit machen wir uns auf den Heimweg. Ich zahle an der Bar, klopfe meinem Kumpel im Vorbeigehen auf die Schulter und deute Richtung Parkplatz. Mit meinem Kopf zur Seite geneigt auf meine beiden zusammengepressten Hände signalisiere ich ihm, wir gehen schlafen. Er springt von seinem Stuhl hoch, drückt mich, als wären wir alte Freunde und verabschiedet mich auf französische Art. Sehr sympathisch, was für ein gelungener Abend.

Cheers

Jutta macht sich bettfein und da ich finde, für einen Schlummertrunk ist es nie zu spät, krame ich die Bluetooth Kopfhörer aus der Schublade und höre Sharky’s Machine – Let’s Be Friends! Cheers.

Ich schlafe relativ gut in dieser Nacht, habe irgendwie meinen Frieden gefunden mit Mr. Chi Pig auf seiner Opium-Wolke, aber eine Sache beschäftigt mich im Traum. Der Titel einer meiner Sharky’s Machine LPs: „A Little Chin Music“. Es war mir nie zuvor bewusst, aber hat das was mit Kendall (Ken) Stephen Chinn, alias Mr. Chi Pig zu tun? Gibt es eine Verbindung von S N F U zu Sharky’s Machine? Was geht da ab, auf der Rückseite des Mondes und wo ist der Space Trooper Camper, der aus dem Nichts in Montreal aufgetaucht ist ……… und dann genau so schnell verschwand?

Where are you now? Tatooine?

„Ach Scheiß drauf, ich setz mich jetzt zu Mr. Chi Pig auf seine Wolke, blicke ihm tief in die Augen und nicke in Richtung seiner Pfeife. Er versteht sofort, reicht sie rüber und zwinkert mir lächelnd zu. Ich ziehe kräftig aus voller Lunge an der verdammten Opium-Pfeife, dann gebe ich sie zurück…!“ Kommt da nicht gerade eine Wolke an uns vorbei? Sie ist etwas schneller unterwegs als wir, wahrscheinlich der Jetstream. Wer sitzt denn da auf dieser Wolke? Sind das nicht die Jungs von Sharky’s Machine? Aber ja doch, sie winken uns zu während sie überholen und weißen Dampf aus ihren Mündern pusten…

Beim Morgenkaffee erzähle ich Jutta, dass Maddi sich gemeldet hat und nicht weiß, was Torre sich für Platten wünscht, ich muss ihn schon selber fragen. „Na gut.“, denke ich. Dann frage ich ihn eben. Vielleicht finde ich in Amerika eine Scheibe, die ihn glücklich macht und die er in Europa nicht bekommt. Er meldet sich sogar kurze Zeit später. „Nee, alles gut, ich brauch aktuell nix!“ Eine halbe Stunde später ist ihm doch was eingefallen. Zwei Wünsche hat er tatsächlich und ich will alles daran setzten wenigstens eine dieser beiden Scheiben aufzutreiben. Es sind beides Platten von den Hellacopters. Ich hatte bereits 2017 das Vergnügen diese Band in Roskilde live zu sehen, auf der ehemaligen „Green Stage“, heute ist es die „Arena“. Ein großartiges Konzert. Die eine Vinylscheibe heißt: „By The Grace Of God“ von 2002 und die Andere: „Rock & Roll Is Dead“ von 2006. Ich bekomme sehr präzise Angaben und Links von diesen Sammlerstücken geschickt. Jetzt habe ich eine Hausaufgabe bekommen, der ich mich nach dem Frühstück mit Leidenschaft widmen werde.

Voller Tatendrang drängle ich bereits: „Wollen wir nicht endlich los, Quebec wartet auf uns!“ „Ja ja, bin gleich soweit!“, vernehme ich aus dem Bad. Ich schaue in der Zwischenzeit auf Google Maps, wie wir am besten laufen, erst in den Laden „Le Knock-Out“ und dann weiter ins Zentrum. „Es sind 15 Minuten Fußweg bis in den Plattenladen, 900 Meter nur. Beeil dich!“ Endlich ist Jutta soweit, ich warte bereits auf dem Parkplatz vor der Tür, habe Hummeln im Arsch. Will dem Blonden seine Platten kaufen. „Na, wollen wir los?“, fragt sie.

Auf in den Plattenladen…

Eine Viertelstunde später wühle ich mich durch Kisten von Schallplatten. Es gibt alles: Punk, Metal, Indie, Hardcore, Hardrock, Metalcore, Death & Black Metal, auch eine kleine Auswahl von Hellacopters finde ich, aber nicht das, was Torre sich wünscht. Ich frage den Verkäufer und er schaut im System. Nothing! Er hat keine dieser Platten, bekommt keine dieser Platten und weiß auch nicht, wo man eine dieser Platten bekommen kann. Er ist Profi Plattendealer und mir dämmert langsam, der Blonde hat mir eine Aufgabe gestellt, die nicht einfach zu bewältigen ist. Ich gebe noch nicht auf. In Halifax habe ich im Januar einen Plattenladen gesehen. Da schauen wir auf jeden Fall auch nach, wenn wir wieder dort sind. Allerdings will ich nicht mit leeren Händen nach Hause kommen, also stöbere ich weiter nach interessanten Stücken. Nach einer Stunde treffe ich eine Entscheidung. Ich weiß nicht, ob es eine gute oder schlechte Wahl ist, bin ratlos. Ich wähle eine Vinyl Picture Disc von Sepultura, „Revolusongs Record Store Day 2022 Picture Disc Vinyl, Edition 2022. Wir werden sehen, jeder Plattenladen zwischen Quebec City und Halifax wird ab jetzt unter die Lupe genommen.

Le Knock-Out Plattenladen

Ich lasse mir die Schallplatte einpacken und dann setzen wir unseren Spaziergang fort. Ich kann den Typen gut verstehen, der mir in Montreal an der Dumpstation von Quebec City vorgeschwärmt hat. Die Innenstadt wirkt europäisch auf mich, fast wie in Frankreich. Kinder kühlen sich ab unter einem städtischen Wasserspiel, ein Joker aus Bronze grinst mich an und alles, was eine internationale Weltstadt zu bieten haben sollte, ist vorhanden. Coole Restaurants, eine Kathedrale, der mächtige Sankt-Lorenz-Strom und ein intaktes Nachtleben ebenfalls.

That’s Life
Summertime
Maison Mère Mallet

Am 21.06.2022 starten wir nachmittags, nach einem wundervollen Stadtspaziergang, einem großen Einkauf und mit vollem Tank in Quebec City nach Nordwesten. Es geht immer entlang dieses beeindruckenden Flusses, der immer breiter wird, je weiter wir gen Norden fahren. Irgendwann mündet er dann im Nordatlantik und wird zum Ozean.

Quebec – Under The Bridge

Unsere heutige Etappe führt uns bis Les Bergeronnes zum Paradise Marine Campingplatz, direkt am Wasser. Zu fahren haben wir 244 Kilometer, das Navi zeigt uns eine Dauer von 3 Stunden und 20 Minuten an. Wir wollen mal hoffen, dass wir, wenn wir am frühen Abend ankommen, noch einen schönen Stellplatz finden. Sollte es uns dort gut gefallen, dann werden wir ein paar Tage bleiben. Sogar Wale kommen da vorbei, heißt es. Unterwegs machen wir noch kurz Rast an einem schönen Aussichtspunkt und bald darauf nehmen wir die Armand – Imbeau II Fähre über den Saguenay River nach Tadoussac. Diese Fähre kostet nichts, ist man schließlich gezwungen sie zu nehmen, mangels Alternativen. Ohne lange zu warten kann ich zusammen mit einigen Lkws, anderen Reisenden und täglichen Pendlern über die Rampe aufs Deck rollen und die kurze Überfahrt mit Sonne und Wind genießen. Jutta bleibt im Cockpit sitzen, während ich ein paar Fotos mache.

Kurze Pause
Tadoussac Fähre
Armand – Imbeau II

Kurz vor 18 Uhr kommen wir an und die Rezeption ist noch besetzt. Uns wird geheißen mit dem Wagen schon mal vor zu fahren und an einem Parkplatz, weiter unten bei den Waschhäusern, zu warten. Es kommt dann gleich jemand um uns abzuholen. Wir warten am verabredeten Ort und einige Minuten später kommt ein Quadfahrer vorbei, der sich als Inhaber des Campingplatzes vorstellt. Er will uns einige schöne Stellplätze zeigen, wir mögen ihm folgen. Als erstes zeigt er uns ein großes Plateau, wo schon einige andere Camper ihr Lager aufgeschlagen haben. Ganz in der Nähe befindet sich auch ein Café Restaurant, wo es kleine Speisen gibt und selbstverständlich Kaffee und Kuchen. Auch die sanitären Anlagen befinden sich hier und die Waschmaschinen. Wir nicken zustimmend: „Ja, das ist schon recht nett hier.“, sind aber noch nicht hundertprozentig überzeugt. Er scheint zu verstehen, was wir wollen.

This is the perfect spot, not over there!

Unser Gastgeber spricht einigermaßen gut Englisch, so dass es mit der Verständigung keine Probleme gibt. Er merkt sofort, wir möchten mehr von dem Platz sehen. „Darf es etwas mehr Privatsphäre sein?“, kommt er zur Sache. Wir bestätigen. Er wendet sein Quad, fährt ein Stück zurück und biegt in einen kleinen Weg rechts ab. Der Weg ist schmal, links und rechts davon Bäume. Am Ende stehen wir auf einer kleinen Anhöhe, umzingelt von Bäumen, die uns in alle Richtungen vor neugierigen Augen abschirmen, nur auf einen winzigen Strand und den mächtigen Sankt-Lorenz-Strom haben wir freie Sicht. Von der Klippe, an der sich unsere Feuerstelle befindet, erkenne ich das Plateau auf dem die anderen Camper stehen. „Dieser Platz ist perfekt!“ Jutta und ich sind uns sofort einig. Wir müssen uns nichts anderes mehr anschauen. Nur noch zwei Bündel Feuerholz wäre toll, teilen wir unserem Gastgeber mit. Er ist ebenso glücklich, wie wir es gerade sind. Mit so einem grandiosen Camp, mit dieser Lage am Fluss, wird er sicher häufig begeisterte Gäste haben und abends mit einem Lächeln einschlafen, könnte ich mir vorstellen. „Ich bringe euch gleich das Feuerholz vorbei, nur einen Augenblick.“

Ich parke LEMMY in der bestmöglichen Position, Tür und Fenster Richtung Wasser ausgerichtet, damit wir auch von innen keinen Wal verpassen, der hier vorbei schwimmen möchte. Das Tarp wird gespannt, Tisch und Stühle aufgebaut und ein kaltes Bier wird bereitgestellt. Dann höre ich bereits das Quad knattern, unser Feuerholz wird geliefert. Wir bestätigen mindestens drei Nächte hier verweilen zu wollen. Den Abend verbringen wir am Lagerfeuer, dankbar für diesen fantastischen Platz, für den tollen Tag und dass wir heile und gesund angekommen sind. Gesund?

Whalewatching

In der Nacht wache ich mit starken Halsschmerzen auf. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche und das Schlucken tut fürchterlich weh. Mein Bettzeug ist nassgeschwitzt und ich fühl mich echt mies. Kalt ist mir auch. Ich wende die Bettdecke, so dass die nasse Seite oben ist und die trockene Seite mich wärmen kann. Dann hole ich noch meine Hard Rock Café Wolldecke aus Bukarest aus dem Schrank, lege sie über die Bettdecke und versuche wieder einzuschlafen. Jutta ist nicht wach geworden bei dieser Aktion, ein Glück. Es reicht, wenn einer von uns eine schlaflose Nacht hat. Diese ist eine endlos lange Nacht und ich fürchte, mir was eingefangen zu haben.

Corona – Quarantänelager

„Ich bin krank!“, sage ich, als ich merke wie Jutta langsam wach wird. Meine Stimme ist leise, heißer und auch beim Sprechen schmerzt es im Hals. Bei mir läuft es immer nach dem gleichen Schema ab. Es beginnt mit Halsschmerzen und am nächsten Tag liege ich flach. Fieber habe ich dabei fast nie. Jutta fühlt meine Stirn. „Du glühst ja!“, sagt sie besorgt. „Wir messen mal deine Temperatur!“ 38,6° zeigt das Display des digitalen Fieberthermometers an. Sehr ungewöhnlich bei mir. „Ich hab die Seuche!“, sage ich, „vor dem Frühstück mache ich einen Test und essen will ich nichts, nur Kaffee bitte.“

Jutta macht sich frisch für den Tag und ich quäle mich aus dem Bett. „Mein Bettzeug müssen wir heute draußen trocknen, ist komplett nassgeschwitzt.“, teile ich ihr mit. „Ja, das mache ich gleich schon.“, vernehme ich aus dem Bad. Der Kaffee fängt an zu duften, das kann ich jedenfalls riechen. Während der Perkulator auf kleiner Flamme das Morgenelixier bereitet, beobachte ich vom Frühstückstisch aus abwechselnd den Teststreifen und den Sankt-Lorenz-Strom. Der erste Balken ist rot, wie üblich. Die Frage ist, ob sich auch der obere Balken rot verfärben wird. „Komm schnell!“, rufe ich, heiser aber bestimmt, Jutta im Bad zu. „Was ist denn, Test positiv?“ Ihr Kopf lugt fragend durch den Badvorhang. „Nee, Belugawale!“ Sie reißt den Vorhang auf und eilt zu mir ans Fenster. „Es sind mindestens drei.“, sage ich. Bin nicht ganz sicher, weil sie immer wieder abtauchen. „Oh ja, da ist einer…. und da noch einer. Wie geil!“ Jutta grinst über das ganze Gesicht und ich nehme den oberen roten Balken zur Kenntnis. Er ist knallrot, wie der untere Balken. „Und positiv bin ich nun auch!“, sage ich.

Jutta macht sich ein Müsli, ich begnüge mich mit Kaffee. Wir erörtern, was zu tun ist, das Fenster und den Sankt-Lorenz-Strom immer im Blick, um keinen Wal zu verpassen. Eigentlich müssten wir uns bei den Behörden melden und in ein Corona Hotel einweisen lassen. Wir entscheiden uns dagegen. Hier stehen wir abgelegen in einer traumhaften Kulisse, gefährden niemanden, sind ausreichend versorgt mit Getränken, Wasser, Lebensmitteln, Diesel und Feuerholz. Warum also sollten wir in ein Quarantäne Hotel gehen? Aus den geplanten drei Tagen machen wir mindestens eine Woche, bis wir uns auskuriert haben, denn vermutlich wird Jutta morgen oder spätestens übermorgen erkranken.

Notfalls bleiben wir auch noch länger, bis das Testergebnis negativ ausfällt. Wir sind hier isoliert, können den ganzen Tag lang Wale beobachten, schlafen, am Feuer sitzen und in den Tag leben. Einen geeigneteren Ort um Corona auszukurieren, kann ich mir nicht vorstellen. Somit ist es beschlossen. Wo wir uns angesteckt haben, ist vermutlich jedem klar. Beim D.O.A. – Konzert wird es passiert sein, da bin ich mir sicher. Obwohl die Inkubationszeit dann sehr kurz war, aber eigentlich spielt es auch keine Rolle. Vielleicht ist mir in Montreal oder sonst wo ein hochinfektiöser Mensch zu nah gekommen, was soll’s? That’s live!

Mir geht es drei Tage und drei Nächte echt beschissen, ich habe Schüttelfrost, friere und schwitze abwechselnd, schlafe nachts schlecht, der ganze Körper rebelliert. Aber nützt ja nix, ich kann mich jederzeit tagsüber ins Bett legen, kann Wale vom Lagerfeuer beobachten, lesen und faulenzen. Es könnte schlimmer sein. Bei Jutta gehen am zweiten Tag die Symptome los. Test positiv.

Window View

Der Verlauf ist milder bei ihr, dafür geht es nicht so schnell aufwärts. Sie möchte am liebsten nach Hause. Mir geht es nach Tag 3 kontinuierlich immer besser. Unsere erste Corona-Infektion verläuft sehr milde. Ich bin überzeugt, sie läuft schonend für uns, wegen der drei Impfungen. Fließend ändert sich das Verhältnis von der Helfenden, zu dem Helfenden. Erst hat Jutta mich gepflegt und sich um alles gekümmert, jetzt bin ich gefordert und erledige die Dinge, die gemacht werden müssen. Wenn die Arbeit getan ist und Jutta schläft, dann liebe ich es, die vorbeifahrenden Schiffe zu verfolgen. Egal, ob Tanker, Frachter oder Containerschiff. Es entspannt mich, die Langsamkeit zu beobachten, die Behutsamkeit, mit der diese Riesen unterwegs sind. Sie scheinen nie in Eile zu sein, haben alle Zeit der Welt. Im Nebel wirken sie wie Geisterschiffe. Ich möchte auch einfach dem Flow folgen, fließen mit der Strömung. „Go With The Flow“, wie es die Queens Of The Stone Age in einem Song performen. Das scheint alles so schön einfach zu sein, mit dem Strom zu schwimmen. Aber ist es das wirklich? Ich muss gestehen, ich konnte das nie richtig gut. Im Gegenteil, ich hatte meistens das Bedürfnis dagegen an zu schwimmen. Warum das so war, kann ich nicht sagen, so wie der Lachs wahrscheinlich auch nicht weiß, warum er im Sommer flussaufwärts schwimmt, in das Maul des Grizzlys.

Nachdem es uns schon viel besser geht, machen wir auch mal einen kleinen Spaziergang zum Café, erstens um ein Stück Kuchen zu essen und den Kaffee zu probieren und zweitens, um etwas die Gelenke zu schmieren und mal aus unserem Camp zu kommen, so schön es auch sein mag. Wir sehen mehrmals täglich fast alle Walarten, die sich hier tummeln. Am häufigsten sicher die markanten, hellen Beluga Wale, die auch sehr nah vor unserem Strand auftauchen. Und jede weitere Walsichtung, egal ob Finn-, Blau-, Beluga oder Buckelwal ist so bedeutend, wie die erste Sichtung. Nur den Blauwal, der hier auch vorkommen kann, haben wir noch nicht eindeutig identifizieren können. Möglich wäre es seinen Rücken gesehen zu haben, aber es könnte auch eine Verwechslung sein, uns fehlt der geschulte Blick.

Wir feiern trotzdem jeden Wal, am siebten Tag genau so, wie am ersten Tag. Ebbe und Flut sind auch zu einem besonderem, wieder und wieder aufs neue faszinierendem, Schauspiel geworden. Mal ist unser Hausstrand vor unserer Klippe frei für Kajakfahrer zugänglich, mal steht er meterhoch komplett unter Wasser und die Belugas kommen näher als üblich. Ein täglich wiederkehrendes, liebgewonnenes Spektakel. Der Sankt-Lorenz-Strom übt eine wahnsinnige Faszination auf mich aus und das liegt nicht an den Walen, es liegt vielmehr an seiner Mächtigkeit.

Manchmal bei Nebel kann ich nicht bis auf die andere Seite sehen. Schiffe, riesige Öltanker, fahren bei Nebel vorbei und ihre Ausmaße sind nur zu erahnen oder wir hören nur das Horn ertönen und sehen rein gar nichts. Der Strom führt Salzwasser aus dem Atlantik bis zu den fünf großen Seen (Lake Ontario, Lake Erie, Lake Michigan, Lake Huron und Lake Superior). Bis auf den Lake Michigan hatte ich mit allen Seen bereits Kontakt. Die Georgian Bay am Lake Huron habe ich bereits umrundet. Zweimal war ich in Killarney, einmal auf Manitoulin Island am Lake Huron. An den anderen drei Seen bin ich vorbeigefahren oder habe an ihren Ufern mein Lager aufgeschlagen oder Beides. Den süßwasserführenden Sagueney Fjord, der in den Sankt-Lorenz-Strom fließt, haben wir vor einigen Tagen mit der Fähre überquert und der ist schon beeindruckend. Dennoch verblasst er gänzlich im Schatten des übermächtigen Stroms, der Seen füllt, groß wie Meere.

Sankt-Lorenz-Strom
The perfect place
Ghostship?

Wir bestellen uns zwei Becher Kaffee und jeder sein favorisiertes Stück hausgemachten Kuchen. Damit setzen wir uns auf die Terrasse, genießen die Sonne und quatschen über die anderen Camper auf dem Plateau vor uns. Manche sind neu dazu gekommen, andere stehen schon länger. Die neuen Camper nenne ich gerne zum Spaß „Greenhorns“, Jutta mag das nicht so sehr, obwohl ich nur unter uns so spreche. Mein Kuchen ist ganz ausgezeichnet und der Kaffee schmeckt ebenfalls hervorragend. „A damn fine cup of coffee!“, könnte man sagen. Diese Gegend um Tadoussac, wo wir gerade die Seuche auskurieren, gilt als einer der weltweit besten Orte um Wale zu sichten. Ich kann dazu sagen, es gibt nicht einen einzigen Tag, an dem wir nicht mehrmals am Tag Wale sehen. Das ist allerdings noch nicht alles. Bereits im Jahr 1535 gründeten französische Händler um Jacques Cartier hier einen Handelsposten für Felle. Damit ist Tadoussac der älteste Ort Kanadas und eine der ersten Siedlungen ganz Nordamerikas.

Nach dieser netten, kleinen Abwechslung machen wir uns auf den Heimweg. Die Tage vergehen zu schnell. Wir schlafen viel, trinken literweise Tee, beobachten Wale von unserer Klippe, aus dem Auto oder von unserer Dachterrasse und fühlen uns bald wieder richtig gut. Dann sind wir endlich clean.

Whale watching from above

Bei schönem Wetter schreibe ich draußen an meinem Blog, mit Blick auf den Sankt-Lorenz-Strom. Bei schlechtem Wetter arbeite ich in der Kabine. Hier stehen wir eine ganze Woche, sieben Tage. Länger als jemals zuvor an einem Ort. Und es ist wundervoll. Wir erleben hier viel Wetter, nebelig trüb, Wind und Ungemach, aber auch viel Sonne und Hitze. Es geht uns richtig schlecht, es geht uns gut und alles was dazwischen passt. Wir gewinnen auch neue Erkenntnisse. Es ist kein Problem eine Woche an einem Platz zu verweilen, solange er schön ist oder einer von uns krank wird. Auch längere Standzeiten von 10 Tagen bis zu zwei Wochen sind unproblematisch, wenn wir vorher die Vorräte aufgefüllt haben. Vermutlich ist sogar noch mehr rauszuholen, eventuell drei Wochen?

Aber wer will das schon?

…next Chapter coming soon…

Wir sind von Corona genesen, es geht uns körperlich gut und wir wollen unsere Reise fortsetzen, aber ich merke, dass bei Jutta etwas die Luft raus ist. Sie mag nicht mehr und will nach Hause. Das ist mein schlimmster Albtraum.

….und was als nächstes geschieht….

CHAPTER VI: THE FINAL CHAPTER….

. warum uns LEMMY verreckt, wie ich Jutta wieder aufgebaut bekomme und weshalb wir zweimal nach Hause kommen…, oder dreimal…?

Chapter 28 – Vom besten Schreibtisch der Welt an der Georgian Bay, hinter die Fälle und hinauf in schwindelerregende Höhen

…und wie ich unbeabsichtigt eine ganze Kneipe zum Lachen bringe...

„Du hast noch 10 Minuten!“, sagt Jutta als ich mich im Bett auf die andere Seite drehen will. Ich nehme angenehmen Kaffeegeruch wahr und höre das Blubbern des Perkolators auf dem Herd. „Guten Morgen!“, wünsche ich und weiter: „Komme schon!“ Ich belasse es bei einer Viertelumdrehung, bleibe einen Augenblick auf dem Rücken liegen und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Dann klettere ich aus dem Bett und begebe mich ins Bad. Der Frühstückstisch ist bereits gedeckt, nur der Kaffee braucht noch seine Zeit.

Ein wundervoller Tag beginnt. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, nur wegen der verfluchten Mücken frühstücken wir im Auto.

Noch immer beschäftigt uns das Thema des Rückfluges. Frau Docke aus Bremen hat sich mittlerweile per Mail gemeldet. Ohne eine Verlängerung des Visums sieht es schlecht aus, teilt sie mit. Das Problem bei einer Verlängerung ist die Bearbeitungszeit und der Aufwand, den wir betreiben müssen. Es könnte sein, dass die Bearbeitung zum Termin des Abfluges noch nicht abgeschlossen ist, was alles zunichte machen würde. Wenn wir das Visum überziehen, sei es auch nur um zwei Tage, dann riskieren wir möglicherweise einen Eintrag im System der Einwanderungsbehörde, was wir um jeden Preis vermeiden wollen. Dies soll schließlich nicht unser letzter Besuch in Canada sein. Ich schicke meinem Freund Erdal eine Nachricht. „Ich ruf dich heute Abend an!“

Ehrlich gesagt, habe ich kaum noch Hoffnung den späteren Flug zu nehmen. Ich habe nicht mal mehr Lust in Sault Ste. Marie an der Grenze zu fragen, ob sie dort etwas für uns tun können. Immer mehr finde ich mich damit ab, zwei Tage vor dem eigentlichen Termin zurückzufliegen. Ich frage Frau Docke wann die Deadline ist, um uns festzulegen. Wir sollen uns schnellstmöglich entscheiden, rät sie. Ich verspreche: „Bis morgen haben wir eine Entscheidung getroffen, obwohl sie in meinem Kopf bereits gefallen ist. Aber erst mal sehen was Erdal heute Abend zu berichten hat.

Wir sehen uns noch die Karte der heutigen Route an. 414 Kilometer sind es bis Sault Ste. Marie, eine Fahrtzeit von ungefähr viereinhalb Stunden ohne Stopps. „Holst du uns den zweiten Kaffee?“, fragt Jutta. „Selbstverständlich!“

Wir wollen auf der „17“ des Trans Canada Hwy fahren und nicht auf der „11“, wie es uns der deutsche Trucker aus Alberta geraten hat, den wir beim Horse Thief Canyon getroffen haben. Auf der Map sieht es aus, als sei es genau die richtige Entscheidung. Ein gutes Stück fahren wir dann später dicht am Lake Superior entlang, bevor wir das Ziel erreichen.

Ich räume den Frühstückstisch ab und bereite LEMMY für die Weiterfahrt vor. Dann verlassen wir den Pukaskwa National Park in Richtung TC Hwy 17. Die „11“ ist „boring“ hat der Trucker gesagt.

Gloria`s Motel

Das erste Highlight an diesem sonnigen Tag, es ist bereits am Vormittag 23°C warm, lässt nicht lange auf sich warten. Bereits nach kurzer Fahrt sehen wir einen Lost Place am Straßenrand. Ich ziehe sofort links rüber und parke vor einem verlassenen Motel. Jetzt erst frage ich Jutta, ob wir uns das mal anschauen wollen? „Na klar!“, sagt sie. „Du stehst ja schon hier.“ Wir steigen aus und stöbern durch die verwaisten Zimmer. Fast alle Fensterscheiben sind zertrümmert, überall liegen Scherben, zerbrochene Waschbecken und sonstiger Unrat herum.

…one more lost place…, „Gloria`s Motel“

Alles Brauchbare ist längst geplündert. Die Rezeption war wohl das kleine Gebäude an der Straße, direkt gegenüber vom Lake. Beste Lage. Es gibt einige kleinere Nebengebäude, doch das dominanteste Building ist das Motel mit 20 Zimmern. Es ist doppelstöckig, zehn Zimmer unten und zehn darüber. Alles ist besprüht und verwüstet. Dem Anschein nach ist es noch nicht sehr lange verlassen. Wohlmöglich hat sich der Standort als nicht besonders lukrativ erwiesen und Gloria sind die finanziellen Mittel ausgegangen. Ich weiß es natürlich nicht und kann nur spekulieren. Die meisten Zimmer habe ich durch, Spuren von einem verrückten Killer oder Hitchhiker habe ich in keinem Raum vorgefunden. Oder etwa doch? Ist das da eine vertrocknete Blutlache an dem alten Bettgestell? War ein schreckliches Kapitalverbrechen für den Untergang von Glorias Motel verantwortlich?

…is this a crime scene…?

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, denn eine kleine Kolonne anderer Fahrzeuge rollt auf den Hof. Der Erste ist ein Camper mit einem Trailer hinten dran, dann folgen ein Van und zuletzt ein roter Pickup. Sie scheinen alle zusammen zu gehören. „CANADA MARCHES“ steht an den Seiten der Fahrzeuge und ein Name: James Topp. Hat das etwas mit der kleinen Truppe Wanderer zu tun, die wir vor kurzem an der Straße haben laufen sehen?

Protest des James Topp gegen die Corona Impfvorschriften in Canada

Jutta schaut im Wörld Wide Web nach und findet sofort die Antwort. Ein Unteroffizier der Canadian Armed Forces marschiert durch Canada, um gegen die Impfvorschriften der Regierung zu protestieren. Er ist am 20.02.2022 in Vancouver aufgebrochen und wird voraussichtlich bis Ende Juni in Ottawa friedlich einmarschieren. Heute schreiben wir den 31.05.2022. Das bedeutet, er läuft bereits seit über drei Monaten und wird noch ca. 4 weitere Wochen laufen müssen, um Canadas Hauptstadt zu erreichen. Wir waren, als James Topp zu seiner friedlichen Protestaktion aufgebrochen ist, gerade in Tallahassee, Florida, auf dem Weg nach New Orleans, Louisiana. „NOLA“, denke ich mit Begeisterung, ein Lächeln entfaltet sich in meinem Gesicht. Die drei Fahrzeuge werden James Topp sicher begleiten und ihm ein Nachtlager bieten, Verpflegung und Ersatzschuhe ebenfalls, nehme ich an. Was auch immer seine Beweggründe sein mögen gegen die Impfvorschriften zu demonstrieren, ich respektiere seine Haltung und bewundere die Leistung, Konsequenz und das eiserne Durchhaltevermögen. Ich glaube an ihn. Wenn er es bis hierher geschafft hat, dann wird er auch Ottawa erreichen.

…is wohl doch kein Tatort…

„Wollen wir weiter fahren?“, frage ich Jutta. „Ich habe genug Bilder im Kasten! By the way, ein Verbrechen konnte ich hier nicht eindeutig feststellen!“

„Was?“, entgegnet sie. Sie rollt mit den Augen und denkt sich ihren Teil. „Ach nix, ich hab nur laut gedacht.“

Wir steigen ein und grüßen im Vorbeifahren das Team von CANADA MARCHES, ein Mädchen im Van winkt zurück.

Gloria`s lost Motel

Bald beginnt der Magen zu knurren und zum Kochen haben wir keine Lust. Beim erstbesten Diner wollen wir halten, um einen kleinen Lunchbreak einzulegen. „Tanken müsste ich auch mal wieder.“, erwähne ich beiläufig. „Dann solltest du das auch bald machen!“, sagt Jutta.

An einer Gabelung leitet Jutta mich nach links, ein kurzes Stück auf der 101 nach Wawa Goose. „Da können wir bei „Youngs General Store“ ein Pause machen.“ Der Store ähnelt einem Saloon aus dem wilden Westen, hat allerdings bereits Zapfsäulen vor der bröckelnden Holzfassade. Alte Autowracks stehen rum und eine große Wildgans überragt alles. An einem Food Truck neben dem General Store bestellen wir eine Kleinigkeit zu Essen und weiter geht`s. „Wie weit kannst du noch fahren mit der Tankfüllung?“, will Jutta es nun genau wissen. „Bis Sault Ste. Marie sind es noch über 200 Kilometer und der Bordcomputer zeigt mir eine Restreichweite von 188 Kilometer an.“, antworte ich. „Ich halte an der nächsten Tankstelle, die wird es hier ja wohl überall geben.“ Ich sollte mich mal wieder täuschen….

Youngs General Store
Lunchbreak

Müde vom Lunch, aber gesättigt geht es zurück auf die „17“ des TC Hwy. Nach 20 absolvierten Kilometern wird eine Tankstelle angekündigt, sogar mit Diesel. „Siehst du, da kommt gleich was. Da fülle ich auf.“, sage ich triumphierend. Eine Minute später totale Ernüchterung. „Na das wird wohl nichts!“, stellt Jutta fest. Die Tankstelle ist eine Ruine. Der zweite Lost Place an diesem Tag. Das „WELCOME“ Schild ist blitzsauber, als wäre es erst gestern angebracht worden. Auch das Schild an der anderen überwucherten Zapfsäule mit der Aufschrift „Thank You, Come Again“, sieht aus wie neu und scheint mich zu verhöhnen. FUCK! Le CLAIRE Fuels sucks und kann mich mal am Arsch lecken! Zu allem Überfluss steht da noch ein Schild. Sinngemäß wird da eine lange Distanz OHNE Tankstellen an der Straße angekündigt. Diese Örtlichkeit war also die letzte Möglichkeit vorher noch mal aufzutanken. Ich sage: „Wir fahren zurück nach Wawa Goose!“ Jutta erspart mir ihren Kommentar und sagt nichts. Sie schaut bloß vielsagend.

Le CLAIRE Fuels….., wenn ich mal Diesel brauche…
„Leck mich am Arsch, Le Claire Fuels!“

Eine halbe Stunde später ist der Tank voll und unsere Reichweite beträgt wieder beruhigende 1000 Kilometer. „Wer hätte denn damit in Ontario rechnen können!“, denke ich mir. In Manitoba meinetwegen und in Saskatchewan auch, aber in Ontario? Scheiß drauf, weiter geht es. Ein kleines Highlight stimmt mich dann wieder etwas versöhnlicher. Ich sehe es zuerst, rechts am Straßenrand. Die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite. „Guck mal da vorne, ist das ein Elch?“ Es ist ein riesiges Exemplar, welches dort am Straßenrand grast. Unsere erste Elchsichtung überhaupt. Er hat ein beeindruckendes Geweih und schaut kurz rüber zu uns, dann widmet der Koloss sich wieder der Nahrungsaufnahme.

An den Chippewa Falls halten wir kurz an, um uns die Beine zu vertreten und erfahren, noch bevor wir den Wasserfall zu Gesicht bekommen etwas interessantes. Wir befinden uns auf halber Strecke des Trans Canada Highways.

Trans Canada Highway, exakt die Hälfte der Strecke!

Auf Vancouver Island fuhren wir los, an einem Schild, welches den Kilometer Null markiert. Den Endpunkt auf Neufundland werden wir nicht ganz erreichen, aber den größten Teil dieser endlosen Road durch die gesamte Breite Canadas befahren wir seit Tagen. Im Jahr 1949 wurde der Bau dieser Trasse vom Parlament autorisiert und am 3. September 1962 für den Durchgangsverkehr geöffnet.

Der spirituelle Vater des Highways quer durch das zweitgrößte Land der Erde ist Dr. Perry Doolittle. Er war der erste Kanadier der bereits 1925 die gesamte Breite des Landes mit dem Auto befahren hat. Mit einer Ausnahme von 800 Kilometern, wo er auf die Schiene und den Zug umsatteln musste, weil es einfach keine Straße gab. Den wenig spektakulären Wasserfall bekommen wir aber auch noch zu sehen und freuen uns über den kleinen Fußmarsch und diese neu gewonnenen Erkenntnisse.

Chippewa Falls

Wir sind auf dem Weg nach Killarney, aber eine Zwischenübernachtung müssen wir noch einlegen. In Sault Ste. Marie wird das sein, bei Flying J. Dort haben wir Internet und ich kann ein weiteres Chapter fertig schreiben und online stellen. Auf dem Weg bis in diese Grenzstadt, die Canada und die USA nur durch den Saint Marys River trennt, genießen wir weitere traumhafte Ausblicke auf den Lake Superior.

Am 31.05.2022 kommen wir an und parken bei Flying J. Es sind 28°C und ich mache mich an die Arbeit. Da fällt mir ein, ich muss Erdal noch anrufen. Der Laptop fährt hoch, während ich meinen Kumpel in Deutschland anwähle. „Hey, wie schön, dass du dich mal wieder meldest!“, vernehme ich an meinem rechten Ohr. Ich sehe Erdal im Geiste vor mir, wie er auf seiner riesigen weißen Sofalandschaft vor dem Fernseher hockt, mit dem Mobilphone in der einen und der Fernbedienung in der anderen Hand. „Hey Erdal, wie geht’s dir und Immi?“ „Alles gut bei uns, und wie läuft’s bei euch?“ Ich tippe nebenbei das Passwort in meinen Laptop, drücke die Return-Taste, damit das Teil hoch fährt und sage: „Danke mein Lieber, uns geht es super, jeder Tag beschert uns neue Eindrücke, sogar in der Prärie Albertas und in Saskatchewan.“

„Das sehen wir!“, sagt Erdal. Ich höre im Hintergrund, als Immi etwas zu ihm sagt. „Ganz liebe Grüße von Immi!“ „Danke!“, sage ich. „Drück sie von uns.“ Jutta mischt sich nonverbal ein und signalisiert mir, was ich sagen soll. „Sag mal, hast du was rausfinden können bei den Konsulaten in Deutschland?“, komme ich zur Sache. „Leider kann ich euch nichts Positives berichten. Ich habe in Frankfurt angerufen, in Dortmund und München. Sie sagen alles das Gleiche, ihr müsst den offiziellen Weg gehen und euer Visum verlängern lassen und das kann dauern…!“ Eine kleine Pause. „Und einen kurzen, unbürokratischen Weg gibt es nicht?“ „Davon haben sie mir nichts gesagt.“ Ok Erdal, hast Einen gut bei mir. Vielen Dank für deine Mühe und die ganzen Telefonate.“ Ich versuche meine Enttäuschung zu verbergen und ich glaube es gelingt mir ganz gut, weil ich mit genau diesem Ergebnis gerechnet habe. „Erzähl kein Scheiß, habe ich gerne gemacht!“ Wir plaudern kurz über unsere weiteren Pläne und dann ruft Immi noch was aus dem Hintergrund rein….“Wir vermissen euch sooo!“…., und Jutta erwidert: „Wir freuen uns auf euch!“, dann lege ich auf.

Der Laptop ist startklar und ich sage zu Jutta: „Ich schreibe Frau Docke, sie soll den zwei Tage früheren Flug für uns buchen! Ich habe keinen Bock mehr morgen an der Grenze zu fragen, ob sie da was machen können.“ „Ok.“, sagt Jutta. Sie wusste die ganze Zeit, dass es genau darauf hinaus laufen würde.

Ich fange an zu arbeiten und noch in dieser Nacht wird ein neues Chapter geboren.

Das „Rückflugproblem“ ist gelöst.

Bis Killarney sind es über 400 Kilometer zu fahren und wir werden voraussichtlich viereinhalb Stunden brauchen für diese Strecke. Noch bevor wir Sudbury erreichen kommen wir an Espanola vorbei. „Guck mal!“, sage ich, während ich mich auf den Verkehr konzentriere, „Da geht es gleich rechts ab nach Manitoulin Island. Weißt du noch, damals?“ „Na klar weiß ich das noch!“, sagt Jutta.

Roucher Rouge CP – Killarney

Damals kamen wir aus der entgegengesetzten Richtung, aus Sudbury und verbrachten einige fantastische Tage auf der Insel im Huron Lake. Wir standen mit unserem Leihcamper bei den First Nations auf einer Wiese und waren fast die einzigen Gäste. Außer uns beiden wohnte nur eine amerikanischen Opernsängerin dort, die in Frankfurt gastierte und ihren Urlaub hier verbrachte. Das Größte an der ganzen Geschichte war allerdings, dass es zu der Zeit ein Pow Wow auf der Insel gab und wir daran teilnehmen durften. Es war August. Ich erinnere mich noch, dass wir extra ein paar Tage länger geblieben sind, um an diesem Fest teilzunehmen. Danach sind wir dann mit der Fähre von South Baymouth nach Tobermory gefahren und haben damit quasi die Georgian Bay umrundet. Aber das nur am Rande. In Espanola fahre ich gerade aus und biege nicht ab nach Manitoulin Island.

Abbiegen muss ich erst in Sudbury und danach noch einmal in Paget, dann geht es die letzten knapp 70 Kilometer eine ziemlich vernachlässigte Straße straight nach Killarney. Unterwegs entdecken wir einen kleinen Bären am Straßenrand, der sich schnell ins Unterholz zurückzieht. Auf halber Strecke des letzten Abschnitts will ich noch mal eine kleine Pinkelpause einlegen und fahre kurz runter von der Straße. Es ist etwas abschüssig und geht terrassenförmig auf Grasboden noch etwas weiter runter in den Wald hinein und ich erahne einen tollen Stellplatz für eine mögliche, wenn auch nicht gewollte, Zwischenübernachtung.

„Kann ich da auch noch kurz runter fahren?“, frage ich, als ich die erste Terrasse bereits hinter mir habe. „Nein, das machst du nicht!“ Ich erkenne sofort den Unmut in Juttas Augen und erspare mir jede weitere Diskussion. Eigentlich wollte ich nur diesen möglichen Stellplatz für iOverlander checken und die Lage mit LEMMY auskundschaften, aber Jutta hat ihre komplette Offroaderfahrung anscheinend vergessen, verdrängt, abgehakt oder was weiß ich. Die einfachsten und wenig anspruchsvollen Pisten werden kategorisch abgelehnt. Ich lasse LEMMY stehen wo er ist und gehe zu Fuß runter zum Pinkeln. Den Rest der Strecke fahre ich schweigend weiter.

Unser Ziel ist der Roucher Rouge Campingplatz. Im Ort angekommen, erkennen wir noch nicht viel wieder von der damaligen Reise. Es ist auch schon eine Weile her. Wir folgen der Beschilderung und stehen schließlich vor einem etwas heruntergekommenen Haus. Ein alter Mann tritt vor die Tür und kommt auf uns zu, als er bemerkt, dass Kundschaft in der Einfahrt steht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir hier richtig sind, glaube aber schon. Jutta checkt uns ein und ich frage nach Feuerholz. Zwei Bündel sollten fürs Erste reichen. Wir sollen uns einen Platz aussuchen, der noch nicht belegt ist, sagt der alte Mann und weist uns mit der Hand den Weg über die Wiese zu den Bäumen hin.

Das abgewohnte Haus verschwindet langsam im Rückspiegel und Wald und Wiese liegt vor uns. Und dann erkenne ich die Felsen wieder, auf denen ich damals eine Menge Sudokus gelöst und einen Großteil von Frank Schätzings „Der Schwarm“ verschlungen habe. Hier sind wir richtig, jetzt weiß ich es sicher. Wir finden den perfekten Platz, mit einer grandiosen Aussicht auf Manitoulin Island, mit einem Blick über die Georgian Bay, mit einer Feuerstelle, die zum Kochen einlädt und mit den Felsen, die mir den besten Schreibtisch der Welt bescheren.

Gibt es einen besseren Ort zum Schreiben?

Jetzt bin ich wieder im Einklang mit der ganzen Welt und irgendwie auch mit Juttas Offroad-Phobie bzw. ihrer konsequenten Verweigerungshaltung. „Soll ich grünen Spargel und Nudeln am Lagerfeuer zubereiten?“, frage ich. „Das wäre schön.“, sagt Jutta. Ich richte unser Camp her und baue mir meinen Schreibtisch auf. Dann genehmigen wir uns ein Bier und genießen den Ausblick. Und der ist unbezahlbar.

Killarney, Georgian Bay/Huron Lake

Vier Tage verbringen wir hier. Wir faulenzen und ich schreibe viel. Jutta liest. Manchmal gehen wir in den Ort um einzukaufen und um etwas Abwechslung zu haben. Es gibt nur einen General Store, den erkennen wir auch sofort wieder und erinnern uns an die teuren Preise und das dürftige Sortiment. Wir befinden uns am Arsch der Welt. Aber dieser Arsch ist wohl einer der schönsten Ärsche, die man sich vorstellen kann.

Auf der Exkursion in den Ort erkenne wir auch die Wiese wieder, auf der damals das „Fish Fry Festival“, der örtlichen Feuerwehr stattgefunden hat. Sofort fällt uns die Betrunkene ein, die mit mir tanzen wollte und ständig murmelte: „I’m so off!“ Ja, das war sie auch, aber sympathisch dabei. Nüchtern waren wir natürlich auch nicht mehr, eigentlich fast niemand auf diesem kleinen Fest. Unsere Einkäufe im General Store beschränken sich auf das Nötigste. Dann gibt es noch einen neuen Zahnputzbecher von den First Nation People aus einem anderen Shop, ein Eis auf die Hand und wir spazieren zurück ins Camp.

Georgian Bay / Huro Lake, gegenüber Manitoulin Island

Was uns auffällt, es ist alles viel mehr runter gerockt als damals. Wenn ich in solchen kleinen Ferienorten am Wasser bin, dann denke ich zwangsläufig sofort an Amity Island und den weißen Hai. Killarney ist kein Ort wie aus einem Ferienprospekt. Kein Ort wie Amity Island. Dies ist ein viel verschlafenerer Ort, ein Platz, wo man sein kann wie man will. Hier braucht man sich nicht verstellen. Oder trügt der Schein? Killarney ist weit abgelegen, 70 Kilometer von der Hauptstraße entfernt, 109 Kilometer von der nächsten größeren Stadt. Es ist wenig los auf den Straßen, nur ein paar Teenies versorgen sich mit einer Flasche Wodka im Liquor Store, als wir unseren eigenen Vorrat auffüllen. Was spielt sich ab hinter den zugezogenen Fenstern in den alten, dem Verfall preisgegebenen Häusern? Lugt gerade jemand durch einen Spalt auf die Straße und beobachtet uns? Die Fremden, die hier nicht her gehören?

Campfire cooking, green asparagus & noodles and serrano ham

Schade, es ist kein Fish Fry Festival terminiert auf dem Kalender in diesem Monat. Wir verbringen die meiste Zeit auf dem Roucher Rouge CP. Ich schreibe, koche draußen am Feuer und die Zeit vergeht viel zu schnell. An einem Abend, Jutta ist schon in der Kabine wegen der Mücken, da bekomme ich Besuch. Ein Niederländer begrüßt mich in meiner Sprache. Vermutlich hat er uns schon zugehört oder das Kennzeichen von LEMMY gesehen.

„Hallo!“, sagt er, als ich noch am Schreiben bin und gerade eine kreative Pause mache. Ich drehe mich um, es ist schon relativ dunkel. Ich kann kaum sehen, wer es wagt mich bei der Arbeit zu stören. „Hallo!“, erwidere ich seinen Gruß, mit einem skeptischen Unterton. „Ich wollte nur mal Hallo sagen, bin der Nachbar von da drüben!“, sagt er und deutet einen Platz weiter. Ich fühle mich etwas überrumpelt und sage: „Ah ok, hallo!“ Dann fängt er an zu erzählen. Er war schon mal hier, kennt Leute, die hier leben und ihn, so wie ich es interpretiere, eingeladen haben.

Er spricht nicht perfekt Deutsch, es ist ein Mix aus Niederländisch, Deutsch und Englisch. Ob wir schon auf dem Campingplatz weiter in den Wäldern waren, bei den Flüssen, will er wissen. „Nein, noch nicht!“, sage ich. Das müssen wir unbedingt machen, will er mich überzeugen und ich teile ihm mit, es sei durchaus möglich, dass wir das noch machen werden. Ich biete ihm ein Bier an, aber er will wieder zurück zu seinen Gastgebern. Kopfschüttelnd wundere ich mich über diese seltsame Begegnung, hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank, so leise wie möglich und schreibe weiter. In dieser Nacht werde ich kein weiteres Mal unterbrochen.

Der beste Schreibtisch der Welt

Mit Wehmut verlasse ich den schönsten Arsch der Welt. Killarney hat etwas, was andere Orte nicht haben. Ich kann es nicht genau definieren, kann es nicht benennen. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit, was den Reiz ausmacht, vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Nostalgie? Wäre möglich. Vielleicht sehe ich Parallelen zu Twin Peaks! Habe ich Bob in den Wäldern gesehen, seine Anwesenheit gespürt? Mag sein. Letztendlich kann ich es nicht sagen, nur so viel: „Killarney ist ein magischer Ort!“

Roucher Rouche Camping Platz – Killarney

Unsere nächste Station soll der Killbear Provincial Park sein, um genau zu sein, der Granite Saddle Campground. Den hat Jutta bereits recherchiert und wenn sie was recherchiert, dann macht sie es gründlich. Obwohl es eigentlich zu nah ist, nur etwas über 200 Kilometer und damit nur zwei Stunden zu fahren, wollen wir dort übernachten.

Hier mache ich es kurz, obwohl es wirklich strange ist, was ich erleben werde. Aber dazu komme ich etwas später. Beim Check In sitzen mal mehr, mal weniger qualifizierte Leute. Dieses Mal erwartet uns eine junge Frau hinter dem Schalter, die offensichtlich den Platz nicht kennt oder die Maße unseres Fahrzeugs nicht einschätzen kann. Wir bekommen eine Nummer zugewiesen, suchen den Platz, finden ihn und stellen fest, LEMMY ist viel zu groß. Da passt allenfalls ein Kleinwagen mit Iglu-Zelt hin. Ich könnte dort parken, aber dann wäre die Fläche komplett ausgefüllt. Kein Platz für Tisch und Stühle oder sonst was. Wir fahren zurück zum Check In und bekommen einen anderen, einen besseren Stellplatz.

Glücklich über diesen erfreulichen Ausgang gehen wir an den Strand und genießen die Sonne. Die Kids sind im Wasser und schwimmen, den Erwachsenen ist es wohl zu kalt. Wir sitzen mit unseren Campingstühlen im weichen Sand und sehen zu, wie die Sonne langsam untergeht.

Killbear Provincial Park – Granite Saddle Campground

Ich will noch schreiben, weil ich in Killarney voll in den Flow gekommen bin und diesen Ort inspirierend fand. Durch die Bäume sehen wir das Wasser und den Strand hinter unserem Lagerfeuer. Ein Waschbär huscht über unseren Platz und verschwindet so schnell wie er gekommen ist im Unterholz. Mein Schreibtisch steht, ich arbeite und irgendwann blinkt etwas auf dem Boden rechts von meinem Schreibtisch. Es ist mittlerweile stockdunkel, das Feuer ist fast erloschen und mein Laptop spendet nur wenig Licht.

Ist es ein Glühwürmchen? Die schweben doch in der Luft und liegen nicht auf dem Boden. Ist es ein abgestürztes Würmchen, welches ein Hilfesignal sendet? Ich schreibe einfach weiter, aber in sehr regelmäßigen Abständen blinkt es wieder, was meine Aufmerksamkeit erregt und mich aus der Konzentration reißt.

…auch kein schlechter Platz zum Schreiben…

Ich zähle die Sekunden, bis es wieder zu blinken anfängt und meine genau zu wissen, wann es wieder soweit ist, aber der Rhythmus ist nicht immer exakt derselbe. Ich versuche das rätselhafte Etwas auszutricksen und tue so, als ob ich schreibe, doch eigentlich liege ich auf der Lauer. Es dauert nicht lange, dann habe ich das Gefühl selber ausgetrickst zu werden. Das Licht blinkt immer genau dann, wenn ich es nicht erwarte. Das Ding da ist doch nicht von dieser Welt, oder doch? Irgendwann, nach etlichen Fehlversuchen das „DING“ zu fotografieren bzw. zu filmen, gebe ich genervt auf. Es scheint so, als warte das seltsame Wesen genau den Zeitpunkt ab, wo ich das Handy beiseite lege. Ich finde nicht heraus, wer da die ganze Zeit versucht meine Aufmerksamkeit zu erregen, beende meine Schreibarbeit und gehe frustriert schlafen.

Routenplanung

Beim Frühstück erzähle ich Jutta von meinem nächtlichen Erlebnis, möglicherweise etwas Sensationelles entdecke zu haben, vielleicht sogar eine neue Gattung, ähnlich den Lampyris Noctiluca, aber sie scheint nicht wirklich daran interessiert zu sein. Wenn ich Gedanken lesen könnte, dann würde ich sagen, sie denkt: „Der schon wieder…, wie viel hat er wohl getrunken gestern Nacht?“ Sie nickt interessiert und sagt: „Ja wirklich, einen Leuchtkäfer hast du gesehen, das ist ja toll?!“ Sie trinkt einen Schluck Kaffee, schaut wieder auf ihr Handy und ich lasse es damit auf sich beruhen.

Eigentlich wollen wir heute nach Toronto fahren, aber es ist starker Regen angesagt und echt mieses Wetter in der City. Wir sitzen schon im Auto, rollen über den Trans Canada Hwy und überlegen, einen Abstecher nach Parry Sound zu machen. Das ist nur eine halbe Stunde von hier entfernt und dort werden tolle Bootstouren angeboten. „Alles klar, klingt doch gut!“, sage ich und biege bald darauf rechts ab. Ich fahre unter einer alten, wahnsinnig hohen und malerischen Eisenbahnbrücke durch und parke direkt bei „Island Queen Cruise. Der Ort hat Flair, gefällt uns auf Anhieb und schnell keimt ein Gedanke in uns auf. „Wollen wir nicht mal fragen, ob wir hier auf dem Parkplatz über Nacht stehen bleiben können und nach der Bootstour abends schön Essen gehen?“, spricht Jutta das aus, was ich gerade denke. „Das wollte ich auch gerade vorschlagen!“, antworte ich.

Im Office von Islands Queen Cruise (das Schiff liegt schon am Pier) fragen wir, ob es Ok ist mit unserem Camper auf dem Parkplatz über Nacht zu stehen und wann heute die nächste Tour stattfindet. Die junge Dame am Schalter schüttelt den Kopf, es sei noch keine Saison und die 30 000 Island Cruises finden erst in einigen Tagen statt. Aber über Nacht dürfen wir gerne stehen bleiben, es ist ja reichlich Platz vorhanden. Ratlos schauen wir uns an. „Oh, shit!“, rutscht es mir heraus. Wir bedanken uns vorerst und überlegen draußen vor der Tür, was zu tun ist. „Ohne diese 30 000 Islands Tour brauchen wir hier wegen mir nicht bleiben. Den Ort haben wir in einer Stunde erkundet, danach langweilen wir uns bloß. Abends essen gehen ist ja schön und gut, aber das war`s dann!“, sage ich. Jutta ist meiner Meinung: „Dann lass uns fahren!“

Auf dem Highway schlage ich vor, noch nicht nach Toronto, sondern erst zu den Niagarafällen zu fahren. „Vielleicht haben wir Glück und dort ist besseres Wetter. Das ist zwar etwas weiter, aber dann machen wir Toronto eben danach, bei schönerem Wetter.“ Wieder werden wir uns schnell einig, fahren durch dunkle Wolken und Regen an Toronto vorbei. In der Ferne sehen wir verschwommen die Skyline und sogar den CN Tower. In Hamilton fahre ich ein Stück auf dem Queen Elizabeth WY über den Lake Ontario und der Himmel vor uns klart auf, je näher wir den Fällen kommen. Für die erste Nacht wählen wir einen teuren KOA Campingplatz mit WLAN, Dumpstation und Waschmaschine. Nach dem Einchecken stehen wir auf einer grünen Wiese mit nur wenigen Nachbarn. Der Abend klingt gemütlich aus bei einem leckeren Essen und einem Film. Es nieselt leicht bei angenehmen 21°.

Skylon Tower

Am 08.06.2022 ist Entertainment angesagt. Die nächsten beiden Nächte wollen wir direkt bei den Fällen stehen, mitten im Epizentrum des Amüsements, auf kanadischem Boden, nahe bei den Horseshoe Falls, in Hörweite. Die amerikanischen Fälle sind etwas weniger beeindruckend als die Horseshoe Falls, aber trotzdem noch sehr beachtlich, besonders mit der Rainbow Bridge im Hintergrund, die Kanada und die USA verbindet. Allerdings will ich noch meinen Grauwassertank an der Dumpstation des teuren KOA Campingplatzes entleeren. Dabei werde ich leider von einem aufmerksamen, für meinen Geschmack etwas übereifrigen Camp-Angestellten aufgehalten. LEMMY steht perfekt über dem Ablauf, als ich gerade den Hebel des Abwassertanks öffnen möchte werde ich jäh unterbrochen.

„Hey, where is your hose?“, ruft jemand zu mir rüber. „Pardon?“, stelle ich eine Gegenfrage, weil ich nicht genau weiß, was der Typ von mir will. Er kommt etwas näher und erklärt mir, dass das, was ich da gerade mache, illegal ist. Ich schaue verwirrt und erwidere, ich möchte nur 40 Liter Grauwasser ablassen. Das sei ja alles schön und gut, aber doch wohl nicht OHNE Schlauch. Ich zeige auf mein Ablassrohr und auf das Loch direkt einige Zentimeter darunter. Ich versichere ihm, es wird nichts daneben gehen, ich kann den Strahl mit dem Hebel regulieren. Jetzt feuert er mit seinem härtesten Argument. „Sie“ (damit meint er sich und die KOA Campingplatzbetreiber) können die Konzession verlieren, wenn jemand vom Amt mein Treiben beobachten sollte. Ich schaue mich demonstrativ um, sehe weit und breit keinen Menschen, außer diesen eifrigen Mitarbeiter. Ich brenne mit meinen Augen ein Loch in seinen Schädel, torpediere ihn mit einem giftigen Blick, der da sagt: „Ernsthaft? Ist das ihr verdammter Ernst?“ und steige ins Auto, um diesen gastlichen Ort zu verlassen.

Wenig später stehen wir unter dem Skylon Tower auf einem riesigen Parkplatz. Auch andere Camper sind bereits hier, was uns immer ein gutes Gefühl gibt, ein vermeintlich Sicheres.

Die US – amerikanischen Fälle
Die kanadischen Horseshoe Falls

Ab jetzt steigt der „gute Laune“ Pegel rasant. Es ist leicht bewölkt, aber immer wieder blickt die Sonne durch. Regen ist nicht in Sicht und das Thermometer steigt über 20°. Nass werden wir trotzdem. Die Gischt von den mächtigen Horseshoe Falls weht zu uns herüber und das Dröhnen der Wassermassen wird lauter je näher wir kommen. In diesem Augenblick stehen wir zwischen den Fällen an der Promenade. Links von uns die amerikanischen, rechts, die wie ein Hufeisen geformten kanadischen Fälle. Einen Plan, was wir heute machen wollen haben wir im Augenblick noch nicht. Auf dem Skylon Tower war ich bereits einmal. Die Aussicht ist zwar schon spektakulär, aber zweimal muss nicht sein.

Auf den CN Tower in Toronto werde ich allerdings noch ein zweites Mal fahren, das lasse ich mir nicht nehmen, schließlich ist es ein modernes Weltwunder. Auf dem Weg näher an die kanadischen Fälle sehen wir von oben die „Maid of the Mist“, eines dieser großen Boote, die sehr dicht an die Fälle heran fahren, damit die solventen Passagiere in ihren blauen Ganzkörperkondomen eine ordentliche Dusche verabreicht bekommen. Auf der anderen Straßenseite blickt Nikola Tesla von seinem Sockel zu uns herüber. Dieses Multitalent war Erfinder, Physiker und Elektroingenieur. Von seinen fast 300 Patenten erhielt er 112 in den USA und es sollte mich nicht wundern, hätte er nicht auch seine Finger bei der Energiegewinnung mit Wasserkraft im Spiel.

Ein Plakat fällt uns auf, eine Attraktion, die wir noch nicht erlebt haben. „Behind The Falls“. Das wäre doch mal was Neues. Schließlich haben wir den ganzen Tag Zeit und wir sind schon nah dran.

Das Einzige, was für heute Abend gesetzt ist: eine coole Rock Bar mit guter Musik, im Idealfall Live und mit einem Pooltisch. Das „Maple Leaf Tavern“ bietet Beides, einen Billardtisch und Livemusik. Das hat aber noch ein paar Stunden Zeit.

Jetzt reihen wir uns ein in eine lange Schlange wartender Touristen. Wie schon vermutet, wollen auch eine Menge anderer Besucher die Wasserfälle von hinten sehen. Wir sind bereits mit einer langen Rolltreppe unter die Erde befördert worden, aber es wird noch weiter hinab gehen. Davor genehmigen wir uns eine Kleinigkeit zu Essen auf die Hand. Jutta wartet in Line, ich hole etwas von den in den Auslagen angepriesenen Leckereien.

Die Horseshoe Falls von hinten

Die Schlange wird immer kürzer und bald sind wir dran. Eine Gruppe nach der anderen verschwindet in einem Aufzug. Ein Instruktor holt ein knappes Dutzend Leute von vorne aus der Reihe und fährt mit ihnen in den Untergrund. Beim nächsten Mal werden wir mit zu den Auserwählten gehören. Es scheint eine endlose Zeit zu vergehen, bis der Aufzug aus der Versenkung auftaucht. Dann ist er da und die Türe öffnet sich. Er ist leer. Es wird abgezählt….3, 4, 5…, 7, 8…, jetzt Jutta und ich, dann noch jemand. Fertig! Wir bekommen gelbe Regencapes, Ganzkörperkondome. Dann geht es abwärts.

Unter der Erde, hinter den Fällen

Wir befinden uns in einem Tunnelsystem hinter den Horseshoe Falls und durch den limitierten Zugang sind nicht viele Leute mit uns unterwegs. Wir spüren die Macht und die unbeschreibliche Kraft des Wassers, welches direkt vor uns in Millionen von Litern pro Sekunde in die Tiefe stürzt. Unablässig, unaufhörlich. Es ist höllisch laut und die Gischt spritzt uns ins Gesicht. Von einem langen Tunnel aus gibt es vier Abzweigungen, drei davon in jeweils einen kleinen anderen Gang hinter den Wasserfall, der Vierte führt auf eine Art Terrasse an die Seite der mächtigen Fälle, ganz nah dran. Ich komme mir vor wie in einem Bunker. Es ist schon ein Spektakel so dicht dabei zu sein und wenn man an die Prominenz denkt, die ebenfalls hier stand, dann ist es irgendwie auch ein geschichtsträchtiger Ort. Unter anderem war Marilyn Monroe hier, Princess Diana, John F. Kennedy und Harry S. Truman.

Niagara Falls

Ein paar Verrückte gab es tatsächlich auch, die sich in einem Fass die Fälle haben runterstürzen lassen. Die erste Person war Witwe, eine Lehrerin aus Bay City, Michigan. Mrs. Annie Edson Taylor wagte 1901 den Versuch und überlebte. Warum sie diesen Ritt über die Fälle ihrer Katze antat (sie befand sich mit im Fass) ist nicht überliefert. Der zweite wagemutige Stunter war Bobby Leach, im Jahre 1911. Auch er überlebte mit vielen Verletzungen, 23 Wochen Krankenhausaufenthalt und langer Rekonvaleszenzzeit. Andere hatten weniger Glück und starben bei den waghalsigen Versuchen.

Als Schulkind wollte ich selber Stuntman werden und hege insgeheim Bewunderung für diese tollkühnen Leute. Ob ich so ein Draufgänger wäre? Ich glaube nicht, nicht mehr. Bis zu meinem 31. Lebensjahr hielt ich mich für unverwundbar. Dann hatte ich einen schlimmen Motorradunfall. Mir wurde die Vorfahrt genommen und jegliche Kontrolle war nicht mehr in meinen Händen, sondern in den des Autofahrers, der mich übersah.

Ich spürte auf die harte Tour, dass ich doch verwundbar bin. Als Kind habe ich viele verrückte Sachen gemacht, viel mehr als alle meine Freunde und immer ist es gut gegangen. 1999 zum ersten Mal nicht. Da hat sich etwas verändert in mir. Aber auch erst später, noch nicht unmittelbar am Unfallort. Ich hatte eine Karte für ein Kiss Konzert in Bremen an diesem Tag und dachte noch so bei mir, als ich da auf der Straße lag: „Fuck, heute Abend tut dir bestimmt alles weh, wenn du vor der Bühne stehst. Ob sie wohl geschminkt sein werden?“ Den Abend verbrachte ich dann allerdings auf der Intensivstation im Krankenhaus in Bassum.

Die Rainbow- oder auch Freedom Bridge hinten links

Nach so vielen Fassreitergeschichten bekommt man Hunger. Wir geben unsere Ganzkörperkondome in einer Recyclingbox ab und begeben uns zum Aufzug. „Behind The Falls“ hat sich total gelohnt, schwer begeistert fahren wir der Sonne entgegen.

Lunchtime ist angesagt. Wir lassen uns weiter treiben, jetzt mehr in der zweiten Reihe. Ein Lokal sieht sehr einladend aus. Die Terrasse ist umgeben von unzähligen Blumen, große Sonnenschirme spenden Schatten. „My Cousin Vinny`s, an Italian-American Eatery“ lädt zum Verweilen ein. Wir gehen rein und warten bis wir in Empfang genommen werden und einen Sitzplatz auf der geräumigen Terrasse auswählen dürfen. Ich mache es kurz, das Essen ist teuer und vorzüglich.

My Cousin Vinnie`s

Nach dem Lunch wird noch gebummelt, hier und dort reingeschaut und geshoppt. Dann gönnen wir uns einen ausgiebigen Mittagsschlaf, bevor wir in das Nachtprogramm starten. „Die drei Fragezeichen?“, frage ich Jutta. „Nee, Sherlock Holmes!“

Parkplatz direkt bei den Fällen

Der Abend bricht an, wir machen uns frisch und stellen beim Blick aus dem Fenster fest, alle anderen Camper sind verschwunden. Es stehen nur noch sehr wenige PKW auf dem Parkplatz. Das gefällt Jutta überhaupt nicht. Las Vegas rückt sofort in unser Bewusstsein. Ist dieser Platz auch sicher? Jutta recherchiert bereits und hat einige Augenblicke später einen anderen Platz auserkoren, nur zwei Minuten von diesem entfernt.

Ich parke um, fahre eine Rampe runter auf einen Bezahlparkplatz mit Nachtwächter. Wir stehen immer noch unter dem Skylon Tower, mit einer etwas anderen Perspektive. Und wir hören immer noch die Fälle, spüren die Gischt im Wind und fühlen uns sicher. Bezahlen müssen wir weniger als 10 Dollar. Der Nachtwächter macht einen sympathischen Eindruck und erzählt uns vom allnächtlichen Spektakel, dem Feuerwerk um 22:00 Uhr über den Fällen. Ich mache mir ein Bier auf während Jutta im Bad beschäftigt ist. Cheers. Twenty minutes later, ready to go!

Bewachter Parkplatz für die Nacht

Bis zur Maple Leaf Tavern sind es weniger als 2 Kilometer und etwa 20 Minuten zu laufen. Aufgrund der rechtwinklig angelegten Straßen ist die Orientierung kein Problem. Jetzt bekommen wir noch andere Eindrücke von Niagara. Dreckige. Abseits der Fälle, abseits des Strips, ähnlich wie in Vegas, wirkt es schnell heruntergekommen, abgefuckt. Besonders auf den Nebenstraßen. Wir fühlen uns trotzdem nicht unwohl. Vorbei geht`s an pleite gegangenen Motels, an verfallenen und verlassenen Häusern, aber auch an schicken Restaurants und schäbigen Kneipen. Dann erscheint ein Schild an einer Häuserzeile im Blickfeld. „Da ist das Maple Leaf Tavern, wenn wir Glück haben spielt heute eine Band!“, sage ich hoffnungsvoll zu Jutta.

The Maple Leaf Tavern

Auf dem Weg zur Eingangstür unter dem Schild erhasche ich einen Blick durchs Fenster. Im Bruchteil einer Sekunde nehme ich Einiges wahr. Es gibt einen Billardtisch. Der Laden ist ziemlich abgefuckt. Die Stammtrinker sitzen an der Bar, so ca. 7-9 Leute, überwiegend Typen. Hinter dem Tresen ist eine Barfrau, die ihren Job augenscheinlich nicht erst seit gestern macht. Der Bar Alltag hat seine Spuren hinterlassen. Bespannt ist der Billardtisch mit einem versifften grauen Tuch, sehr ungewöhnliche Farbe.

Endlich mal wieder Billard spielen

„Wollen wir da echt rein?“, fragt Jutta. Ich wundere mich kurz, dann denke ich: „Vielleicht hat sie auch einen Blick durchs Fenster erhascht.“ „Ja klar!“, sage ich. „Auf jeden Fall!“

Wir betreten den Laden und steuern auf die Bar zu. Die Barfrau schaut uns an. Leise Rockmusik läuft im Hintergrund. Die anderen Typen sind verstummt und schauen ebenfalls, wer da gerade den Laden betritt. „Two beer please, local!“, sage ich. Sie macht sich am Zapfhahn zu schaffen und fixiert mich mit ihrem Blick. „Can we play pool?“, will ich wissen. „Sure!“, sagt sie und zapft das zweite Bier. Randvoll. Wir nehmen unsere Drinks, gehen an den Billardtisch und fangen an zu spielen. Die Jungs an der Bar setzen ihre Unterhaltung fort, sie sprechen offensichtlich auch über uns.

Ich inspiziere den Innenraum etwas genauer und erkenne die Bühne. Das Drumset wurde seit langem nicht von Spinnweben befreit und viel Staub bedeckt die PA Boxen und anderes Equipment, wie zwei alte Mikrophon Ständer und einige gestapelte Hocker. Es scheint seit geraumer Zeit keine Band mehr aufgetreten zu sein. Offensichtlich wird die Homepage der Bar nicht wirklich instand gehalten. Vermutlich ist der Administrator erkrankt, auf der Flucht oder hat sich die Fälle runtergestürzt.

Niagara Falls, etwas abseits

„Hey Träumer!“, ruft Jutta. „Du bist dran!“ Die Bälle rollen relativ gefällig für mich, aber auch Jutta spielt sehr gut. Nach meiner zweiten Bierbestellung sind wir bereits beim dritten Spiel und jemand von der Bar ruft zu uns rüber: „Where do you come from?“

„We are from Germany!“, sage ich. Dann mache ich meinen Stoß und loche die Elf unten rechts ein. Ich habe die Halben. Die Neun verschieße ich aufs Mittelloch, obwohl es kein schwerer Ball ist. Lasse ich mich etwa ablenken? Jutta ist dran und locht ihren Ball. Die Jungs an der Bar setzen ihre Unterhaltung fort und schauen gelegentlich zu uns am Pooltisch rüber. Eine Barbesucherin hat sich mittlerweile zu ihnen gesellt, man kennt sich untereinander.

Drei Bälle hat Jutta versenkt, den Vierten verschießt sie auf eine Ecktasche. Ich analysiere kurz die Lage der Bälle auf dem Tisch und brauche nur wenige Sekunden um zu wissen, welche drei Bälle ich als nächstes Lochen will. Der Erste fällt. Der Zweite folgt und auch der Dritte bereitet keine Probleme. Ich bekomme die weiße Kugel genau dort abgelegt, wo ich sie für den nächsten Stoß brauche. Das schäbige Tischtuch hindert mich nicht am Lochen, aber jetzt muss ich mir die nächsten Schritte überlegen. Dabei kommt mir Kimble in den Sinn und für Bruchteile einer Sekunde bin ich wieder in Twin Peaks, in North Bend/Washington. Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Was war das für eine fantastische Woche dort in Twin Peaks und was für eine großartige Begegnung im Pour House Bar & Grill mit Kimble am Billardtisch. Ich wünschte, wir würden uns eines Tages wiedersehen. „Nun mach schon.“, drängelt Jutta. „Ja gut, alles klar.“, sage ich gedankenverloren. Den nächsten Ball loche ich sicher, aber die Weiße versteckt sich dicht hinter einem der feindlichen Bälle. Ich versuche einen waghalsigen Stoß über Bande, treffe meine Kugel, verfehle jedoch das Loch. Jutta ist dran.

Unsere Gläser leeren sich und das nächste Spiel geht zu Ende. Ich gehe an die Bar, um neue Drinks zu bestellen. Die Barfrau zapft local beer bis oben zum Rand und ich werde von den Stammtrinkern angesprochen. Woher aus Deutschland kommt ihr denn? Weil ich diese Frage schon sehr häufig gestellt bekommen habe, antworte ich nicht mehr mit: „We are from Bremen.“ Da ernte ich nur fragende Blicke, sondern sage: „We live close to Hamburg!“

Das kennen sie alle und sind begeistert. „Reeperbahn“ ist ein Begriff, so wie St. Pauli. Ich versuche ins Detail zu gehen und rede von Werder Bremen und dass wir ca. 30 Kilometer südlich von Bremen leben. Mittlerweile sind wir das einzige Gesprächsthema der Bar. Die beiden Deutschen abseits der Touristenpfade. Was hat die Beiden in diese Bar geführt, mögen sie sich fragen?

Niagara Falls by night

Dann interessiert jemanden, was wir beruflich machen. Wir fühlen uns etwas unwohl, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Egal, ganz nüchtern sind wir nun auch nicht mehr, reden also ungehemmt drauf los. Jutta hat sich vom Pooltisch zu mir gesellt und sagt, dass sie Lehrerin ist und ich versuche zu erklären, was ein Requisiteur macht. Ich erkläre, dass ich Backstage arbeite mit actors, dancers, mit Solisten in der Oper und einem großen Chor und einem Orchester. Sie hören interessiert zu, sogar die Barfrau hat sich auf einem Hocker hinter den Tresen gepflanzt. Einer der Stammgästen schaut auf seine Uhr und sagt, es sei bald Zehn und um diese Uhrzeit ist jeden Abend ein fantastisches Feuerwerk über den Wasserfällen! Ob wir uns das nicht anschauen wollen?“

Ich haue raus, was mir in den Sinn kommt und sage: „Fireworks sucks!“, weil ich tatsächlich eigentlich kein Freund von Feuerwerken bin und von Wasserfällen auch nicht. Nur sehr selten habe ich beeindruckende Feuerwerke gesehen. Beim Reload Festival, nachdem der Headliner Five Finger Death Punch gespielt hat, das Jahr weiß ich nicht mehr genau, da wurde ein so grandioses Feuerwerk abgefeuert, dass ich Tränen in den Augen hatte. Isa und Chris, Freunde von mir, standen damals an meiner Seite. Einige Male musste ich als Pyrotechniker an Silvester auf dem Dach des Bremer Theaters ein Feuerwerk zünden. Aber das Budget war jedes Mal so dermaßen gering, dass damit kein Preis zu gewinnen war. Es war mir sehr peinlich, so ein lächerliches Feuerwerk zu zünden, in der Gewissheit, alle Gäste unten vor dem Haus schauen gerade erwartungsvoll hoch in den Himmel, hoch zu mir aufs Dach und zählen die Sekunden bis Mitternacht. Matthias vom Ton spielte den Walzer und das Publikum aus der Operngala tanzte im Schnee…..7,6,5,4,3,2,1….Feuer!

Ich war nur froh, dass mich niemand sehen konnte. Mit 800 Euro Budget braucht man nicht erst anzufangen. Nach wenigen Minuten war das dürftige, armselige Spektakel vorbei und ein gnädiges Publikum applaudierte. Wofür bloß?

Manche von den Stammtrinkern nicken zustimmend, andere gucken etwas verdutzt aus der Wäsche. Dann füge ich noch unbedacht hinzu: „And I`m a pyrotechnican too!“

Plötzlich grölen alle und lachen sich kaputt. Die Barfrau klatscht ihre beiden Hände auf die Oberschenkel und verschluckt sich fast vor Lachen. Ich weiß im ersten Moment gar nicht was los ist. „He`s a pyrotechnican, all right!“, ruft einer der Stammgäste lachend, klopft mir dabei auf die Schulter und mir wird klar, ich habe völlig unbeabsichtigt einen coolen Witz gemacht. Das ist mir zuvor noch nie passiert, aber es fühlt sich sehr gut an. Nun gehören wir irgendwie dazu und heben noch ein paar Bier gemeinsam. Diese Nacht in der Maple Leaf Tavern bleibt unvergesslich.

Nach einer Weile reißen wir uns los, von unseren neuen Saufkumpanen. Ich will noch über die Ausgehmeile bummeln und was trinken.

Entertainment Zentrum

Über regennasse Straßen bummeln wir immer weiter hinein ins kunterbunte Zentrum des Amüsements. Das Empire State Building liegt auf dem Boden vor uns und King Kong wütet auf der Spitze des umgestürzten Wolkenkratzers. Alles spiegelt sich auf dem nassen Asphalt.

King Kong war`s!

Der Joker sitzt verloren im Knast, während ich mich frage, wo ist das verdammte Popcorn? Vorbei geht es am Riesenrad, einer Achterbahn, Draculas Castle, vorbei an Frankenstein, Ripleys believe it or not!, am Haunted House und tausend anderen Attraktionen. Ich mache ein paar nette Schnappschüsse auf der verspiegelten Straße.

The Joker

In einer Bar bestellen wir einen halben Meter Bier mit verschiedenen Sorten. So kommen wir noch in den Genuss von fünf unbekannten Bieren einer lokalen Brauerei. Dann bin ich endlich auch soweit, b(e)reit für den Heimweg.

Heimweg

Wir finden LEMMY unversehrt vor. Der Heimweg war relativ einsam und wunderschön unter dem klaren Sternenhimmel. Der Nachtwächter erkundigt sich noch, ob wir das Feuerwerk gesehen haben. „Not tonight!“, sage ich: „Maybe tomorrow….!“

„Die drei Fragezeichen?“, versuche ich mein Glück. „Nee, Sherlock Holmes!“, antwortet Jutta. Zum Einschlafen habe ich „Den Flottenvertrag“ gewählt, aus der Sherlock Holmes Reihe: „Die neuen Fälle“.

Guter und sicherer Parkplatz für die Nacht

Bis Toronto Downtown sind es noch knapp 90 Minuten zu fahren.

Wir umrunden den südwestlichen Zipfel des Ontario Lakes und befinden uns auf der Zielgeraden nach Toronto. In Höhe des CN Towers verlassen wir den Gardiner Expy auf die Harbour Street. Jutta navigiert mich zu einem ausgewählten Parkplatz, ein Tipp von iOverlander. Der Verkehr in der Stadt ist zäh und die letzten Kilometer ziehen sich länger als erwartet. Das ist mir alles scheißegal, ich bin überglücklich wieder hier zu sein. Diese Stadt zählt seit fast zwei Dekaden zu meinen absoluten Favoriten der Metropolen der Welt. Warum das so ist, versuche ich mit diesem Chapter auszudrücken.

„Gleich musst du rechts abbiegen, da kommt der Parkplatz!“, fordert Jutta mich auf. Ich nicke. Langsam rolle ich auf die Einfahrt zu, werde aber von einer Schranke und einem Parkwächter ausgebremst. Der Platz ist gerammelt voll von Trailern und großen LKWs mit langen weißen Anhängern. Ich lasse meine Fensterscheibe runter und höre was der Parkwärter zu sagen hat. „No more space available Sir, this site is reserved for a movie production!“ „Ah, ok. Thank you. Have you any idea, where we can go now?“

Er empfiehlt uns einen Parkplatz etwas weiter, derselben Straße folgend. Ich fahre, wie uns geheißen und wir haben Glück. Ich biege bei 300 Remembrance Dr Parking rechts ab und erreiche einen löcherigen Schotterplatz. Ein gigantischer Bunker steht hinter mir, vielleicht ist es auch ein riesiges Wasserreservoir. Ich weiß es nicht, aber das Gebäude ist atemberaubend. Auch hier stehen viele Trailern, wie auf dem Platz zuvor. Sobald ich stehe kommt auch schon jemand vom Filmteam, der sich als Parkwächter vorstellt und uns willkommen heißt. Er weist uns darauf hin, dass wir ein Ticket am Automaten lösen müssen, es ist aber sehr günstig. Wir unterhalten uns etwas mit ihm, denn er scheint viel Zeit zu haben. Seine einzige Aufgabe sei es, erzählt er uns, Sorge zu tragen, dass das Filmteam im abgetrennten Bereich nicht gestört wird. Hinter den Pylonen sind die Trailer der Stars, das Catering, die Dressing Rooms und die Maske. Ich frage ihn, was sie denn aktuell drehen. „Oh, this is top secret, a brand new Apple TV daily soap!“ Er darf uns den Titel nicht verraten. Allerdings plaudert er über Hollywood und dass sehr viele Motive, die eigentlich in New York spielen, in Toronto gedreht werden, weil die Produktionskosten hier viel niedriger sind. Die Location sei sehr ähnlich, so dass niemand einen Unterschied bemerke. Ich habe fast den Eindruck, er freue sich über unsere Ankunft, denn er macht keine Anstalten sich wieder seiner Arbeit zu widmen, so plaudern wir noch eine Weile, bis er sich dann doch zurückzieht.

Victory Soya Mills Silos

Ich sage zu Jutta, dass ich LEMMY noch etwas besser in Waage ausrichten will und dann eine kleine Mittagspause machen möchte. Bin schließlich noch etwas verkatert von gestern. Jutta lässt sich vom Parkwächter den Parkautomaten zeigen, hat aber Probleme ein Ticket zu ziehen. Ich rangiere etwas vor und zurück bis ich befinde, LEMMY steht perfekt. Jutta kommt ohne Parkschein vom Automaten. „Das geht nicht mit meiner Kreditkarte, da muss man mit dem Handy bezahlen“, sagt sie. Mit „Mobile Pay“ hatten wir auch schon in Liverpool Probleme wegen unserer ausländischen Handys. „Kannst du dich da bitte drum kümmern?“, frage ich. „Bin voll müde und möchte gerne noch etwas schlafen.“ Sie nickt verständnisvoll und ich lege mich ins Bett. Schlafen kann ich trotzdem nicht.

Ich höre, wie Jutta sich vor der offenen Tür unterhält. Aus dem Bett erspähe ich sie mit einem dieser Soap Stars, einer attraktiven jungen Lady mit knallroten Haaren, die wohl gerade eine Zigarettenpause macht und unser Auto interessant findet. Offensichtlich hat sie unser Parkticket mit ihrem Mobile Phone am Automaten bezahlt und Jutta hat ihr den Betrag in Bar erstattet. Sie erzählt, dass sie nur nebenberuflich als Schauspielerin arbeite, sie sei stolze Besitzerin eines Modelabels und ebenfalls eines Klamottenladens in der Stadt. Wie lange wir denn in Toronto bleiben, fragt sie und das Übliche, was alle immer so wissen möchten. Wenn wir Zeit haben, rät sie uns, dann schaut euch Harry Potter an und Hamilton. Ich kann null pennen bei dem Gequatsche da draußen, stehe wieder auf, ziehe mir was an und sage in der Tür stehend: „Hello!“ Sie lächelt mich an und erwidert: „Hello stranger!“ Zum Abschied hinterlässt sie ihre Visitenkarte. „Wie wäre es mit Kaffee?“, frage ich.

Heute machen wir nicht mehr viel. Wir sind überaus zufrieden in dieser Metropole angekommen zu sein. Einen tollen Stellplatz zu haben, mit Blick auf die Skyline, am Wasser, wo die Boote von Pioneer Cruises ablegen, auf den Ontario Lake, rüber nach Toronto Island, im Rücken einen beeindruckenden Giganten. Es sind 20° und der Himmel färbt sich in unwirkliche Töne zwischen lila, orange und rot. In den Pfützen vom letzten Schauer spiegelt sich der Regenbogen. Nebenan steht eine Schauspielertruppe. Ich fühle mich ein wenig wie auf einem Gastspiel.

No rain, no rainbow!
Camp der Filmcrew

Wir gehen spazieren. Bevor es dunkel wird kommen wir zurück, um uns was Leckeres zum Essen zuzubereiten. Wir genehmigen uns etwas Käse, Cracker, Früchte und Wein. Dazu schauen wir Black Mirror. Als Jutta ins Bett geht, mache ich noch einen Schnappschuss von der Skyline by night, fülle meinen Becher auf und suche nach einer meiner Lieblingsfolgen im Black Mirror Universum: „San Junipero“. Danach schaue ich noch „Playtest“ und „White Christmas“, dann gehe auch ich schlafen. Das Letzte was ich sehe, bevor der Schlaf mich einholt, sind die flimmernden Lichter der Großstadt….

Der heutige Tag scheint vielversprechend zu werden. Nach dem Frühstück wollen wir zur Harbour Front bummeln und nach dem Lunch auf den 553 Meter hohen CN Tower fahren. Am Abend erwartet uns ein Konzert in der Horseshoe Tavern. Drei Bands werden spielen, deren Namen mir komplett unbekannt sind, aber die Location ist großartig und die Bands werden rocken, soviel wissen wir dank YouTube. Gestärkt durch ein Vitalfrühstück und reichlich Kaffee starten wir in einen sonnigen Großstadttag.

Downtown Toronto
Toronto by night

Um mich etwas zu recken und zu strecken verlasse ich die gute Stube, trete noch mit Puschen vor die Tür und schaue, was sich von gestern auf heute so getan hat. Einige andere Camper parken in unmittelbarer Nähe, aber Overlander sind keine dabei. Im Filmcamp nebenan herrscht bereits reges Treiben. Im Catering Container ist am meisten los, alle scheinen irgendwie in Eile zu sein. Manche kommen schneller raus als sie reingegangen sind, mit nur einem Becher Kaffee in der Hand. Andere bleiben länger und wieder andere nehmen sich ein Lunchpaket mit an das Set.

Der erste Morgen in Toronto

Die, die im Dressing Room daneben verschwinden kommen nie wieder heraus, jedenfalls nicht als dieselbe Person. Wer Glück hat, trinkt seinen Kaffee entspannt bei der Maske, während das Styling von professionellen Händen routiniert vollzogen wird. Wie in einem Ameisenhaufen geht es für Außenstehende zu, aber wer genauer schaut, erkennt die Professionalität in dieser Maschinerie. Alles ist genau getaktet, jeder weiß was er zu tun hat, alle kennen den Ablauf. Der gelbe Schulbus steht bereit für den Shuttleservice vom Camp zu den jeweiligen Drehorten. Der Parkplatzwärter nickt zu mir herüber und hebt seine Hand grüßend an den Kopf, ich erwidere sein Nicken und entscheide, mich genug gedehnt zu haben.

Shuttle Service

Rein in bequeme Schuhe und auf geht`s. Bei bestem Wetter spazieren wir durch die Häuserschluchten, immer wieder erhasche ich durch die Wolkenkratzer einen Blick auf den alles überragenden CN Tower. Bis 2009 war es der höchste Fernsehturm der Erde. Soweit ich weiß hat ihn der Skytree in Tokyo mit 634 Metern als Rekordhalter abgelöst.

Auf dem Weg gibt es ein köstliches Eis auf die Hand und vorbei geht`s an kleinen und größeren Ausflugsbooten, die allesamt nach Toronto Island zu dem beliebten Vergnügungspark pendeln. Wer eine längere Anreise hat, kann dort sogar auf einem kleinen Flugplatz landen.

CN Tower

Das Rogers Center kommt ins Blickfeld. Heim der Toronto Blue Jays Baseball Major League. Das Dach dieses 49 286 Fans fassenden Stadions ist verschließbar und entsprechend bei passendem Wetter auch zu öffnen. Ich meine mal gelesen zu haben, dass es in etwa 20 Minuten dauert und ca. 25 000 $ Stromkosten verursacht, bis die Sonne ins Allerheiligste strahlen kann.

Rogers Centre

Nebenan steht er, der mächtige CN Tower und schaut man nach oben bekommt man schnell einen Krampf im Nacken und muss aufpassen nicht nach hinten überzukippen, ob dieses überwältigenden Bauwerks. Es ist eines der sieben architektonischen Weltwunder der Neuzeit. Eine lange Schlange steht vor dem Eingang und ein Ticketcounter befindet sich auf dem Vorplatz, wer hätte es gedacht, auch mit einer Schlange davor. Wir nehmen all das zur Kenntnis und kurz darauf folgt Juttas eindringlicher Blick in meine Richtung. Ich lese ihre Gedanken und antworte laut und deutlich: „Jaaa, ich will da hoch!“ Sie seufzt, weil ihr klar ist, zu diskutieren bringt hier eh nichts. Ich verleihe meinem Begehr trotzdem noch mehr Gewicht, indem ich sage: „Wer weiß, wann wir das nächste Mal in Toronto sind, außerdem war ich diesmal weder bei den Niagarafällen, noch in Calgary oder in Vancouver auf einem Tower, nicht mal auf der Space Needle in Seattle.“

CN Tower

Ripleys Aquarium of Canada befindet sich ebenfalls direkt hier zu Füßen des Towers. Eine Installation, ein riesiger Wasserhahn ragt aus der Wand und spuckt eine Flut an Plastikprodukten aus, die unten zu einem kleinen See aus Plastikmüll werden. Was uns der Künstler hiermit sage will bedarf wohl keiner Erklärung.

No comment

Wir kaufen uns zwei Tickets für beide Plattformen des CN Towers, bekommen einen Timeslot zugewiesen und haben dadurch noch Zeit für eine ausgiebige Lunchpause.

Schon auf dem Weg hierher haben wir die großen Dampfloks und den alten Rangierbahnhof gesehen, heute der Roundhouse Park mit dem Railway Museum. Was mich aber viel mehr interessiert, „The Rec Room“, eine Brauerei mit einladender Terrasse und vielen schattenspendenden Sonnenschirmen und einer verlockenden Speisekarte. Wie üblich stehen wir wieder in einer Reihe von Leuten, die alle Durst oder Hunger haben, vielleicht auch Beides. Fast alle Plätze sind belegt, ein Indiz für eine exzellente Küche. „Please wait to be seated!“ steht auf einer Tafel am Eingang. Das ist so üblich auf dem ganzen nordamerikanischem Kontinent. „In or out?“, fragt die Waitress, als wir an der Reihe sind. „Out, please!“ Wir bekommen einen Platz im Schatten auf einer langen Bierbank zugewiesen und können uns gegenüber sitzen. Beim Essen entscheide ich mich schnell, heikler ist die Beer-Frage. Es gibt so viele Sorten und welche Größe soll ich nehmen. Der Kellner kommt und ich handle intuitiv. Jutta wählt einen Pint Witbeer, ich nehme das große Honey Brown Lager, einen ganzen Liter. Meine Wahl rechtfertige ich mit dem besseren Preis gegenüber der halben Menge. Es kostet nicht das Doppelte, nur ca. ein Drittel mehr. Cheers!

Railway Museum im Roundhouse Park
Lunchtime – Cheers

Nach dem Zahlen machen wir uns im Restroom des „The Rec Rooms“ etwas frisch, bestaunen die Größe des Innenbereichs und stöbern kurz im Merch Shop. Dann bummeln wir rüber in die nächste Schlange. Seit 9/11 im Jahr 2001 hat sich die ganze Welt verändert, da macht der CN Tower keine Ausnahme. Wir werden durchleuchtet, wie an einem großen internationalen Flughafen. Dann müssen wir unsere kleinen Stoffbeutel, die wir auf dem Rücken tragen zum Security Check abgeben.

Jetzt passiert etwas sehr ungewöhnliches, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. Ich habe einen grauen Beutel von irgendeinem Hard Rock Café dabei. Darin ist eine halbvolle Wasserflasche, meine Sonnenbrille im Etui und sonst nichts. Mein Beutel ist offensichtlich ohne Beanstandung durchgegangen, ich erhalte ihn zurück. Jetzt nimmt der Officer sich Juttas Beutel vor. Er wühlt darin herum, holt auch mal was heraus und packt es nach Begutachtung zurück. Dann stutzt er. Ich überlege, woran er sich gestört haben könnte. Am Desinfektionsfläschchen für die Hände? Am leichten Pullover? Mag er die Farbe etwa nicht? Er schaut ernst zu Jutta und sagt: „We have a problem!“

Jutta schaut ihn irritiert an, ich schaue Jutta irritiert an. „Was ist denn los?“, frage ich. „Weiß ich auch nicht!“, sagt Jutta. Dann zum Officer gewandt: “What`s the problem, Sir?“ Er deutet auf das Bild der Mona Lisa. Den Beutel hat Jutta vor vielen Jahren von unserem Freund Marco geschenkt bekommen. Jetzt ist er leider nicht mehr mein Freund. Nicht wegen dem Vorfall hier am CN Tower, sondern weil er mir die Freundschaft gekündigt hat. Es hat was mit Corona zu tun, damit, dass ich mich habe impfen lassen und mit anderen unterschiedlichen Ideologien und Weltanschauungen. Ich bedauere es sehr, ihn als Freund verloren zu haben, kann es aber nicht ändern. Das nur am Rande. Er hat ihr den Beutel auf dem Reload Festival gekauft, als auch Five Finger Death Punch gespielt haben und es dieses grandiose Feuerwerk gab. Das Motiv auf besagtem Beutel ist die Mona Lisa mit einem schwarzen Balken auf den Augen, darauf in weißen Großbuchstaben: TRUST NO BITCH. Und genau dieser kurze Satz ist sein Problem.

„Serious???“, frage ich ihn. „Er antwortet so sinngemäß, hier sind viele Familien unterwegs, die haben kleine Kinder dabei. Die könnte das Wort „Bitch“ verstören. Er greift zum Telefonhörer. Werden wir jetzt verhaftet? Er ruft seinen Vorgesetzten an. Jutta ist dabei ihren Beutel auszupacken und schlägt vor ihn auf einfach links zu drehen. Der Officer hat das Telefonat beendet und gibt klein bei. „No problem, Madame, this is no longer necessary!“ Jetzt ist Jutta trotzig und zieht die Nummer durch. Mit auf links gedrehtem Beutel und einer blassen Mona Lisa, deren Schriftzug man nur noch im Spiegel lesen kann, marschieren wir weiter.

Aussicht vom CN Tower

Die Aussicht von der ersten Plattform entschädigt bereits für alle Unannehmlichkeiten und die lange Wartezeit. Über den Preis hier hinauf reden wir besser gar nicht erst. Alles unter uns ist so winzig. Nur der Ontario Lake nicht, er reicht weiter als das Auge zu sehen vermag. Steil abwärts sehe ich das verschließbare Dach des Rogers Center und vor uns den Roundhouse Park mit dem „The Rec Room“. Wir gehen einmal um die ganze Plattform herum und staunen über diesen spektakulären Blick in alle Himmelrichtungen. „Guck mal, da hinten muss LEMMY stehen, irgendwo hinter den Hochhäusern.“, deute ich mit dem Finger in seine Richtung. Wir sehen Torontos Hauptbahnhof, die Insel gegenüber mit dem Flughafen und dem Vergnügungspark. Auf einigen Wolkenkratzern sind Hubschrauberlandeplätze, auf anderen Swimmingpools. Mit unserem Zusatzticket dürfen wir noch weiter nach oben fahren auf die höchste, kleinere Plattform. Hier oben gibt es den berühmten Glasboden, den Jutta allerdings nicht betreten mag. Mir macht das nichts aus. Im Gegenteil. Die Autos auf dem unter mir liegendem Gardiner Expressway sind so winzig, wie die Miniaturen im Hamburger Wunderland.

Toronto von oben

Das „John Street Roundhouse“, ein 1897 erbauter Ringlokomotivschuppen gibt dem Park seinen Namen und die tatsächliche Größe ist erst von hier oben in kompletter Dimension zu erkennen. Wahrscheinlich sieht man den Schuppen auch vom Mond noch. Wir drehen unsere Runde und dann geht es im Außenfahrstuhl blitzschnell abwärts. In 48 Sekunden bis zur Erde. Das war ein tolles Erlebnis, auch beim zweiten Mal. Don`t miss!

Rogers Centre

Jetzt bummeln wir weiter, mit einem Kaffee in der einen und einem Donut in der anderen Hand. Danke Tim Hortons! Den Distillery District haben wir bereits hinter uns, Old Toronto liegt vor uns und den Fashion District streifen wir am Rande. Wir sind auf dem Weg zur Horseshoe Tavern in der Queen Street W. zu einem Livekonzert. Unterwegs kommen wir unter anderem durch Down Town mit dem Toronto Sign, sehen die Old City Hall, die Art Gallery of Ontario, St. Andrew`s Church und St. Michael`s Cathedral Basilica. Es ist faszinierend, wie wunderschön die alte und die moderne Architektur nebeneinander harmoniert. Da hat sich jemand Gedanken gemacht das Alte zu erhalten und das Neue zu integrieren. Der Plan ist vollends aufgegangen. Zwischendurch reflektiert der CN Tower die Sonnenstrahlen durch die Häuserzeilen zu uns herüber, als will er sagen: „Ich bin hier, seht mich an!“

Street Scene Toronto
Queen Street West

Bei einem Blick auf die Uhr, es ist bereits später Nachmittag, beschließen wir Kensington Market und Little Italy auf Morgen zu verschieben. Vor einer Weile sind wir an einer Bar vorbei spaziert, mit einer mit bunter Kreide beschrifteten Klapptafel vor der Tür. „PINT O`CLOCK“ stand da geschrieben. Nur 6 $ für ausgewählte Biere, Cocktails und Weine zwischen 16:00 und 18:00 Uhr. Das hat gewisse Gehirnregionen bei mir aktiviert und nun verlangt es mich nach einem kühlen Blonden, gut gezapft. „Auf zur Horseshoe Tavern.“

Cheers

Ich erkenne sie schon von Weitem, 370 Queen Street W, Toronto, Ontario. Draußen auf dem Bürgersteig sind noch ein paar Tische frei und die Sonne scheint. „Setz dich schon mal hin, ich geh eben an die Bar und hole uns was zu trinken.“, sage ich zu Jutta. Der Tresen auf der linken Seite ist etliche Meter lang und nur wenige Leute sind an der Bar, auf der rechten Seite ist mehr los. An der Wand sind alle Tische besetzt. In der Mitte geht es in den hinteren Bereich der Taverne, in den Konzertsaal. Ich bestelle beim Barmann zwei Pints Beer und begebe mich zu Jutta auf die Terrasse, um vorbeikommende Leute zu beobachten. Wir stoßen an, prosten uns zu und genießen die Sonne.

Horseshoe Tavern

Das Schöne an den kanadischen Metropolen ist die Lockerheit der Leute. Alle wirken so entspannt. Egal, ob es der Businessmann im schicken Anzug ist, den Aktenkoffer lässig baumelnd in der Hand, das Mobilphone am Ohr, die Punkerin mit den pinken Haaren und dem roten Lederminirock oder eine alte Dame mit Gehstock und ihren drei Einkaufstüten. Zwei Backpacker, ein junges Pärchen mit riesigen Rucksäcken auf dem Rücken kommen vorbei, entweder auf der Suche nach einer billigen Unterkunft oder sind sie auf der Abreise? Ein paar Meter weiter stehen vier Polizisten nett plaudernd zusammen. Es ist ein Schwarzer, zwei Weiße und der vierte im Bunde ist ein Inder. Der trägt allerdings statt einer Polizeimütze einen Turban auf dem Kopf. Alles harmoniert miteinander, alles ist im Flow. Jutta und ich nehmen einen großen Schluck, stoßen erneut an und lassen den Tag Revue passieren. Cheers!

Allgegenwärtig – Der CN Tower

Ein zweites Bier gönnen wir uns noch auf der Terrasse, schauen zu wer den Laden betritt, kommentieren hin und wieder Style und Auftreten mancher Konzertbesucher und sehen auch einige Musiker mit ihren Instrumenten ankommen. Wie die drei Bands heißen, vergesse ich immer. Eine halbe Stunde nachdem ich auf der Homepage geschaut habe ist es wieder weg, gelöscht aus meinem Gedächtnis. Es sind wohl eher Lokalmatadoren, von denen wir bisher nichts vernommen haben. Wir gehen rein.

Horseshoe Tavern

Am langen Tresen bestelle ich zwei weitere Biere ohne warten zu müssen. Es ist erstaunlich wenig los. Vor der überwiegend in rot gehaltenen Bühne stehen nur wenige Gäste. Ich kürze hier etwas ab. Die erste Band rockt ganz gut und das Publikum geht voll mit. An den Drums sitzt eine junge Lady die ziemlich reinhaut und ihre Spielfreude steckt an. Die zweite Band, zwei Jungs und eine Keyboarderin, ist nicht schlecht, aber der Funke springt, bei uns zumindest, nicht über. Also bleiben wir etwas weiter hinten sitzen. Einigen Anderen gefällt es und sie tanzen. Die dritte Band ist skurril und ziemlich extravagant. Es sind drei Jungs, einer an den Drums, der Normalo, die beiden anderen an Gitarre und Bass. Sie tragen lange Bärte, haben lange Haare und dunkle Hüte auf dem Kopf. Mit ihren dunklen Jeansanzügen sehen sie ein wenig wie aus der Zeit geraten aus. Das Outfit mag ZZ Top inspiriert sein, die Musik ist es nicht. Sie singen beide und das in einer Tonlage, die nur Axl Rose übertrifft. Es ist wohl so eine Art experimenteller Blues. Hin und wieder lächeln sie, allerdings wirkt es inszeniert, damit man ihre glänzenden Platinschneidezähne aufblitzen sieht. Vier oder fünf Songs bleiben wir noch und sind dann schnell gelangweilt von dem was die Drei da oben veranstalten. Der Top Act des heutigen Abends enttäuscht am Meisten. Nur ein extravagantes Aussehen und Blinkezähne reichen mir nicht. Ich will Rock`n`Roll! Thema verfehlt, bye bye.

Bühne der Horseshoe Tavern

Statt ein Taxi zu nehmen, wollen wir lieber durch die Nacht spazieren. So weit ist es ja nicht und diesmal machen wir keine Umwege. Ich liebe Großstädte und bei Nacht sind sie irgendwie noch friedlicher und ruhiger. Na ja, nicht alle Metropolen sind nachts ruhiger, wenn ich da an New York denke, Bangkok oder Tokyo. Aber Toronto ist da anders. Entspannt schlendern wir zu unserem Parkplatz zurück und genießen den lauen Wind in den Schluchten der Wolkenkratzer. Wir kommen am Iron Building vorbei, am beleuchteten TORONTO Sign und entdecken hier und da neue Perspektiven. Unwohl fühlen wir uns zu keinem Zeitpunkt.

Nice car in Kensington
Toronto Sign by night
Nice car Down Town

Nach einer knappen Stunde sehe ich schon die gigantischen Victory Soya Mills Silos auf unserem Parkplatz, die ich irrtümlich für einen Bunker gehalten hatte. Die Filmcrew schläft wohl schon zum größten Teil, das Lager ist nur dürftig beleuchtet und die meisten Trailer haben die Jalousien runtergezogen. Nur vereinzelnd scheint noch etwas Licht durch einen offenen Spalt im Fenster. Wir ziehen uns ebenfalls zurück, aber ich will noch etwas aufbleiben und ein Bier trinken nach diesem erlebnisreichen Tag. Jutta macht sich gerade im Bad bettfertig, da vernehmen wir ein Geschrei und Gerumpel vom Ende des Parkplatzes.

Down Town by night

Wir sehen aus dem Fenster und entdecken jemanden an einem großen Müllberg, etwas abseits des Filmcrew Camps. Ein Typ mit zerlumpter Kleidung scheint den Müllhaufen umzuorganisieren. Er wirft Sachen durch die Gegend, räumt Dinge von A nach B und brüllt laut, als sei er stinksauer. Wir wissen nicht genau, was los ist, aber wohlmöglich hat er dort sein Lager aufgeschlagen und ist unzufrieden mit der Situation. Vielleicht ist er obdachlos und lebt dort oder er hat das Lager anders vorgefunden, als er es verlassen hat. Möglicherweise ist er auch psychisch krank und es gibt keine vernünftige Erklärung für sein Handeln. Jutta legt sich ins Bett und versucht zu schlafen, ich mache mir eine Dose Pabst auf, nehme meine Kopfhörer und lausche Marilyn Manson – Running To The Edge Of The World.

„Wie lange hat der Typ da hinten in der Nacht denn noch herumgetobt?“, frage ich beim Frühstück. „Och, keine Ahnung, bin relativ schnell eingeschlafen.“, sagt Jutta. „Na das ist ja gut, ich habe ihn mit Musik übertönt. Hoffentlich konnte er auch wieder zur Ruhe kommen. Als ich ins Bett gekommen bin, war er jedenfalls still.“

„Wollen wir gleich nach dem zweiten Kaffee schon umparken?“, fragt Jutta. Umparken? Ja, heute werden wir den Stellplatz wechseln. Jutta hat Tickets für eine Theatervorstellung gekauft. Harry Potter and the cursed child im Ed Mirvish Theatre. Da können wir für wenig Geld in Downtown auf einem öffentlichen 24/7 Parkplatz stehen, nur einen Block vom Theater entfernt. Besser geht es nicht. Von dort sind wir schnell in China Town und Kensington Market, können die Innenstadt erkunden und wenn wir wollen auch Little Italy. Am Abend ist es nur einen Katzensprung bis ins Theater und zurück zum Auto ebenso. „Von mir aus gerne, dann fangen wir mit Kensington Market an, China Town liegt eh auf dem Weg.“, antworte ich. Abgemacht.

Street Art

Wir packen zusammen, ich gleiche LEMMYS Luftfedern wieder auf ein straßentaugliches Niveau an und ohne die Schauspielerin von vor ein paar Tagen wiederzusehen oder den Schreier von letzter Nacht, verlassen wir diesen schon ein bisschen lieb gewonnenen Stellplatz. Vom redseligen Parkwächter auf seinem Hocker verabschieden wir uns im Vorbeifahren selbstverständlich noch.

Durch die Victoria Street fahre ich direkt am Theater vorbei, biege kurz links ab in die Shuter Street und dann sehen wir schon die Einfahrt zum Public Parking Lot. Da wollen wir hin. Die Schranke wird geöffnet und ich suche mir einen Platz. Nee, der ist nicht gut, probieren wir einen Anderen. Einer der beiden Jungs aus dem Kassenhäuschen hat allerdings andere Pläne mit uns. Wir sagen ihm, dass wir gerne über Nacht bleiben wollen und morgen am späten Vormittag die Stadt verlassen werden. Er überlegt kurz und weist uns einen anderen Slot zu. Da könnt ihr gut stehen und erschreckt nicht, wenn ihr morgen zugestellt werdet, das regeln wir dann schon. Morgens ist es immer sehr busy hier und alle suchen einen Parkplatz in der Innenstadt. Ich kann mir ein kleines, innerliches Lächeln nicht verkneifen, wenn ich an all die denke, die einen großen Truck fahren. Sie kommen niemals in den Genuss mitten in der Stadt zu parken.

Jetzt stehen wir perfekt und machen uns im Bad fertig. Der Tag kann kommen….

Zähne sind geputzt, Haare gekämmt und bequeme Schuhe warten darauf einige Kilometer zu absolvieren und die Sohlen glühen zu lassen. Schon auf dem Parkplatz geht es mit einem geilen Graffiti los und das Nächste lässt nicht lange auf sich warten. Es werden noch viele weitere folgen, Streetart wird in Toronto groß geschrieben.

Liquor Store in China Town

Die Orientierung ist kinderleicht. Ein Blick auf die Map im Handy reicht meist aus, um weit voran zu kommen. Wir gehen noch einmal am Ed Mirvish Theatre vorbei, um dann am Yonge-Dundas Square nach links abzubiegen Richtung China Town und Kensington Market. Aber was ist denn hier los? Auf dem Trinity Square, in der Innenstadt, umgeben von hohen Häusern ist eine große Menschenmenge versammelt. Eine große Bühne ist aufgebaut und an mehreren Hochhäusern prangen riesige Screens mit Regenwaldmotiven aus unterschiedlichen Teilen der Erde. Es sind bewegte Bilder und dazu ertönt ein Vogelgezwitscher und Urwaldgeräusche aus riesigen P.A. Boxen, die den Straßenlärm übertrumpfen. Das ist eine gewaltige Installation, eine Umweltkampagne wie es scheint. Die Bühne ist im Augenblick leer, aber vermutlich wird im Laufe des Tages und abends einiges an Programm dargeboten. Wir nehmen uns vor, auf dem Rückweg wieder hier vorbei zu schauen, bevor es ins Theater geht.

Kensington

Da das Frühstück schon eine Weile hinter uns liegt, denken wir über eine Lunchpause nach. An der Grenze zu China Town sehen wir einen einladenden Pub, wo wir überdacht sitzen und offen auf die Straße schauen können. Es wird auch schon Bier getrunken, was mir den Laden noch sympathischer macht. Ich bestelle mir ein Pint und Fish & Chips, Jutta einen vegetarischen Burger. Bevor wir den Pub verlassen, will ich mich noch kurz erleichtern. Als ich den Restroom betrete, muss ich tatsächlich lauthals lachen. Über den Pissoirs hängen gerahmte Bilder mit attraktiven Damen, die mit weit aufgerissenen Mündern erstaunt nach unten blicken, als würden sie etwas Unglaubliches sehen. Mit einem breiten Grinsen trete ich an unseren Tisch, während Jutta gerade die Rechnung begleicht und sage: „Das musst du sehen!“

Village Idiot Pub
Ohne Worte

Beim anschließenden Spaziergang durch China Town kommen bei mir Bilder hoch aus Vancouver. Aus dem District der Untoten, der Fentanyl Zombies. Aber hier scheint es dieses Problem nicht zu geben. Ich bin ganz glücklich darüber und schiebe die düsteren Gedanken beiseite, darin bin ich ganz gut, wie ihr bereits wisst. Konzentrieren wir uns lieber auf die großartigen Graffiti, die es an jeder Ecke zu bestaunen gibt und auf die Exotik des fernen Ostens. Wie schnell es doch manchmal geht, gerade eben noch ist die Stimmung exzellent und im nächsten Augenblick droht sie zu kippen.

Einige Blocks weiter ändert sich das Stadtbild abrupt. Wir sind in Kensington Market. Dieses multikulturelle Viertel sprüht nur so vor Lebenslust. Es erinnert mich ein wenig an mein Viertel in Bremen, an das Steintorviertel, wo ich arbeite.

Hier, in Toronto, leben viele alternative Leute, Punker, Freigeister, Künstler und Träumer. Viele alte viktorianische Häuser prägen Kensington und seit 2006 ist es eine „National Historic Site Of Canada“. Wir lassen uns treiben und erfreuen uns an den bunten, leider oft abgerockten Villen, an der Musik, die aus manchem Fenster dröhnt und an den Leuten in den Biergärten, die sich angeregt unterhalten und Fremde mit offenen Armen empfangen. Wir gesellen uns dazu und trinken Bier in irgendeinem Vorgarten. Wahrscheinlich werden hier auch viele Existenzen gescheitert sein, das ist dem Viertel anzusehen. Und der Hauch des Versagens weht durch manche dieser Straßen. Viele werden gekommen sein, um zu feiern, andere haben sich mit Fleiß und Ehrgeiz ein kleines Business aufgebaut und können davon leben. Reich scheint hier niemand zu sein. Es ist ein Viertel für sich, anders als ich es sonst kenne. Hier lungern keine Drogendealer aus Nigeria oder einem anderen afrikanischen Land an jeder Ecke rum, wie es im Steintorviertel in Bremen der Fall ist oder wie ich es aus Jakarta kenne, aus Vientiane in Laos oder aus Sao Paulo in Brasilien. Kensington ist ein Mikrokosmos in einer großen Stadt, ein etwas abgefucktes Viertel, genauso wie ich es mag. Die Menschen hier trinken vielleicht mal einen über den Durst, dröhnen sich eventuell auch mal zu, aber im Grunde wollen sie nur eins: Weltfrieden und ungestört feiern.

Kensington Market
Bunt & Hip

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Fuck, es wird höchste Zeit sich auf den Rückweg zu machen.“ Es reicht gerade noch, um sich ein wenig aufzufrischen. Das Nickerchen vor der Vorstellung können wir vergessen. Es ist Sonntag und Harry Potter beginnt um 18 Uhr. Wir haben jetzt keine Zeit mehr für den Trinity Square, das muss warten bis nach der Vorstellung. Little Italy können wir ebenso abhaken.

Pub in Kensington

Zuhause machen wir uns ein wenig frisch und dann geht es sofort weiter. Zum Glück müssen wir nur um den Block und schon sind wir im Mirvish Theatre. Die Eintrittskarten hat Jutta auf dem Handy. Stolze 120 $ hat sie pro Ticket bezahlt. Ich bin nicht so scharf auf die Veranstaltung, habe weder die Bücher gelesen, noch die Filme gesehen. Nur einen habe ich ihr zuliebe mal mitgeschaut. Harry Potter und der Stein der Weisen, glaube ich. War nicht schlecht, aber mein Ding ist das nicht. Ich hasse auch die Hörbücher, die Jutta gerne zum einschlafen hört. Mich nervt die Stimme von Rufus Beck, der alle Rollen selber spricht.

Und heute ist auch noch Familiensonntag. Überall wuseln kleine Potters und Hermines rum. Na egal, in ein paar Stunden ist das ausgestanden. Tatsächlich dauert der Abend über drei Stunden. Es ist auch kein Musical, wie ich es erwartet habe, sondern ein Schauspiel. Für mich ist es ziemlich anstrengend, da ich die Geschichte nicht kenne, sie mich nicht im Geringsten interessiert und Harry Potter nur englisch spricht.

China Town
Toronto – China Town

Ich denke zurück an unseren letzten Besuch in Toronto, als wir Lord Of The Rings in einem anderen Theater der Stadt gesehen haben. Das war toll. Ich kenne die Tolkien Bücher auswendig, liebe die drei Filme von Peter Jackson und es wurde als Musical aufgeführt. Ich konzentriere mich also mehr auf die Bühne und die Tricks, die uns vorgeführt werden. Jutta hat Spaß und ich lasse mir mein Missfallen nicht anmerken. Sie soll doch einen tollen Abend haben. Technisch ist das schon extrem aufwendig gemacht. So etwas können wir in einem Stadttheater nicht leisten, nicht wenn wir jeden Abend eine andere Vorstellung spielen. Diese Bühne wurde konzipiert für Harry Potter und hier spielt auch nur Harry Potter. Jeden Abend, manchmal zweimal hintereinander. In einer Kampf-Szene fliegen die Darsteller nur so durch die Luft (ähnlich wie in Matrix oder Kill Bill) und das sieht echt spektakulär aus, aber mein geschulter Blick enttarnt die Illusion.

In einer aufwendigen Choreografie agieren helfende Hände von komplett schwarz gekleideten Personen, die im dunklen Hintergrund und im perfekt beleuchteten Szenenbild kaum zu erkennen sind. Sie wirbeln die Akteure durch die Gegend und die Illusion entsteht, als können sie fliegen, sich in Zeitlupe bewegen oder in der Luft stehen. Diese technischen Tricks und das ganze Drumherum entschädigt mich für manche Dialoge, die ich nicht komplett verstehe. Alles in allem haben wir einen schönen Theaterabend. Jutta verlässt voll begeistert den ausverkauften Saal und ich freue mich, dass es ihr so gut gefallen hat. Jetzt wollen wir aber auch noch zum Yonge-Dundas Square, einen Block weiter.

Wieder auf der Straße vor dem Theater hören wir Livemusik.

…was geschieht hier..?

Ich weiß genau, wo das herkommt. Leider packt die Band gerade zusammen, als wir den Platz erreichen. Ist aber halb so wild, denn die riesigen Screens, wie aus einem Science Fiction Film à la Blade Runner, nehmen uns sofort gefangen. Es werden unterschiedliche Szenarien dargestellt, untermalt von einem beunruhigenden, aber passenden Sound. Der Platz ist sehr belebt und viele Leute wirken betroffen. Heute Mittag haben wir den Regenwald gesehen mit lautem Vogelgezwitscher und den Geräuschen des Dschungels.

Jetzt sehen wir Vulkanausbrüche, Slums und überbevölkerte Städte. Wir sehen gigantische Baumaschinen, die die Natur ausbeuten, sehen wie die Wälder abgeholzt werden und Überschwemmungen. Die Wälder brennen und das Wasser der Flüsse ist rot. Vulkanasche überzieht die Erde. Heiße Lava fließt die Berge hinab ins Meer. Die Videos auf den Monitoren gehen ineinander über, als wären diese fünf gigantischen Screens miteinander verbunden und als hätten wir einen Rundumblick darauf, obwohl sie in allen vier Himmelsrichtungen hängen. Ich deute das als böses Omen, als Botschaft. Egal wohin wir unseren Blick auch wenden, wir sehen überall den Untergang. Das Unausweichliche? Das ist meine Interpretation von dem, was ich hier wahrnehme.

Weil ich Jutta nicht den Abend verderben will, reden wir über etwas anderes und machen uns auf den Heimweg.

…wörld`s end….?

Eine Sache ist mir den ganzen Abend schon eigenartig vorgekommen, es wird nicht so richtig dunkel in dieser Nacht. Ich spreche Jutta darauf an. „Das ist mir auch schon aufgefallen!“, sagt sie.

Last night in Toronto

In dieser Nacht schlafe ich schlecht, wälze mich hin und her. Daran ändert auch die Nähe zur St. Michael`s Cathedral nichts. Am nächsten Morgen wache ich auf, wie gerädert. Jutta sagt: „Guck mal raus, wir sind komplett zugeparkt! Wie sollen wir hier so aus der Stadt kommen?“

….und was als nächstes geschieht….

Chapter V: Montreal, Quebec und der unglaubliche St. Lorenz Strom….,

.und wie uns Corona doch noch erwischt und was D.O.A. damit zu tun hat…

The following Chapter is dedicated to Mr. Chi Pig – R.I.P. (16.07.2020)

Chaptre 27 – Auf dem 7821 Kilometer langen Trans Canada Hwy, von West nach Ost

…und wie ich mit einem bekannten Neurologen über einen besseren Rausch mit Tilidin Tropfen philosophiere…

„Wie weit ist es noch bis Kelowna?“, frage ich Jutta als wir durch Penticton fahren. „Nur noch eine knappe Stunde!“, sagt sie. „Ab jetzt fahren wir fast die ganze Zeit entlang des Okanagan Lakes, da erwarten uns unterwegs tolle Ausblicke!“

„Hat sich Omi Hans oder Mary Summer schon gemeldet?“, will ich wissen. „Nee, kürzlich noch nicht, ich schreibe Beiden heute Abend eine Nachricht. Dann können wir langsam mal über einen Treffpunkt nachdenken.“

„Das mach auf jeden Fall, wir kommen uns immer näher und hinter Calgary sollte sich zeitnah irgendwo ein Treffen ergeben.“ Mary und Peter treffen wir vor Hans und Christina, oder?“ Jutta bestätigt: „Ja, sie sind ihnen ungefähr zwei oder drei Tagesetappen voraus.“

Wir sind auf dem Weg nach Calgary. Ich habe in der Wüste von Osoyoos mein „NOLA“ New Orleans (New Bordeaux/Lincoln Clay) Chapter abschließen können. Mr. Lincoln Clay hat sich wieder verabschiedet und mir das Steuer überlassen.

Bis Calgary ist es weit und wir wollen keine neun Stunden am Stück fahren, deshalb haben wir Revelstoke für eine Zwischenübernachtung ausgewählt. In Kelowna wollen wir Vorräte auffüllen und danach auf den Mt. Revelstoke fahren. Eine Straße mit einer Menge Steilkehren windet sich auf den Berg und es sollen fantastische Viewpoints an dieser Panoramastrecke liegen. Aber so weit sind wir noch nicht. Glücklicherweise können wir jetzt die Strecke über Kelowna, Revelstoke und Golden fahren. Auf dem Weg zum Haynes Point vor ein paar Tagen war die Route gesperrt und nun wissen wir auch warum. Die Lawinengefahr war zu groß und es sind einige Lawinen abgegangen, die manche Pässe blockiert haben. Jetzt ist die Strecke wieder freigegeben und wir nutzen die Gelegenheit. In Kelowna angekommen finde ich nur mit Mühe einen Parkplatz. Es ist gerade ein Volksfest im Gange und um das Einkaufszentrum tummeln sich eine Menge Leute, die ihre Kinder in die Karussells setzen, während die Erwachsenen eher zu den Fressbuden strömen.

Wir kommen aus der einzigen kanadischen Wüste und nach wundervollem T-Shirt Wetter in den letzten vier Tagen sind nun wieder dicke Pullover angesagt. Für einen Bummel über den Rummelplatz ist es uns zu kalt, obwohl ich Lust auf eine dieser Fressbuden habe. Wir belassen es bei einem großzügigen Einkauf. Bis wir unsere Tagesetappe erreichen sind es auch noch 2,5 Stunden zu fahren, ohne den Abstecher zum Mt. Revelstoke wohlgemerkt.

Im Supermarkt bekommen wir alles was wir brauchen und noch ein bisschen mehr. Nachdem die Einkäufe verstaut sind geht es weiter, hoch in die Rocky Mountains. Noch vor wenigen Tagen sind wir dem Schnee entflohen und haben uns eine kurze Sommerpause gegönnt, jetzt geht es zurück in die Berge, zurück in den Schnee, in die Kälte.

„Du musst gleich links abbiegen!“, sagt Jutta als wir den Columbia River überquert haben. „Dann schlängelt sich eine schmale 27 Kilometer lange geteerte Straße den Berg hinauf.“ Ich biege ab und der Fahrspaß beginnt. Nach wenigen Minuten ist ein Gate auf dem Weg und im kleinen Häuschen sitzt eine nette Dame, die uns ein paar Dollar abverlangt, mit dem Hinweis, dass wir nur die halbe Strecke befahren können, da der höhere Streckenabschnitt noch gesperrt ist. Wie ärgerlich, aber nicht zu ändern. Wir zahlen und fahren bis zur Absperrung, genießen den Blick, der sich uns hier bietet und sind einigermaßen zufrieden.

Ausblick vom Mt. Revelstoke

Der Campingplatz in Revelstoke am Williamson Lake gefällt uns nicht so gut, was vermutlich auch daran liegen mag, dass wir aus der Wüste kommen, aus dem Sommer, vom grandiosen Haynes Point in Osoyoos und jetzt ist es kalt, regnerisch und ungemütlich. Und wo zum Teufel steckt Lincoln Clay?

Außer Kochen und Netflix schauen sind alle anderen Aktivitäten für heute gestrichen. Wir drehen die Heizung auf 23° und machen es uns gemütlich. Vor dem „Zubettgehen gehen“, gibt es nur noch eins zu erledigen, Jutta will Omi Hans und Mary Summer anschreiben.

„Du, Jutta und Jürgen sind rüber nach Canada!“, sagte Christina zu Hans, als sie mitbekommen hat, dass wir unser kleines Expeditionsmobil verschifft haben. Christina hat unsere bisherige Reise verfolgt und ihr Mann Hans ebenfalls. „Wollen wir das nicht auch machen?“ Der Gedanke war geboren und pflanzte sich in beiden Köpfen fort.

Wir kennen die Beiden von einem „Oman-Camper“ Treffen, so wie LEMMY ursprünglich hieß. Warum auch immer, aber der Hersteller nennt diese Fahrzeugreihe OMAN, wie das Land. Wir haben ihn umgetauft in LEMMY von Motörhead, in eine Rocklegende. Jetzt ist es ein Auto mit Seele, aber ich schweife ab. Wir waren bisher auf zwei „Oman“ Treffen. Eines war im Odenwald, kurz nachdem wir unseren Camper vom Hersteller abgeholt hatten (März 2019) und das andere Treffen war im Sauerland, etwa ein Jahr später. Auf dem ersten Treffen lernten wir Mary Summer und ihren Mann Peter kennen und auf dem 2. Omi Hans und Christina. Irgendwann lernten sich auch Hans & Christina und Mary & Peter kennen. Was soll ich sagen? Beide Teams haben beschlossen es uns nachzutun und ihre Fahrzeuge in Hamburg auf ein Schiff nach Halifax verladen zu lassen. Sie sind relativ zeitgleich gestartet. Sie haben sich bereits in Halifax getroffen und einige Tage gemeinsam verbracht. Nun sind sie unterwegs auf dem langen Trans Canada HWY von Ost nach West und fahren uns entgegen.

Jutta schreibt Hans und Mary an, mit denen die Konversation überwiegend läuft und teilt unsere weiteren Reisepläne mit. Morgen am 21.05.2022 werden wir Calgary erreichen und dort für 2 oder 3 Tage bleiben. Wir kommen uns immer näher.

Die heutige Etappe fasse ich nur kurz zusammen, sie ist beeindruckend, dauert etwa viereinhalb Stunden, ist aber weniger spektakulär als der IFPW. Wir kommen durch den Revelstoke N. P., vorbei an den Canyon Hot Springs, über den Rogers Pass, durch den Glacier N. P. of Canada nach Golden. Wir befinden uns die ganze Zeit schon auf dem Trans Canada Hwy und sehen sehr viel Schnee links und rechts und auch die Pässe, an denen Lawinen abgegangen sind. Die Schneemassen wurden bereits geräumt. Die Schneisen sind noch deutlich zu erkennen, wo der Schnee vom Berg abging und auf der anderen Straßenseite weiter seine Spur der Verwüstung zog. Wir passieren Gipfel mit Namen wie Mt. Klotz, Wolverin Peak, Mt. Sir Donald und Mt. Hennessey. Dann sind wir bald in Golden und wenig später auf der uns bekannten Route zum Lake Louise. Alle kurzen Trails, die sich als Verschnaufpause am Wegesrand angeboten hätten, sind gesperrt. Einen Kaffee bereiten wir uns trotzdem noch in dieser wahnsinnigen Kulisse, denn in weniger als zwei Stunden werden wir die Rockies nur noch im Rückspiegel sehen. Und bis wir zurückkehren werden vermutlich Jahre vergehen…

Zwischen Lake Louise und Banff kommen wir zügiger voran und freuen uns erneut über die vielen Brücken, gebaut ausschließlich für den Wildwechsel. Hinter Canmore und Dead Man`s Flats geht es immer weiter abwärts, die hohen Berge bleiben zurück und die weite Ebene rückt näher in unser Blickfeld. Calgary, wir kommen!

Calgary

Die Strecke wird gerader. Links und rechts vom Highway sehen wir überwiegend gelbes, flaches, abgeerntetes Land. Die Ausläufer der Rocky Mountains in meinem LKW- Rückspiegel werden immer kleiner, bis sie fast vollständig verschwinden. Wir haben es fast geschafft bis zum Ziel, dem Eagle Creek Casino. Damals standen wir mit einem Leihcamper auf dem teuren stadtnahen KOA Campingplatz. Heute werden wir schöner stehen und völlig kostenlos, auf einer Wiese neben dem Casino. Wir verlassen den Trans Canada Hwy und fahren durch die Vorstadt von Calgary und sind wenig später am Ziel. Ich parke auf der Wiese, wo schon einige andere Camper stehen und Jutta meldet uns im Casino an. So ist es erwünscht, damit wir hier kostenfrei übernachten dürfen. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Sie wollen wissen, wer auf ihrem Grund und Boden stehen möchte und wie lange man bleibt. Als Jutta zurück ist, genießen wir den Sonnenuntergang mit einem eiskalten Pabst Blue Ribbon und freuen uns auf morgen, wo wir Calgary besuchen werden. Und ich freue mich auf das „Broken City. Yes!

Stellplatz beim Eagle Creek Casino

Ich stöbere noch im Internet nach Konzerten und werde fündig. Im „The Ship & Anchor“ spielen lokale Metalbands und im Broken City ist jeden Sonntag Karaoke Night. Morgen ist Sonntag, also können wir beruhigt schlafen gehen, der kommende Abend in der Stadt ist gerettet. „Cheers!“

Der Sonntag kommt und beginnt mit einem sehr entspannten Frühstück. Wir diskutieren beim zweiten Kaffee, wann wir aufbrechen wollen, um welche Uhrzeit wir uns auf den Weg in die City machen werden. Es gibt eine Bushaltestelle in der Nähe des Casinos, direkt auf der anderen Straßenseite, hat Jutta gestern Nacht rausgefunden, während ich nach Nightlife Spots geschaut habe. „Mir reicht es am späten Nachmittag!“, sagt Jutta mit ihrem mit Avocado belegten Knäckebrot in der Hand. Ich schlürfe an meinem Kaffee, schaue rüber zu ihr und überlege. Noch vor einigen Jahren hätte ich mit ziemlicher Sicherheit geantwortet: „Das ist doch viel zu spät, dann haben wir nicht genug Zeit, wie sollen wir das alles schaffen?“ und so weiter. Stattdessen sage ich: „Alles klar, meinetwegen.“

Durch die vielen Reisen und Erlebnisse bin ich ruhiger geworden und wenn ich früher immer Angst hatte etwas zu verpassen, dann sehe ich das heute entspannter. Mittlerweile gibt es einen Begriff dafür: The Fear Of Missing Out (FOMO), was genau DAS bedeutet. Die Angst etwas nicht zu erleben, etwas zu verpassen. Noch kann ich mich nicht gänzlich davon frei machen, aber es ist viel besser geworden mit den Jahren und Jutta überrasche ich gelegentlich immer noch, so wie heute morgen.

„Alles klar?“, fragt sie kopfschüttelnd. „Ja, alles klar, bin einverstanden. Wann geht der Bus?“

Nach dem Frühstück machen wir mal wieder ein bisschen Car-Service, räumen die Staufächer auf, checken die Bikes, machen das Cockpit sauber und lernen einige Nachbarn kennen. Es sind gerade mal 10,6°, aber die Sonne scheint und gefühlt ist es wärmer. Wir sind, wie üblich, die Exoten mit unserem Offroader. Ein Paar aus Montana spricht uns an, sie stehen neben uns mit einem riesigen Wohnwagen. Zuhause betreiben sie eine Pferderanch und beherbergen auch oft Gäste aus Deutschland. Jetzt machen sie einen Kurzurlaub in Alberta, schließlich liegt Montana genau gegenüber auf der US – Seite. Wir tauschen uns aus und sie begutachten LEMMY ganz genau von innen und außen. Wir sollen unbedingt vorbei kommen, sollten wir mal durch Montana fahren und wir sagen: „Sure, why not?“

Nach dem Lunch machen wir einen ausgedehnten Mittagsschlaf, gönnen uns eine heiße und erfrischende Dusche, um uns zu rüsten für das Nachtleben von Calgary.

Kurz vor fünf stapfen wir über die Wiese in Richtung der vermuteten Bushaltestelle. Wir überqueren eine neu geteerte Straße, sehen neu gebaute Häuser mit grünem Rasen davor und zwei blitzsaubere Bushaltestellen. Aber welche von Beiden führt uns von dieser Neubausiedlung am Stadtrand in die City? Aus den Busplänen hinter Glas werden wir nicht so recht schlau, also fragen wir einen indischen Vater, der mit seinem Sohn im Vorgarten bolzt. Er weist uns genau die Haltestelle zu, die wir nicht gewählt hätten, denn sie führt aus unserer Sicht stadtauswärts. Der Vater erklärt uns, dass beide Haltestellen vom selben Bus angefahren werden. Aber er dreht eine Schleife am Ende der Runde und kommt danach wieder vorbei, bevor er dann nach Downtown fährt. Wir bedanken uns und sehen noch, wie der clevere Sohn die Geistesabwesenheit des Vaters ausnutzt und den Fußball ins Tor schießt. Der Junge grölt laut: „Goaaaal!“

Umsteigen müssen wir nicht. Vorbei geht es an vielen prächtigen Häusern, hinter schützenden Zäunen und Mauern, aber auch an normalen Mittelstandswohngebieten. Der Bus hält alle naselang. Wo ich es überhaupt nicht vermutet hätte, steigt ein Junkie zu. Ich mache ihn jedenfalls zu einem, mit meinen Vorurteilen, schließe von seinem Äußeren darauf, was er ist oder in meinen Augen zu sein scheint. Ob ich richtig liege, weiß ich nicht und ich werde es auch niemals erfahren. Mit den lebenden Toten von Vancouver ist er nicht zu vergleichen. Und das, was wir dort in der East Hastings Road gesehen haben, wird sich hier nicht wiederholen. Hier nicht und auch sonst nirgends. Ich ermahne mich selber, nicht so voreilig Schlüsse zu ziehen und jemanden einfach so abzustempeln und schäme mich ein bisschen dafür.

Wir sind uns nicht ganz sicher, wo die beste Haltestelle in Downtown ist, um auf dem kürzesten Weg ins Ship & Anchor zu kommen. Jutta verfolgt alles auf Google Maps und so entscheiden wir uns schnell, auch auf die Gefahr hin, etwas weiter laufen zu müssen. Der Typ, den ich vorverurteilt habe, steigt hier ebenfalls aus und ich werte das als gutes Zeichen an der richtigen Stelle zu sein. Irgendwie bin ich wieder verblüfft über meine eigenen Gedankengänge und versuche es damit auf sich beruhen zu lassen. Jutta ist weiter damit beschäftigt auf Google Maps zu schauen, wie wir am besten laufen sollten. „Da lang!“, heißt es dann knapp, mit einem Fingerzeig.

Downtown Calgary

Wir finden die Kneipe und viele Leute sitzen noch draußen auf Bänken und Tischen mit ihren Drinks. Etliche haben nur ein T-Shirt an, trotz der kühlen Temperaturen. Na ja, die Sonne scheint noch. Das sind wohl die ganz harten Kanadier. Wir gehen lieber rein und finden einen freien Fensterplatz in der Ecke. Beim ersten Bier, einem Duke American Lager, bemerken wir, die Kneipe ist viel zu klein für ein Konzert. Aber da neben dem Tresen ist ein Vorhang, wo laufend Musiker mit Gitarrenkoffern und anderen Instrumenten durhgehen. Ich trinke einen kräftigen Schluck von meinem Pint und sage: „Ich guck da mal eben durch!“

Local Beer at Ship & Anchor Bar

Die Bühne ist hinter der Bar des Ship & Anchor und das Konzert hat am Nachmittag stattgefunden. Es ist schon vorbei, wir sind zu spät. Da hat wohl einer nicht gut recherchiert. Myself! Naja egal, die Musik in der Kneipe ist auch gut und das Bier lecker. Noch ein Pint wird bestellt, jetzt ein Big Rock Grasshopper und dann gehen wir weiter ins Broken City, in die Bar, in der ich vor unendlichen Jahren die „Horror Pops“ für mich entdeckt habe.

Im Grunde habe ich sie indirekt entdeckt. Wir waren auf einem Rockabilly Konzert dort und als ich später zuhause versuchte, online rauszufinden, welche Band wir eigentlich gesehen haben, da stieß ich auf die Horror Pops, die einen Tag zuvor aufgetreten sind. Nach dem Konzert hatte ich sogar noch den Leihcamper an einer Parkuhr beim Ausparken beschädigt, was an einem Service Point repariert werden musste. Glücklicherweise wies der Camper dort schon einige Macken auf, die bei der Übergabe dokumentiert worden sind. Und so konnte ich bei der Abgabe sagen: „Da war doch schon vorher Einiges an Schäden markiert.“ Wir mussten keine Selbstbeteiligung zahlen.

“Da vorne links um die Ecke muss die Electric Avenue sein und das Broken City!“, sage ich zu Jutta. Die Navigation im Auto ist ihre Sache, wenn wir allerdings zu Fuß oder per Bike in den Städten unterwegs sind, dann schalte ich mich manchmal ein. Es ist noch immer hell und ich erkenne die Straße wieder, als wir um die Ecke biegen. „Schau mal, da ist es.“ Zwei Mädels kommen auf uns zu und sie wollen offensichtlich ins Broken City, während ich vor dem Fenster stehe und die Plakate mit dem Programm studiere. Eine von den beiden Psychobilly Girls kommt auf mich zu und spricht mich an: „I love your style!“, sagt sie, als sie mir gegenüber steht. Sowas bekomme ich nicht alle Tage zu hören und fühle mich recht geschmeichelt und erwidere: „Thank youuuu, I like your style too!“ Dann verschwinden die beiden Beauties im Broken City und ich habe mittlerweile auf dem Plakat im Fenster herausgefunden, dass heute keine Karaokenacht stattfindet.

Broken City auf der sogenannten Electric Avenue

„Scheiße!“, sage ich zu Jutta. „Ich versteh das nicht, im Internet habe ich gelesen, dass jeden verdammten Sonntag Karaokenight ist.“ Heute legt DJ Rice Sunday Skool auf, glaubt man dem Plakat im Fenster. Das ist definitiv nichts für uns, also gehen wir in einen anderen Pub in der Nähe. Ich gestehe Jutta meine zweite Fehlrecherche heute und versuche sie irgendwie zu erklären.

Broken City – Location For Music & Art

Bei einem frisch gezapften Bier in irgendeiner Bar in Downtown Calgary finde ich den Fehler. Gestern war Samstag, der 21. Mai 2022, der Armed Forces Day. Das ist der dritte Samstag im Mai, der in jedem Jahr zu Ehren der Frauen und Männer des Militärs zelebriert wird. Und durch diesen Tag hat sich die Karaoke Nacht, die üblicherweise an jedem Sonntag stattfindet, auf Montag verschoben. Was soll ich sagen? Jutta wirft mir schlechte Recherche vor und recht hat sie. Ich diskutiere und argumentiere, aber letztendlich muss ich mich geschlagen geben. Wenn es sonst an jedem verdammten Sonntag Karaoke im Broken City gibt, aber in dieser dritten Nacht im Mai eben nicht, dann habe ich meine Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Punkt.

Wir haben trotzdem eine fantastische Nacht in Calgary und planen morgen durch die Badlands zu fahren, durch das sehenswerte Red Deer Valley, das Royal Tyrrell Museum in Drumheller zu besuchen und am Abend Mary Summer und Peter zu treffen. Mit diesem Plan, einem weiteren Pint und dem Nachtbus zum Eagle Creek Casino, verabschiede ich mich von einem großartigen Besuch in der Stadt.

Jutta weckt mich zeitig am nächsten Morgen. „Kaffee ist fertig, steh auf Langschläfer!“ „Mmmmhhhhh, komm ja schon!“

Es ist der 23. Mai 2022 und unsere Freundin Maddi hat heute Geburtstag. Beim zweiten Kaffee setzen wir uns mit den Campingstühlen auf die Wiese und nehmen ihr eine kleine Videobotschaft auf. Nachdem wir den Gruß abgeschickt haben, mit dem Bedauern, dass sie ihre Party im Village dieses Jahr ohne uns feiern, machen wir uns und LEMMY startklar.

Wir reisen weiter, ohne im Casino gespielt zu haben, ohne eine Show besucht zu haben, verabschieden uns von interessanten Mitcampern, von Cowboys aus Montana und von einer kanadischen Großstadt, in der der erste Eindruck nicht unbedingt immer richtig ist.

Downtown Calgary

Bevor wir allerdings die Stadt verlassen, müssen wir noch in den Waschsalon, denn es ist mal wieder an der Zeit, eine Ladung Klamotten, Handtücher und die Bettwäsche in die Waschmaschine zu verfrachten. Stadtauswärts kommen wir an der Glenmore Laundry vorbei. Das ist nicht mal ein Umweg und nebenan ist ein vietnamesisches Restaurant, das Le La Vietnamese. Besser geht es doch gar nicht. Jutta kümmert sich um die Maschine und ich versuche verzweifelt in das freie WIFI zu kommen, aber es gelingt nicht. Nach diversen erfolglosen Versuchen gebe ich auf. Jutta ist derweil fertig mit dem Einräumen der Waschmaschine. Um die Wartezeit zu überbrücken, bummeln wir kurz über den Parkplatz zum Vietnamesen, Mittag essen. Das Essen ist nicht ganz günstig, aber sehr lecker. Am Nebentisch feiert lautstark eine größere Gruppe wohl einen Geburtstag oder ein Familientreffen.

Beim Lunch besprechen wir den weiteren Tagesverlauf. Gelegentlich schlürfen wir an einer köstlichen Home Made Lemonade. Als erstes wollen wir uns ein Bild von den Badlands machen, von endloser Prärie, von Hügeln und Canyons in die sich nur sehr wenig Touristen verirren. Zu nah sind die spektakuläreren Ziele wie etwa der Ice Fields Park Way, Banff, Jasper und die übermächtigen Rocky Mountains. Sehenswert ist diese Region trotzdem oder gerade deswegen? Man wandelt hier stets auf den Spuren der Dinosaurier. Und so steht ebenfalls ein Besuch im Royal Tyrrell Museum bei Drumheller an, welches sich dem Thema der Urzeit, der Saurier widmet und den Ausgrabungen in der Region.

Nicht zu vergessen, heute Abend wollen wir Mary und Peter treffen. Ob das gelingen wird, ist allerdings noch ungewiss, da sie Internetprobleme haben. Der letzte Kontakt per Email war vor ein paar Tagen. Wir haben unsere Pläne deutlich erklärt und sie wissen, dass wir heute, nachdem wir mit dem Museum fertig sind, irgendwann einen Campingplatz am Rande des Trans Canada Hwy aufsuchen werden, südlich von Drumheller. Wir hingegen wissen, dass sie morgen Drumheller erreichen wollen. Es wird sich zeigen, ob wir uns finden, in dieser endlosen Weite, mit nur wenigen konkreten Angaben.

Wir zahlen einen fairen Preis für ein vorzügliches Essen und sehr süffige, hausgemachte Limonade. Dann bahnen wir uns den Weg raus aus dieser Millionenmetropole, Canadas viertgrößter Stadt.

Bye bye Calgary

Die Wolkenkratzer bleiben zurück, der Verkehr ebbt ab und die Prärie scheint uns willkommen zu heißen. „Kommt nur herein, wir haben viel Platz, kommt und seht meine schönen Hoodoos!“ Wir folgen diesem Ruf und machen unseren ersten Stopp beim Horse Thief Canyon. Einige dieser bizarren Steinformationen, geformt aus Wind und Wasser, können wir hier schon bestaunen. Ein wenig fühlen wir uns an Kappadokien in der Türkei erinnert. Viel los ist wirklich nicht. Eine indische Familie genießt die Sonne und den blauen Himmel am Red Deer River bei angenehmen 21° Celsius. Auch einige Pärchen liegen auf dem, zwischen grün und gelb changierenden, Rasen und blicken verträumt in die vorüberziehenden Wolken.

Weites Land – Alberta

Nach einem kleinen Spaziergang machen wir uns auf den Weg zum Auto und sehen einen großen Pickup, der sehr langsam an LEMMY vorbei fährt. Ein Mann schaut aus dem Fenster und begutachtet unser Auto. Er wird schneller und fährt runter vom Parkplatz, bis er uns im Rückspiegel am Camper sieht. Seine Bremslichter leuchten grellrot auf und er wendet und kommt zurück. „Hi!“, begrüßt er uns durch das offene Fenster. „Are you from Germany?“ Es stellt sich heraus, er selber ist gebürtiger Deutscher. Unser Wagen ist ihm aufgefallen und er hat ihn sich etwas genauer angesehen. Als er gerade los wollte, kommen wir um die Ecke, was ihn zum Umdrehen veranlasst.

Horse Thief Canyon
Badlands Alberta

Er lebt seit bald 30 Jahren in Alberta und arbeitet bei einer großen Spedition als Trucker. Seine Muttersprache hat er schon fast gänzlich verlernt, also plaudern wir auf Englisch. Er liebt diese Abgeschiedenheit und die Weite seiner neuen Heimat, was ich nicht so ganz nachvollziehen kann. BC oder Ontario würde ich mir gefallen lassen, aber ein Leben in Alberta? Ausgeschlossen. Diesen Gedanke behalte ich natürlich für mich, stattdessen berichten wir von unserer geplanten Route gen Osten über den Trans Canada Hwy. Er bereitet uns mental auf einen langen, eintönigen Weg vor. Das ist allerdings nichts Neues für mich. Dass Saskatchewan und Manitoba nicht vor Abwechslung und landschaftlicher Vielfalt sprühen, ist mir klar. Einen Tipp hat er dann aber doch für uns.

In Ontario gabelt sich der TC Hwy und wir sollten dann die 11 vermeiden und auf der 17 weiterfahren. Die Route auf der 11 sei „boring“, sagt er. Im Reiseführer steht es anders geschrieben, wenn ich mich recht entsinne. Wir wollen seinen Hinweis beherzigen und die langweilige 11 auslassen, um auf der nördlicheren 17 zu fahren. Bis dahin sind es allerdings noch weit über tausend Kilometer schwarzen Asphalts. Nach einem netten Plausch verabschieden wir uns schließlich und machen uns auf den Weg zum Royal Tyrell Museum. Unterwegs sehen wir mal mehr, mal weniger beeindruckende Hoodoos, und überall sind Saurier präsent. Kein Wunder, wir fahren den Dinosaur Trail. So wie in Roswell in New Mexico/USA alles im Zeichen der Aliens war, so sind es hier die Dinos. Selbstverständlich fehlt auch „The Worlds Largest Tyranno Saurus Rex“ aus Pappmaché nicht am Straßenrand.

Mit der Schleppfähre über den Red Deer River

Der Parkplatz am Museum ist proppevoll, doch weit hinten sind einige freie Flächen. Der Komplex ist ziemlich groß, aber das muss auch so sein, denn schließlich ist es ein Dinosaurier Museum. Wir sind von Anfang an begeistert und lassen uns Zeit an den einzelnen Exponaten. Durch eine riesige Fensterscheibe sehen wir die Werkstatt, in der Experten die Knochen aus den freigelegten Sedimentschichten kratzen. Über den Werkbänken hängen riesige Absaugvorrichtungen. Noch immer werden zahlreiche Fossilien in Alberta gefunden und ausgegraben.

Wir blicken bis zu 70 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit. Aufgrund der Größe der Ausstellungsfläche verteilt sich der Besucherstrom ganz gut und wir können alles ohne Gedränge bestaunen. Wir sehen eine wahnsinnige Artenvielfalt in Lebensgröße, zum Teil mit originalen Knochen rekonstruiert, zum Teil künstlich erschaffen. Ausgestellt und beschrieben wird die Flora und Fauna zu Wasser, Land und in der Luft über viele verschiedene Zeitalter, die wir uns als moderner Mensch nicht ansatzweise vorstellen können. Vor 66 Millionen Jahren schlug ein Asteroid mit 15 Kilometer Durchmesser auf der Erde ein. Das brachte Chaos, Dunkelheit, Tsunamis und Vulkanausbrüche mit sich und dezimierte ganze Ökosysteme und Gruppen verschiedener Arten.

Werkstatt des Museums

Hin und wieder verlieren Jutta und ich mich kurz aus den Augen, jeder hat sein eigenes Tempo, kurz darauf finden wir uns aber schnell wieder. Manchmal staunen wir gemeinsam vor den Schaukästen, manchmal alleine oder mit anderen Besuchern. Schön ist es die begeisterten Kinder zu beobachten, deren Entdeckergeist ich gut nachvollziehen kann. Der Tyranno Saurus ist selbstverständlich auch in Originalgröße aus Knochen auferstanden. Hinter Glas sehen wir verschiedene Ammoniten, groß wie Autoreifen und bis zu 400 Millionen Jahre alt. Ich selber bin bereits über 50 und habe eine Lebenserwartung von vielleicht 70 oder 80 Jahren? Wenn es gut läuft auch etwas mehr. Unter hundert Jahren kann ich mir was vorstellen, Tausend meinetwegen auch noch, aber Millionen von Jahren? Nee, da muss ich passen, das geht nicht rein in meine Birne.

Ammoniten

Es ist bereits später Nachmittag und wir sind seit fast 3 Stunden in einer Welt vor unserer Zeit. Von Mary und Peter haben wir leider noch keine Nachricht erhalten. Sie haben ihr Internetproblem offensichtlich noch nicht lösen können. Wir haben vor, uns an den angekündigten Ablauf zu halten und nach dem Museumsbesuch in Drumheller einen nahegelegenen Campingplatz aufzusuchen. Wenn Mary und Peter morgen Drumheller und das Museum besuchen wollen, dann sollten sie hier ebenfalls bereits in der Nähe sein.

Royal Tyrrell Museum

An den letzten Exponaten sind wir etwas zügiger unterwegs und nach mehr als 3 Stunden verlassen wir mit neuen Erkenntnissen das Royal Tyrrell Museum, um Juttas favorisierten CP am TC Hwy anzusteuern.

Tyranno Saurus Rex
Black Beauty – Tyrannosaurus Rex Fossil

Zunächst fahren wir ca. 80 Kilometer straight nach Süden, um vor Crowfoot nach links Richtung Osten abzubiegen. Jetzt sind wir wieder auf dem TC Hwy und Jutta navigiert mich zu dem angestrebten Campingplatz, auf dem wir auch Mary und Peter vermuten. Nach einer weiteren halben Stunde verlassen wir den TC Hwy um zum CP zu fahren. Ich weiß nicht mal genau, wo wir sind, ich reagiere nur auf Juttas Anweisungen. „Gleich links und danach wieder rechts!“ Ich sehe nur Prärie und sonst nichts. Keine Häuser, kaum andere Autos, nur Felder und Straßen, wie auf einem Schachbrett mit unterschiedlichen Feldgrößen. Diagonale Wege gibt es kaum, es geht senkrecht nach Norden oder Süden und waagerecht nach Westen und Osten. Endlose Weite. „Gleich musst du wieder links abbiegen!“, sagt Jutta. „Ok!“

„Fahren wir nicht gerade in die falsche Richtung?“, frage ich. „Wir sind jetzt so oft abgebogen und mir kommt es so vor, als fahren wir wieder Richtung Westen.“

„Ja, kann sein!“, sagt Jutta. „Das ist aber die Richtung zum Campingplatz.“ Ich glaube ihr und bei den schachbrettartigen Straßen wundert es mich auch nicht wirklich. Bei dem wenigen Verkehr und der freien Sicht in alle Richtungen bin ich relativ schnell unterwegs. Links, etwa 100 Meter vor uns sehe ich zwei Camper abseits der Straße auf einer Wiese stehen. In dem Moment als ich vorbeidüse, kann ich es nicht fassen. „Hast du das eben auch gesehen?“, frage ich Jutta. „Nee, was soll ich gesehen haben?“

„Da stand gerade ein Oman Camper!“ „Du spinnst, die gehören bestimmt dort zu der Ranch.“, meint Jutta.

Ich trete auf die Bremse und drehe um. Dann erkennt Jutta es auch. Dort steht eine Leihcamper von „Adventurer“ und ein Oman. Das müssen Mary und Peter sein! Ich fahre rechts runter von der Straße auf die Wiese und wir werden schon erwartet. Aus dem Fenster hat Peter uns vorbeifahren sehen und zu Mary gerufen: „Da ist gerade ein Oman Camper vorbei gefahren. Das müssen Jutta und Jürgen sein!“

Wir haben uns gefunden. War es Glück, Zufall, Bestimmung? Keine Ahnung, spielt auch keine Rolle. Wir lernen kurz noch die beiden anderen Camper kennen, dann parke ich zwischen den zwei Pickups ein. Jutta und ich machen eine kurze Pause. In einer Stunde sind wir dann vor unserem Wagen verabredet. Jeder bringt mit, was er braucht.

Oman Camper Treffen in Alberta

Ich haue mich kurz aufs Ohr und nur einen gefühlten Augenblick später vernehme ich Stimmen vor dem Fenster. „Muss wohl eingeschlafen sein.“, stelle ich fest und klettere aus dem Bett.

Nach zehn Minuten steht der Stuhlkreis und jeder hat seinen Lieblingsdrink dabei. Es gibt Wein, Bier und Knabbersachen. Das Abendessen lassen wir ausfallen. Wir quatschen bis spät in die Nacht hinein, bis es uns allen zu kalt wird. Jutta und mir wäre der CP für ein Treffen lieber gewesen, mit einer Feuerstelle, die nicht nur gemütliches Licht spendet, sondern auch Wärme. Aber Mary und Peter versuchen so oft es geht frei zu stehen. Egal, wir sind froh uns im zweitgrößten Land der Erde gefunden zu haben, ohne vorher einen konkreten Treffpunkt abgemacht zu haben.

Sie berichten von ihrer Ankunft in Canada und der Begegnung mit Omi Hans und Christina in Halifax. Wir erfahren, dass Peter bereits seine erste Reisemüdigkeit durchgemacht hat, als er sehr erkältet war und überhaupt keine Lust mehr hatte weiter zu fahren. Sie erzählen von den Schwierigkeiten, die Hans hatte, einen Leihwagen in Halifax zu bekommen und wie ihre bisherige Reise bis hierher verlaufen ist. Sie sind übrigens, wie im Reiseführer empfohlen, die 11 in Ontario auf dem TC Hwy gefahren. Wir berichten von dem Insider-Tipp, den wir heute bekommen haben, auf keinen Fall die 11 zu nehmen, sondern stattdessen auf der 17 zu fahren. Die Zeit schmilzt dahin.

Wir reden eine Menge Zeug über unsere Autos, wie zufrieden oder unzufrieden wir mit dem Fahrzeug und dem Hersteller sind. Mary und Peter berichten über ihre Pläne bis nach Mittelamerika, eventuell Südamerika zu fahren und wir lauschen gespannt. Wir erzählen natürlich von unseren Erfahrungen, vor allem in den USA, aber auch von Südosteuropa, Asien und den letzten Wochen in Canada.

Aber da gibt es ja auch noch die beiden anderen Camper, über die ich bisher nichts gesagt habe. Sie sind verheiratet und kommen aus Deutschland. Alle beide lieben Canada so sehr, dass sie sich dieses großartige Land Stück für Stück und Jahr für Jahr erobern, bereisen und immer weiter erkunden. Mal verbringen sie drei Wochen in Alberta, mal in BC oder in Quebec. Seit Jahren kommen sie immer wieder her und leihen sich einen Pickup Truck mit Kabine. Wir sehen ihnen ihre Leidenschaft an. Sie packen vor der Reise alte, abgetragene Kleidung ein, kaufen sich am Ziel neue Klamotten und lassen ihre alten Sachen zurück. Wir erfahren von ihnen viel Privates und so geben wir heute Abend irgendwie alle etwas preis von uns, wie es unter eigentlich Fremden nur auf Reisen möglich ist.

Gemütliche Runde, irgendwo in der endlosen Weite Albertas

Irgendwann frösteln wir alle und beschließen diese wundervolle Nacht voller schöner Gespräche, witziger und ernster Anekdoten und unterschiedlicher Gedanken zu beenden.

v. l. n r. Leihcamper von Adventurer, LEMMY und das Kischdle

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen trennen sich unsere Wege. Bei Mary und Peter steht jetzt in Canada der spektakulärste Teil der Reise an, die Rocky Mountains, BC, Vancouver Island usw. Die beiden Adventurer beschränken ihre drei Wochen in diesem Jahr auf Alberta und nächstes Jahr, mal sehen wohin es geht… Ich empfehle ihnen Nova Scotia, denn BC kennen sie bereits. Für uns wird es jetzt eintönig, für hunderte von Kilometern. Heute für etwas über 300. Wir wollen einen Abstecher in die Cypress Hills machen und nehmen dafür einen Umweg von 90 Kilometern in Kauf, aber Umwege gibt es nicht…., ihr kennt das bereits. Jutta hat auf „iOverlander“ einen gut bewerteten freien Stellplatz am Cypress Lake rausgefunden, der den Weg wert sein soll. Das wollen wir mal abchecken. Leider findet sie online keine Informationen, ob der Park geöffnet ist, ausgebucht oder überhaupt zugänglich. Die Saison hat begonnen und es könnte jetzt überall voll sein. Andererseits könnte auch geschlossen sein, weil dort erst im Juni eröffnet wird oder eine große Baustelle die Durchfahrt versperrt.

Wir verlassen heute Alberta und werden Saskatchewan erreichen. Unsere Erfahrungen in diesem kanadischen Bundesstaat beginnen bei Null. Auf so einer gewagten Expedition in unbekanntes Gebiet gehe ich kein Risiko ein. Ich sage zu Jutta: „In Brooks muss ich noch kurz in den Beerstore, Nachschub holen! Ok?“

Beerstore in Brooks

An der Ampelkreuzung biege ich ab, fahre rechts rüber und parke vor einem mittelgroßen Schnapsladen. Ich kaufe den üblichen Vorrat an Bier und schon kann es weiter gehen. In Medicine Hat machen wir Lunchpause in einem tollen Diner, einem Roadhouse am TC Hwy. „Wow!“, rufe ich begeistert, sitzend auf einem roten Ledersofa mit der Speisekarte vor mir. „Die haben hier Poutine!“ „Das nehme ich auch!“, sagt Jutta. Ich bekomme French Fries mit Gravy serviert, Jutta erhält dazu noch geschmolzenen Schafskäse in der vegetarischen Bratensoße. Dazu gibt es köstliche hausgemachte Zitronenlimonade. Wir beobachten, wie die drei Kellnerinnen hinter dem Tresen tuscheln und uns im Auge behalten. Beim Zahlen spricht uns die Chefin an. Ob wir aus Deutschland kommen, will sie wissen. „That`s right, we are from Germany. Look over there, that`s my car, that we travel around with.“ Sie sagt, sie hätten sich so was schon gedacht, waren sich aber nicht sicher, ob sie unsere Sprache richtig zugeordnet haben. Gut gelaunt, mit einer weiteren überaus netten Begegnung, verlassen wir dieses Diner und begeben uns über einen geschotterten, mit Pfützen übersäten Parkplatz zu unserem Auto.

Irgendwo am TC Hwy zwischen Irvine und Maple Creek sehen wir eine Touristeninformation. „Wollen wir da nicht mal nachfragen, ob die in den Cypress Hills geöffnet haben?“, schlage ich vor. „Nicht das wir da 90 Kilometer reinfahren und feststellen, wir können nicht bleiben und müssen sofort wieder umdrehen. Das wäre dann schon ärgerlich.“

„Können wir machen.“, sagt Jutta. Ich halte an der Touristeninformation, zwei junge Leute stehen hinterm Infotresen, aber sie wissen es auch nicht. Er telefoniert und fragt irgendwo nach, sie stöbert in einem Prospekt. Eigentlich müsste dort alles zugänglich sein, bekommen wir als Antwort. Na gut, das soll uns reichen, um an der Esso Tankstelle bei Maple Creek rechts abzubiegen. Eine Stunde Fahrt durch die Cypress Hills steht uns bevor. Der Biervorrat ist in Ordnung und auch der Dieseltank ist gut gefüllt. Nach dem kleinen Maple Creek fahren wir durch Ödland, fahren dicht an die US amerikanische Grenze, aber was soll hier so toll sein? Jetzt auch noch eine Baustelle, aber die stört nicht weiter, im Gegenteil, ab hier fahren wir Piste und keine Straße mehr. Kein Mensch ist unterwegs, nur gelegentlich ein Straßenbauer-Pickup oder ein Lastwagen mit Schotter auf der Ladefläche. Auf halber Strecke ist ein Campingplatz ausgeschildert: Aspen Grove, im Cypress Hill Interprovincial Park Saskatchewan. „Was machen wir denn jetzt?“, frage ich Jutta. Eigentlich müssen wir noch 40 Kilometer weiter bis zum Cypress Lake, dem Geheimtipp auf iOverlander. „Ich weiß es auch nicht!“, sagt Jutta.

Eine Entscheidung muss getroffen werden und ich sage: „Scheiß drauf, wir fahren da jetzt hin. Und wenn es dort blöd ist, fahren wir zurück in diesen Interprovincial Park.“

Begeistert bin ich so ganz und gar nicht von dieser Ödnis. Das Einzige was mir Spaß macht, ist die Fahrt auf dem Schotteruntergrund. „In zwei Kilometern musst du rechts abbiegen und etwas später noch einmal rechts, dann sind wir am Lake.“, verkündet Jutta.

Nach dem zweiten Abbiegen sehe ich einen trostlosen und verlassenen Platz. Ich rolle langsam auf den Cypress Lake zu und denke mir: „Was machen wir hier nur?“ Dann sage ich zu Jutta: „Ich muss mal pissen!“ Etwas genervt verlasse ich das sichere Cockpit und stelle mich an einen Busch neben dem Auto, um meine Blase zu entleeren und werde umgehend von Millionen Fliegen attackiert. Ich schlage wild um mich. So gut es geht halt, während ich versuche mein Bedürfnis zu einem Ende zu bringen. Ich verliere fast die Orientierung vor lauter Fliegen und sogar die Kabinenwand von LEMMY ist nicht mehr in beige (RAL Ton 1001) zu erkennen, wie wir sie bestellt haben, nein, sie ist schwarz, Vanta Black. Das schwärzeste Schwarz der Welt. Ich packe alles wieder ein, wo es hingehört und fliehe vor einer Invasion von Mistviechern.

Warum sind diese Scheißfliegen nicht vor 66 Millionen Jahren ausgestorben, sie haben eh keinen Nutzen, außer als Spinnenfutter. Und die Spinnen können mich im Übrigen auch am Arsch lecken. Irgendwie gelingt es mir instinktiv die schwarze Wand zu durchbrechen und die Fahrertür, in Royal Grey lackiert und damit fast unsichtbar, wiederzufinden und zu öffnen. „Lass uns bloß hier verschwinden!“, schreie ich heraus und speie dabei eine tote Fliege aus meinem Mund. Dann frage ich entsetzt dreinblickend: Weißt du eigentlich was da draußen los ist?“ Jutta guckt mich nur verwundert an.

Auf der Windschutzscheibe sitzt ebenfalls eine ganze Meute dieser Drecksviecher. „Na warte!“, denke ich mir. Ich drehe den Zündschlüssel um, der Motor startet und ich aktiviere die Scheibenwaschanlage. Dann fahre ich lachend los. „Guckt euch jetzt an ihr verdammten Arschgeigen!“

„Wir fahren jetzt nach Aspen Grove in den Interprovincial Park!“, sage ich zu Jutta. Sie antwortet ein wenig irritiert: Ok!?“

Aspen Grove
Interprovincial Park Aspen Grove

Auf dem selben Weg geht es zurück, bis wir dann links abbiegen. Insgesamt sind es nur 44 Kilometer und etwa eine halbe Stunde zu fahren. Wir checken ein und glücklicherweise gibt es reichlich freie Plätze. Für heute bin ich echt bedient. Diesen Campingplatz haben wir im Nieselregen erreicht und er ist gigantisch groß. Jutta versucht mich, mit der von der Rezeption ausgehändigten Map, auf unseren Stellplatz zu lotsen, aber es gelingt ihr nicht. Wir kurven rum und drehen uns im Kreis. Es wird mir schon langsam echt peinlich, bei manchen anderen Campern bereits zum dritten Mal vorbeizufahren, immer noch auf der Suche nach dem eigenen Stellplatz. Jutta verzweifelt langsam, ich auch und wir sind kurz davor uns einfach irgendwohin zu stellen. Gemeinsam schauen wir auf den Plan und mit mehr Glück als Verstand finden wir unseren Platz.

Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung. Wir sind angekommen in Saskatchewan, auf einem Campingplatz, der uns wieder versöhnlich stimmt. Die Sonne kommt raus und die Aussicht von hier ist hervorragend. Ich habe Feuerholz für ein Barbecue, Bier, Maiskolben, Kartoffeln und Marshmellows. That`s all we need.

buttered & salted corn
BBQ with baked potato, corn & marshmellows
Nachtisch

Wir verbringen einen klasse Abend am Lagerfeuer und unterhalten uns über die schöne letzte Nacht mit Mary und Peter und die anderen beiden Canada Fans. Im Gegensatz zum Cypress Lake sind wir hier von einigen Bäumen umgeben und etwas höher gelegen. Nicht eine einzige Fliege belästigt uns.

Wir besprechen, dass wir uns morgen mit Omi Hans und Christina in Rosetown treffen werden. Mit ihnen können wir ohne Problem kommunizieren, sie haben einwandfreies Internet. Wer jetzt genauer auf unsere Route schaut, wird sich vermutlich fragen, wieso fahren die so einen merkwürdigen Zickzack-Kurs? Ich sage es euch, auch wenn ich mich wiederhole: „Es gibt keine Umwege, nur Abstecher!“ Jutta geht irgendwann schlafen, ich mache mir noch ein Bier auf und lege etwas Feuerholz nach.

I love campfire

Das Frühstück genießen wir draußen in strahlendem Sonnenschein. Zu Fahren habe ich heute etwas über dreihundert Kilometer, ein Klacks für kanadische Verhältnisse und für mich erst recht. Zuerst geht es nach dem Auschecken und einer ausgiebigen heißen Dusche ca. 40 Kilometer nach Maple Creek, dann auf den TC Hwy nach Osten, um in Swift Current links hoch, geradewegs nach Norden zu fahren. Unterwegs verabreden wir mit Omi Hans, dass ich mich um das Feuerholz für den bevorstehenden Abend kümmere. Wir freuen uns auf eine weitere Begegnung mit anderen Oman Campern, die wir bisher ja nur einmal kurz und flüchtig getroffen haben.

Bevor wir den Präirie View Park Mobile Home and Campground erreichen, kaufe ich zwei Bundle Firewood an einer Tankstelle in Rosetown und dann fahren wir zu unserem Tagesziel. Hans und Christina sind bereits angekommen und erwarten uns.

Ich parke direkt auf einem freien Stellplatz neben ihnen und sie kommen sofort her. „Der Platz ist für euch bereits reserviert!“, sagt Hans, als ich gerade aus dem Auto steige. Wir begrüßen die Beiden und freuen uns auf den bevorstehenden Abend. Wir fühlen uns wohl und ich bereite die Feuerstelle vor. Hans und Christina kommen zum Dinner rüber. Zur Feier des Tages schmeiße ich deutsche Bratwurst auf den Grill. Alle bringen etwas mit, Jutta hat Gemüse mariniert, Hans und Christina bringen Käse und Trauben mit und frisches Baguette.

Zu meinem Entsetzen offenbart Hans sofort, dass er keinen Alkohol trinkt. „Oje.“, denke ich. „Was wird er von mir halten, wo ich Bier doch so sehr liebe und es auch reichlich konsumiere?“ Na ja, Scheiß drauf, was habe ich zu verlieren?“ Ich kümmere mich ums Feuer und das Grillgut und wir unterhalten uns. Jutta und Christina schenken sich Wein ein, so bin ich nicht der Einzige, der etwas trinkt. Später kommen wir auch noch auf unsere Berufe zu sprechen und Omi Hans berichtet von seiner Karriere als Neurologe. Er war lange Jahre Chefarzt in der Neurologie im Klinikum am Rosengarten in Bad Oeynhausen. Rosengarten? Fuck, wir sind hier in Rosetown, was hat das zu bedeuten…? Kann das Zufall sein?

Wir verstehen uns alle super untereinander. Ich unterhalte mich prima mit Christina und Jutta mit Hans, umgekehrt funktioniert es sogar noch besser. Meistens quatschen wir durcheinander. Hans unterhält sich mit mir und Jutta redet mit Christina. Der Redeschwall ebbt eigentlich niemals ab und Hans und ich erkennen erstaunlicherweise eine Menge Parallelen zwischen unseren Berufen als Neurologe und dem des Pyrotechnikers und Requisiteurs. Es stört mich kein bisschen, dass er nichts trinkt und ihm ist es völlig egal, wenn ich mir zwischendurch ein weiteres Bier genehmige. Jedenfalls reden wir viel über die Arbeit und die Qualität unserer Arbeit, über eigene Ansprüche, über Befindlichkeiten der Kollegen, über Künstler, Diven und Patienten. Wir lachen oft, wenn wir feststellen, wie ähnlich unsere Probleme sind und obwohl es im Theater nie darum geht Menschenleben zu retten, so geht es schon darum, unsere Akteure auf der Bühne zu schützen, insbesondere dann, wenn Pyrotechnik im Spiel ist. Denn es hat von leichten bis schweren Verletzungen auch schon tödliche Unfälle an Theatern gegeben.

Wir reden auch über meinen Burnout, zu dem eine unfähige Abteilungsleitung beigetragen hat, eine Vollzeitstelle, die ersatzlos weggefallen ist (Karl ist in Rente gegangen) und sechs, zum Teil enorm fordernde Premieren, die fast gleichzeitig anstanden. Es gab noch andere Zutaten, die eine Rolle spielten und die Speise verdarben, näher kann und will ich da jetzt nicht drauf eingehen. Das würde zu sehr ins philosophische abdriften und/oder es würde die grausame Wahrheit ans Licht bringen, die ein eigenes Kapitel für sich beansprucht. Nein, mehr als das…, viel mehr!

Hans erzählt von seiner Augenkrankheit und ich erinnere mich. Stimmt ja, Christina fährt immer, weil Hans fast blind ist und kein Auto fahren darf. Er leidet an Retinitis Pigmentosa und ist schwer beeinträchtigt. Sein Gesichtsfeld wird immer kleiner und er braucht viel Licht, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Deshalb kann er auch nicht mehr als Neurologe arbeiten. Das haben sie uns damals schon erzählt, auf dem Treffen bei Detmold. Jetzt kommt die Erinnerung zurück. Jahre später. Corona dazwischen. Auf einem anderen Kontinent. Ich finde es bewundernswert, das sie beide trotz dieser Einschränkungen solche großen Reisen machen. Beim Fahren ist Christina auf sich gestellt, aber Hans kümmert sich um viele andere Dinge vor und während der Reise. Recherche, Organisation und Abwicklung gehören unter anderem zu seinen Aufgaben.

Ich frage Hans, wie er zu seinem Namen kommt. Ist ja schon irgendwie speziell sich selber als Omi Hans vorzustellen. „Na, weil sie den Oman Camper zunächst Omi nannten, bevor er in Idefix umgetauft wurde. Daraus ist dann Omi Hans entstanden.

Sie berichten auch vom Ankommen in Canada, was bei Ihnen unproblematischer verlief, als bei uns. Wir hatten ja den Anschlussflug von Montreal nach Halifax verpasst, wurden umgebucht nach Ottawa, um von dort ans Ziel zu kommen, aber zu dem Zeitpunkt tobte ein Wintersturm mit Eisregen in Halifax und wir bekamen keine Starterlaubnis. Als es dann Stunden später doch noch losging, entschied der Kapitän auf halber Strecke umzudrehen, da er nicht sicher landen könne in Halifax, bei den aktuellen Wetterbedingungen. Nach einem ungeplanten Hotelaufenthalt in Ottawa mussten wir dann Tags darauf wieder stundenlang am Airport warten, weil das Wassersystem an Bord der Maschine vereist war, bei minus 26°. Und als wir dann doch noch mit über einem Tag Verspätung im Residence Inn by Marriott angekommen sind, waren wir nicht mehr im Buchungssystem zu finden. Hans und Christina lauschen gespannt dieser kleinen Lagerfeuergeschichte.

Sie hatten andere Probleme. Hans konnte keinen Mietwagen leihen, weil er derjenige mit der Kreditkarte ist, aber nicht derjenige mit der Fahrlizenz. Sie bekamen keinen Wagen, weil Kreditkarteninhaber und Fahrer nicht übereinstimmten. Mit Mary und Peter haben sie dann zusammen einen Wagen gemietet. Peter hat einen Führerschein und eine Kreditkarte. So sind sie zu viert einige Tage auf Nova Scotia gecruist, während zwei Omans (Idefix & das Kischdle) im Bauch eines riesigen Containerschiffes den Atlantik überquert haben.

Wir unterhalten uns prächtig, knabbern nach dem Dinner am leckeren Käse, dem frischen Baguette und den Weintrauben. Das Lagerfeuer spendet angenehme Wärme und wir quatschen und quatschen…., es gibt Wein und Bier, Hans begnügt sich mit Wasser. Ich mag nicht fragen, ob er wegen seiner eingeschränkten Sicht keinen Alkohol trinkt oder aus Überzeugung als Arzt.

Das ein und andere Abenteuer wird noch zum Besten gegeben, so auch natürlich die Geschichte in Albanien, als wir fliehen mussten und Angst hatten alles zu verlieren, von unseren ersten richtigen Offroaderfahrungen in Georgien im Vashlowani N. P.. Und natürlich fehlt auch die Story nicht, als wir in Kalifornien in Desert Center, einer Geisterstadt, gestrandet sind, weil ich in der Wüste nicht rechtzeitig getankt habe.

Das Lagerfeuer ist schon fast komplett runter gebrannt, das Holz aufgebraucht. Es ist Zeit ins Bett zu gehen. Wir wollen uns morgen nach dem Frühstück verabschieden. Christina und Hans werden ihr Frühstück viel früher einnehmen, wenn wir noch im Bett liegen.

Als ich aufwache, Jutta tüdelt schon mit ihrem Handy rum, liegt aber noch im Bett, da regnet es bereits leicht und ein Frühstück draußen macht keinen Sinn. Hans und Christina sitzen gemütlich in der Kabine und wir winken uns kurz zu. Nun haben sie mitbekommen, die Godts kommen langsam in die Puschen. „Machst du schon mal Kaffee? Ich überlasse dir das Bad zuerst.“, biete ich großzügig an. Jutta mustert mich streng, kann sich aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

Es gibt ein schnelles und kurzes Frühstück, dann wagen wir uns bei leichtem Nieselregen vor die Tür. Den zweiten Kaffee nehmen wir mit raus. Hans ist bereits an seinem Staufach zugange. „Guten Morgen!“, rufen wir rüber.

Christina steigt aus der Kabine und schon sind wir wieder am schnacken wie die Weltmeister. Hans zeigt mir seine Staufächer, Jutta und Christina haben andere Themen. Er hat sein großes Fach strukturiert angelegt, durchdacht und mit praktischen Schubfächern. Ich habe ein anderes System, was auf den ersten Blick wohlmöglich nicht so praktisch erscheint, mir aber doch mehr Möglichkeiten, mehr Spielraum und unendliche Variablen erlaubt. Ich habe Kisten, die ich hin und her schiebe, aber auch mal rausnehmen muss, um an die Kiste dahinter zu kommen. Ich nehme an, es gibt zu diesem Thema ebenso viele Meinungen und Vorlieben, wie es Fahrer gibt. Jutta wäre ein System am liebsten, bei dem immer alles das ganz vorne und griffbereit liegt, was man gerade benötigt. Ich arbeite noch daran.

Als ich meine Werkzeugkiste präsentiere, fallen sofort die Scheibenpflaster von Carglas in mein Blickfeld. Die habe ich nach meinem ersten reparierten Steinschlag bekommen. Leider ist es nicht so wie in der Radiowerbung immer versprochen wird, dass nach vollendeter Reparatur nichts mehr vom Schaden zu sehen ist. Ganz im Gegenteil, es ist keine Reparatur zu erkennen. „Aber die Stabilität der Scheibe ist wiederhergestellt!“, wurde mir versichert und eine Menge Scheibenpflaster in die Hand gedrückt.

„Hey Hans, ich kann dir gerne zwei, drei Pflaster abgeben. Ich habe mehr als genug.“ Hans zeigt sich erfreut, da er selber keine dabei hat. „Oh ja, die nehme ich sehr gerne mit, man kann ja nie wissen.“ Ich drücke ihm drei oder vier in die Hand und sehe wie es in seinem Kopf rattert. „Jetzt muss ich dir aber auch was geben!“, sagt er mit Nachdruck. „Ach was, nicht doch. Ich habe wirklich genug davon und das war mein erster Steinschlag, nach über 30 000 Kilometern mit LEMMY.“

„Nein, trotzdem!“ Ich sehe wie er überlegt, was er mir anbieten kann. Ich sage aus Quatsch, was mir gerade einfällt, weil er doch Arzt ist: „Hey Hans, ich weiß was, gib mir einfach ein kleines Fläschchen Tilidin Tropfen für meine Rückenschmerzen, dann ist das für mich erledigt.“ Er lacht laut auf. Ich bin mir sicher, er kann meinen Humor händeln. „Tilidin Tropfen habe ich leider nicht mit.“, sagt er. „Wie wäre es mit einem Blister Tabletten?“, frage ich. „Die habe ich auch nicht mit.“ Ich sage: „Macht nichts, die habe ich selber dabei, für Notfälle. Aber die Tropfen sind viel besser, als die Tabletten!“

Dann erzähle ich ihm von meinen Erfahrungen mit den Tropfen, als ich eine Zeit lang kaum laufen konnte und mein Orthopäde mich schon an der Lendenwirbelsäule operieren wollte. Ich lehnte die Operation zunächst ab und sagte meinem Orthopäden, dass ich mich zuerst mit meinem Physiotherapeuten Herrn Becker aus Syke besprechen muss, denn der hat magische Hände und ist für mich ein Wunderheiler. Herr Becker sagte mir nach einer persönlichen Konsultation: „Wir kriegen das ohne OP hin, konservativ.“ Ich bekam dann im Krankenhaus in Vechta zwei Spritzen unter CT ins Rückenmark gespritzt, machte konservative Physiotherapie und bald war es mir wieder möglich einigermaßen schmerzfrei zu laufen. Unterstützt wurde das Ganze mit Tilidin Tropfen.

Wochen später, als es mir viel besser ging und der Bewegungsapparat größtenteils wieder hergestellt war, da erinnerte ich mich. Es müsste noch etwas Rest in der kleinen Tilidin Flasche sein. Jutta war schon im Bett und ich hatte bereits ein paar Bier getrunken und wollte noch einen Spätfilm schauen. Ich hatte Bock auf einen Gaspar Noè Streifen. „Enter The Void“ kam mir in den Sinn. Ich liebe Noès Filme und den kannte ich noch nicht. Als dann der Vorspann begann, war ich schon begeistert, der Film spielt in Tokyo. Ich dachte: „Genehmige dir doch noch eben 30 Tropfen aus dem Zauberfläschchen, es ist noch was übrig. Wäre doch schade, es verkommen zu lassen.“ Gedacht, getan. Ich habe keinen Film geschaut, nein, ich war im Film, auf einem zweieinhalbstündigen Trip durch die Tokyoter Nacht. Ich bin geflogen durch die Häuserschluchten, es gab keine Kamera die hier gedreht hat, ich war die Kamera. Das war ein sensationelles Erlebnis und mir war schon klar, das sollte ich nicht zu häufig machen. So dosierte ich es in größeren Abständen auf maximal 30 Tropfen, direkt aus der Flasche auf die Zunge. Jutta schlief immer schon, wenn ich mich auf diese spezielle Reise begab. Ein anderes Mal schaute ich den Film „Hachiko“ und musste heulen dabei wie ein Schlosshund. Jetzt rede ich mit Hans über all das und er berichtet mir, die Tabletten kann ich ruhig mitführen, nur die Tropfen sind ein Opiat, höher dosiert, als Droge eingestuft und selbstverständlich nicht erlaubt im Reisegepäck. Das wusste ich allerdings schon vom Apotheker, der mich als Patient registrierte, als jemand, der ein Opiat verschrieben bekommen hat.

Dann erzählt Hans, er habe gehört, dass es vollkommen wahnsinnig sein soll, wenn man 30 Tilidin Tropfen auf ein Stück Toast träufelt und das für eine halbe Minute in die Mikrowelle legt und anschließend verzehrt. Ich schreie innerlich auf: „FUCK! Hätte ich das doch nur früher gewusst!“

Jutta und Christina machen sich plötzlich von hinten bemerkbar. „Na, worüber redet ihr da so amüsiert. „Ach, nix besonderes, ich habe Hans nur meine Werkzeugkiste gezeigt und ihm ein paar Steinschlagpflaster für die Windschutzscheibe gegeben.“, sage ich. Dann mach ich die Staufachklappe wieder zu.

„Jetzt weiß ich was!“, sprudelt es aus Hans heraus. „Hast du Sicherungen für die Truma Heizung?“ „Nöö, habe ich nicht.“ Er eilt zu Idefix, kramt irgendwo und drückt mir zwei kleine Glasröhrchen in die Hand. „Jetzt sind wir quitt!“, sagt er. Wir müssen beide lachen.

Für das Abschiedsfoto arrangiere ich beide Autos auf dem Hauptweg von diesem beschaulichen Campingplatz am Rande von Rosetown und Jutta, Christina & Hans posieren davor. Klick.

Zweites Oman Camper Treffen in Kanada, diesmal in Rosetown – Saskatchewan

Zeit Abschied zu nehmen. Für uns geht es weiter nach Osten, den 7821 Kilometer langen TC Hwy entlang. Hans und Christina fahren nach Westen, in den Yukon, nach Alaska und danach (erneut durch Canada) in die USA. Wir behalten uns im Auge.

Heute wird ein langer Road Day. Aber so schlimm wie befürchtet ist es gar nicht. Jedenfalls nicht beim ersten Mal. Für unseren deutschen Auswanderer, den wir am Horse Thief Canyon getroffen haben, sieht es vermutlich anders aus, weil er diese Strecke bereits einige Dutzend Mal gefahren ist und jeden Grashalm kennt. Jutta würde am liebsten schon einen Platz festlegen, wo wir heute Abend stehen werden, aber ich will heute lange fahren und mich nicht festlegen. Noch nicht, noch lange nicht.

Wir haben Musik im Auto, Hörbücher, Hörspiele und wir nutzen das volle Programm. Misery, geschrieben von Stephen King, gelesen vom Godfather of Hörbücher David Nathan, (deutsche Synchronstimme unter anderem von Johnny Depp) hören wir komplett durch. Auch Needful Things lassen wir uns von David Nathan vorlesen und die endlose Fahrt vergeht irgendwie ganz schnell. Natürlich hören wir nicht alles am Stück, aber immer wieder und das verkürzt die Zeit enorm, besonders wenn die Landschaft eintöniger ist.

Coffee to go…?

An einer gigantischen Kaffeekanne halte ich an. Pinkel- und Kaffeepause. Ich parke so, dass es so aussieht als ergieße sich der Kaffee direkt aus der Kanne in LEMMY. Nach einigen Fotos gehe ich pinkeln. Beim anschließenden Kaffee diskutieren wir. Jutta möchte ein Ziel haben für heute Abend und ich möchte den Endpunkt offen lassen. Ich argumentiere: „Wenn wir auf dieser endlosen Strecke mal wieder mehr Kilometer fressen, wie vor Monaten an der Ostküste, als wir dem kanadischen Winter nach Florida entkommen wollten, dann haben wir später mehr Zeit für längere Stopps an attraktiveren Orten!“ Jutta kontert: „Ja, aber wenn du müde wirst und zu lange fährst, dann wird es gefährlich und außerdem müssen wir uns um die Sache mit der Umbuchung kümmern!“ „Das mit der Umbuchung stimmt,“ sage ich und zu diesem Thema komme ich später noch. „Aber das müssen wir heute und morgen auch nicht unbedingt machen und mir geht es gut. Ich kann noch ewig weiterfahren. Ich will jetzt schnell nach Ontario, nach Killarney, weißt du noch? Wir finden immer einen Platz, an dem wir über Nacht stehen können und einen Mittagsschlaf machen wir meinetwegen auch noch, wenn du willst.“

Coffeebreak

„Killarney war schon geil.“, sagt Jutta. „Denk nur mal an das Fish Fry Festival!“ Ich schaue sie an und nicke ihr zu. „Na gut.“, sagt sie, „wenn wir einen Mittagsschlaf machen und du Bescheid sagst, wenn du zu müde wirst, dann fahren wir weiter solange du kannst.“

Kurzer Mittagsschlaf um Kräfte zu tanken

Wir kommen an einsamen Truck Stopps vorbei und an Highway Cannabis Stores. Die Landschaft ist nicht besonders vielfältig, aber in dieser Eintönigkeit liegt auch ein Reiz. Die Sinne sind geschärft für besondere Eindrücke, wie vorüberziehende Wolkengebilde oder verfallene Scheunen am Wegesrand. Nach einigen Stunden Fahrt denke ich, ein Mittagsschlaf wäre doch ganz nett, dann können wir danach noch Einiges an Strecke abreißen. Ich fahre rechts ab vom Highway, suche eine kleine Nebenstrecke, parke und wir machen etwas Powernapping mit einer Folge von den Drei Fragezeichen, „Die Drei und der unheimliche Drache“.

Truck Stop

Regina liegt bereits hinter uns und wir steuern auf einen neuen Bundesstaat zu, Manitoba. Noch nicht ganz in Reichweite, aber als Etappenziel haben wir es auf dem Monitor, Winnipeg. Ich fahre seit Stunden, es ist längst dunkel geworden und mein Vorrat an Energie Drinks ist aufgebraucht. „Jetzt können wir bald Feierabend machen.“, melde ich an. Es geht auf halb zehn zu. Jutta hat, wie üblich, einen Platz in der Nähe im Visier. „Da kommt gleich ein Walmart, in ca. 35 Minuten. Kannst du noch?“

„Machst du Witze?“, frage ich. „Ich kann immer!“ Dann füge ich lächelnd hinzu: „Fahren, meine ich!“

Highway Cannabis Store

In Kemnai verlassen wir den TC Hwy und fahren auf der 1A, der kleineren Nebenstrecke bis Brandon weiter. Im Ortskern biegen wir einmal links ab und kurz darauf rollen wir auf den großen Walmart Parkplatz, auf dem schon einige andere Camper eine Ruhepause einlegen.

Ziemlich ausgepowert, aber zufrieden mit der absolvierten Strecke von knapp 700 Kilometern, kommen wir an. British Columbia, Alberta und Saskatchewan liegen hinter uns. Brandon in Manitoba haben wir erreicht. Es ist nach 22 Uhr und noch immer 25° Celsius. Der Frühling hat sich hoffentlich nun endgültig verabschiedet. Wir wollen Sommer. Heute Abend gehen die Lichter früh aus und bei einer Folge Sherlock Holmes schlafen wir schnell ein.

Zwischenübernachtung bei Walmart in Brandon – Manitoba

Zehn Stunden später duftet und blubbert schon der Kaffee. Sogar ich bin um halb neun fast ausgeschlafen. Wir können es ganz gemütlich angehen lassen heute Morgen, denn weit werden wir nicht fahren. Es geht nur ca. 80 Kilometer bis zum Kiche Manitou Campground bei den Spirit Sands. Wie üblich verlasse ich mich auf Juttas Stellplatzwahl. Was sie mir diesbezüglich erzählt, klingt sehr überzeugend. Wir trödeln und kommen erst am späten Vormittag los, aber egal, laut Navi dauert die Fahrt weniger als eine Stunde.

Vorbei geht es am Sand Hills Casino, betrieben von den First Nation People, aber wir lassen es links liegen. Kurz darauf erreichen wir den Spruce Woods Provincial Park und unseren Campingplatz. Ich parke vor der Rezeption und wir hoffen auf einen freien und schönen Stellplatz. Gemeinsam gehen wir rein. Die meisten Sites sind bereits ausgebucht, aber ein paar freie Plätze gibt es noch. Puh, Glück gehabt. Auf einer Karte wird uns gezeigt, wo diese Plätze sich befinden. Wir wollen am Fluss stehen, so dass sich die Auswahl drastisch reduziert. Vier Sites bleiben, die wir uns anschauen dürfen, um dann zu entscheiden. Wie gut das wir so frühzeitig angekommen sind (für unsere Verhältnisse), es ist kurz vor Mittag. Nichts wie rein ins Auto und los, hinter uns kommen schon die nächsten Besucher. Jutta navigiert mich mit der Map auf ihrem Schoß. Die Ranger, die uns entgegen kommen, winken freundlich und alle anderen, die Bäume beschneiden oder Rasen mähen, grüßen ebenso freundlich. Wir fühlen uns sofort willkommen und auch das Drumherum gefällt uns super. Dann kommen wir in die selbstgewählte Zone Bay 1. Wir fahren einmal den Parcours ab und ich habe mich sofort entschieden. „Was meinst du?“, frage ich Jutta. „Der dritte Platz, der ist es!“ „Yes, auch meine Wahl.“ Wir lassen unsere Stühle dort stehen, damit für alle Nachfolgenden klar ist, diese Site gehört den Godts.

Kiche Manitou Camp – Bay 1

Jetzt schnell zurück zur Rezeption, um unsere Wahl zu verkünden und fest zu reservieren, dann noch etwas Feuerholz aus dem Lagerschuppen mitnehmen und ab geht es zu unserem Platz für die nächste Zeit.

Ich bereite das Lager vor und spanne auch mal wieder das Tarp zwischen LEMMY und den vielen Bäumen auf. So können wir wählen: Sonne oder lieber Schatten. Die Bäume um uns herum bieten noch kein dichtes, schattenspendendes Blattwerk, es befindet sich alles im Wachstum. Die Feuerstelle wird präpariert und die kleinen Campingstühle zur Sonne hin ausgerichtet.

Sundown am Assiniboine River
Nebenarm des Assiniboine River, Bay 1 – Kiche Manitou Campgrouind

Das Camp steht und ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit und unserer Platzwahl. Jetzt gibt’s ein kaltes Bier und wir warten auf den Sonnenuntergang, mit dem Lagerfeuer im Rücken. „Cheers!“

Irgendwann zieht Jutta sich zurück und es ist schwarze Nacht um mich herum. Die Geräusche des Dschungels erwachen, das Lagerfeuer knistert leise und spendet ein wenig Licht in der Dunkelheit. Ohne Musik lausche ich dem Konzert der Grillen, Frösche und was da sonst noch so in der Wildnis ertönt. Als das Feuer endgültig erlischt, begebe ich mich ins Bett.

Unsere Nachbarn auf der anderen Seite sind ein junges Paar mit einem kleinen Kind, vielleicht 3 oder 4 Jahre alt. Sie haben einen großen Wohnwagen und davor steht ein schwarzer Dodge Ram 3500. Lodernde Flammen kleben an seinen Flanken. Der Nachbar kommt rüber zu uns um „Hallo“ zu sagen. Er hat am Kennzeichen erkannt, dass wir aus Deutschland kommen. Wir unterhalten uns eine Weile. Seine Frau und die kleine Tochter winken uns von gegenüber zu. Er zeigt auf LEMMY und beteuert, wie geil er unseren Camper findet. Ich schaue rüber zum Ram und versichere ihm, wie geil ich seinen Pickup finde.

Dann sagt er noch, er will gar nicht lange stören, aber morgen Abend erwarten sie seine Eltern zu Besuch und wir müssen unbedingt zum BBQ kommen und etwas von unserer Reise erzählen. Sie bringen immer viel zu viel Essen mit und wir müssen einfach kommen. Wir haben keine Möglichkeit uns abzustimmen, werden ein wenig überrumpelt, finden ihn aber auch echt sympathisch, also sagen wir zu. Ich baue mir allerdings ein kleines Hintertürchen ein und sage ihm, dass wir nicht sehr lange können, denn ich arbeite an einem neuen Chapter von meinem Reiseblog. Das ist nicht mal gelogen, denn ich werde heute noch anfangen und meine Sitzung morgen fortsetzen.

Das nächste Chapter hat also hier in den Spirit Sands seine Anfänge und wird mich zurückbringen nach Texas und New Mexico, zu Außerirdischen in Roswell und einer Sichtung unbekannter Flugobjekte über Santa Fe.

Das sei alles kein Problem, Hauptsache ihr kommt rüber. Mit den Worten: „See you tomorrow!“ verabschiedet er sich.

In meinem Kopf rattert es kurz. „BBQ ist eigentlich eine super Idee, wir haben doch auch noch einiges für den Grill dabei, oder?“ „Ja, wir haben frische Champignons, Zucchini, Maiskolben, Baguette und Hühnchen am Spieß.“, sagt Jutta. „Na dann her damit, das Feuer brennt schon!“ „Auch einen kleinen Salat dazu?“, will Jutta wissen. „Meinetwegen, aber nur einen Kleinen. Kriege ich auch noch ein Bier zum Grillen?“

BBQ

Nach einem soliden Abendessen mache ich mich an die Arbeit. Mit meinem Laptop ausgestattet, nehme ich Platz unter dem Tarp. Neben dem Laptop stehen ein frisches Bier und ein White Russian on the rocks. Jutta macht es sich am Feuer gemütlich. Irgendwann wird ihr kalt und sie verabschiedet sich ins Bett. Ich höre Musik über meine Bluetooth Kopfhörer, um Jutta nicht zu stören. Dann schreibe ich und schreibe und schreibe….

…..und schreibe, bis auch mir kalt wird und ich mich in die warme Kabine zurückziehe. An Feierabend ist noch nicht zu denken, es läuft zu gut. Wie spät es ist? Spielt keine Rolle. Ich habe morgen nichts anderes zu tun als Schreiben und zum Dinner sind wir sogar eingeladen. Ein weiteres Bier muss her und warum nicht noch einen White Russian? Meine Finger fliegen über die Tastatur, ich muss nicht so sehr auf die Rechtschreibung achten, wenn ich einen Lauf habe. Das ist für Jutta ok, denn wenn ich mich im Flow ständig selber kontrolliere und Fehler korrigiere, dann bremst das meinen Schreibfluss.

Ich genehmige mir einen großen Schluck Pabst Blue Ribbon und nippe etwas am White Russian, dann konzentriere ich mich wieder auf den Bildschirm. Texas liegt hinter uns und wir haben den Staat New Mexico erreicht. Dann passiert etwas Typisches. In meinem Kopf sprühen Funken zwischen den Synapsen, meine neuronalen Verknüpfungen arbeiten auf Hochtouren. Mir fällt ein Song ein, den ich vor einer Weile beim Stöbern in YouTube entdeckt habe, der mich sofort in seinen Bann zog, den ich nie zuvor gehört hatte. Es war Johnny Hobo & The Freight Trains. Der Song heißt „New Mexico Song“. Ich suche und finde ihn auf meinem Streaming Kanal und drücke auf Play. Beflügelt schreibe ich bis zum Morgengrauen, während Johnny Hobo singt….

Am späten Vormittag komme ich langsam zu mir. Zuerst ein wenig frisch machen im Bad und dann brauche ich dringend Kaffee. Jutta sitzt bereits draußen und liest. „Morgen!“, begrüße ich Jutta etwas verkatert. „Is noch Kaffe da?“, frage ich, obwohl ich weiß, dass noch zwei Becher für mich in der Kanne sind.

„Good morning!“

Den Tag verbringen wir herrlich ruhig und gechillt in unserem Camp. Einen kleinen Spaziergang machen wir, um die Gelenke geschmeidig zu halten, ansonsten wird geschrieben, gelesen und geschlafen. Die nahegelegenen Spirit Sands wollen wir uns morgen auf der Weiterreise anschauen. Wir werden daran vorbei kommen, auf dem weiten Weg nach Osten.

Beim Nachmittagskaffee beobachten wir das Treiben gegenüber. Die Eltern bzw. Großeltern sind angekommen und haben sichtlich Spaß mit der Enkeltochter. Wir winken und prosten uns mit den Kaffeebechern zu. Der Umgang mit dem Kind ist liebevoll und die Kleine scheint an Opa und Oma zu hängen. Wir sehen dem Abend optimistisch entgegen. Ein anderer, etwas beleibter Camper, dreht eine Runde auf seinem alten Damenrad und hält vor unserem Platz. Er schaut sich LEMMY an, sieht uns draußen unter dem Tarp sitzen und schon wieder ist eine nette Plauderei unter Campern im Gange. Woher kommt ihr? Wow, aus Deutschland! Was folgt als Nächstes und wohin hat es euch bisher verschlagen? Die Fragen ähneln sich, aber wir erzählen immer wieder gerne vom Verlauf unserer Reise und dem Plan, wie es weiter gehen soll. Nach etwa zehn Minuten radelt er dann zu seiner Campsite und wir nehmen wieder Platz im Schatten, schlürfen den restlichen Kaffee und knabbern Kekse.

Perfekter Stellplatz

Dann kommt der Zeitpunkt unserer Verabredung zum BBQ. Kurz vor sieben machen wir uns fertig und nehmen eine Flasche Wein als Gastgeschenk mit und ich mir dazu noch ein Bier. Der Empfang ist sehr herzlich und das Essen der Großeltern ist, wie vom Junior angekündigt, enorm reichhaltig und vielseitig. Der Gastgeber kümmert sich um den Grill und wir plaudern hauptsächlich mit Opa und Oma. Sie sind sehr interessiert an unserem Trip durch Europa, besonders aber natürlich auch daran, wie es uns in den USA gefallen hat und jetzt in Canada.

Mit unserer Nachbarin werden wir nicht so richtig warm, was allerdings auch daran liegen könnte, dass sie überwiegend mit ihrer Tochter beschäftigt ist. Sie verrät uns, wie sehr sie Hotels liebt und „all inklusive holidays“, Camping ist eigentlich so gar nicht ihr Ding, aber ihrem Mann zuliebe macht sie halt mit. Auch ihre Tochter sei noch in der „Campinggewöhnungsphase“, was das Ganze für alle ein bisschen stressig macht. Wir verbringen sehr angenehme zwei Stunden bei einem schönen amerikanischen BBQ, mit wirklich leckerem Essen (Hühnchen, Steaks, verschiedenes Gemüse, erstaunlich leckerem Brot, Kartoffeln, Nudeln…) netten Nachbarn und tollen Großeltern. Kurz nach neun Uhr verabschieden wir uns dann, weil ich tatsächlich noch einige Stunden schreiben will. Der Junior notiert sich meine Homepage und verspricht mal reinzuschauen. Ob es Sinn macht, mit dem Google Übersetzer meinen Block zu lesen, kann ich nicht beurteilen. „Wenn ihr morgen aus den Federn kommt, dann sind wir schon weg!“, kündigen sie an, denn selbstverständlich haben wir auch über liebgewonnene Gewohnheiten gesprochen. Und eine meiner liebsten Gewohnheiten ist das Ausschlafen.

Morgens nach dem ersten Aufwachen öffne ich mein Rollo und schaue mit verkniffenen Augen aus dem Bett durchs Fenster auf den Platz gegenüber. Sauber und verlassen. Sie müssen wirklich früh aufgebrochen sein, ich schließe das Rollo, trinke einen großen Schluck Wasser, drehe mich um und schlafe schnell wieder ein.

Zum Frühstück erreicht mich eine Nachricht von Omi Hans. Es ist üblich bei uns, dass wir morgens am Tisch erstmal unsere Mails und Kurznachrichten checken, während wir den zweiten Kaffee genießen. Vorher reden wir schon und schmieden Pläne für den Tag oder den Verlauf der weiteren Reise und besonders über Probleme, die wir lösen müssen.

Da gibt es tatsächlich ein Problem über das wir uns seit einer Weile Gedanken machen. Unser Rückflug wurde um zwei Tage vorverlegt. Wir haben jetzt die Option den früheren Flug am 12.07.22 zu nehmen oder einen Flug nach dem 14.07.22, was aber unsere maximale Aufenthaltsdauer von 180 Tage überschreiten würde. Eine frühere Abreise finde ich grundsätzlich schon mal Scheiße. Ich hasse es abzureisen, jedenfalls wenn es in Richtung Waterhole geht. Ich liebe es nur abzureisen, wenn es in die Fremde, in die Ferne geht. Dieses Problem werden wir unterwegs besprechen, im Auto auf der Fahrt ist reichlich Zeit für Problemanalysen. Wir werden auch andere Leute mit einbeziehen, unsere Reiseagentin Frau Docke, unseren Freund Erdal und die diplomatischen Vertretungen von Canada in München, Düsseldorf und Frankfurt. Aber nicht jetzt.

Jetzt wird erst mal die Nachricht von Hans gelesen. Ich lache laut und pruste fast den Schluck Kaffee wieder aus, den ich gerade getrunken habe. Mit einer Hand vor dem Mund (in der Anderen ist mein Handy) bekomme ich wieder Kontrolle über meinen Lachanfall. „Omi Hans hat geschrieben.“, stammele ich vor mich hin. Jutta guckt mich mit großen Augen verwundert an. Ich erkläre ihr was los ist: „Sie hatten, zwei Stunden nachdem wir uns in Rosetown getrennt haben, einen Steinschlag abbekommen. Er verflucht mich und meine verdammten Steinschlagpflaster. Noch nie zuvor hatte er einen Schaden in der Scheibe, aber zwei Stunden nachdem ich ihm die Pflaster gegeben habe, knallt eine Stein vom vorfahrenden LKW in die Windschutzscheibe.“ Auch Jutta kann sich das Lachen nicht verkneifen. Ich schreibe zurück: Na, dann hast du ja immerhin noch drei Pflaster übrig. Hättest du mir ein Tilidinfläschchen, anstelle der Sicherungen gegeben, wäre das nicht passiert!

Gut gelaunt und immer noch amüsiert, baue ich das Camp ab. Es ist etwas bewölkt heute Morgen, aber trocken und somit eigentlich ganz gutes Wetter für eine Wanderung durch die Spirit Sands. So holen wir uns wenigstens keinen Sonnenbrand. Wir checken aus und fünf Minuten später stehen wir schon auf dem Parkplatz vom „Self-Guiding Trail“ durch die heiligen Sanddünen der First Nations.

Spuren im Sand

Die etwa 4 km² großen Spirit Sands sind das Einzige noch unbewachsene Gebiet des Assiniboine Deltas. Seine Sanddünen wandern durch die nordwestlichen Winde und bedecken alles, was ihnen in den Weg kommt. Sie liegen im Nationalpark Spruce Woods, der nach dem einzigartigen Reliktwald, den er schützt, benannt wurde. Er wurde 1964 gegründet und ist ein Teil eines viel größeren Gebietes, in dem bis heute Militärübungen durchgeführt werden.

„No comment!“

Gleich zu Beginn unserer Wanderung werden wir vor Bomben und explosiven Hinterlassenschaften des Militärs gewarnt. Wir sollen nichts Verdächtiges oder Fremdartiges berühren, es könnte schwere Verletzungen oder den Tod bedeuten. Das geht ja gut los. Wir werden auf dem Weg bleiben, dann wird schon nichts passieren. Es geht auf und ab durch Wald und Dünen, die Ausblicke von den Hügeln sind sehenswert, wenig spektakulär. Aber wir wandern auf heiligem Sand der Ureinwohner und das macht uns nachdenklich.

Teilweise ist der Weg beschwerlich und um einen weiteren Hügel zu erklimmen, müssen wir eine Art Strickleiter aus Seil und Holzpflöcken benutzen. Niemand außer uns ist hier. Die Stimmung ist irgendwie besonders. Ich fühle mich wie in einem Niemandsland. Und dann sehe ich Spuren im Sand. „Ist das ein Grizzly oder ein Schwarzbär?“ Ich vermute es ist ein Schwarzer, keine Ahnung, ob es hier in Manitoba überhaupt noch Grizzlys gibt, ich glaube eher nicht.

Mühsamer Aufstieg

Ich nutze noch die Gelegenheit einen weiteren Aussichtspunkt zu erklimmen, Jutta wartet bis ich zurück bin. Danach machen wir uns auf den Heimweg. Am Ende des Trails besuchen wir noch eine kleine Hütte mit diversen Informationen und Bildern zu den Ureinwohnern. Überaus zufrieden können wir uns nun auf den Weg machen `gen Osten, mal wieder mit einem ungewissem Ziel für heute Nacht.

Self Guiding Trail

Weil wir morgens immer so spät in die Hufe kommen und meistens die erlaubte Check Out Time vollständig ausnutzen, ist es mittlerweile schon wieder Nachmittag. Ich möchte aber trotzdem gerne heute noch vier bis fünf Stunden am Lenkrad sitzen und fahren. Jutta recherchiert sofort, was dann als Ziel in Frage kommen könnte. Ich fahre den Provincial Trunk Hwy 5 zurück auf den TC Hwy, um dann rechts abzubiegen, Richtung Winnipeg. The long way east continues.

Spirit Sands

Über die nächsten 412 Kilometer und viereinhalb Stunden bis Kenora, wo wir im Unwetter stranden werden, gibt es nicht viel zu sagen. Wir umfahren Winnipeg über die Umgehungstraße 100, diskutieren verschiedene Möglichkeiten wegen der Rückflugproblematik, kommen aber noch immer zu keinem endgültigen Ergebnis. Ich habe vor kurzem Frau Docke angeschrieben und um Rat gefragt und meinen Freund Erdal gebeten, mal bei den kanadischen Konsulaten in Deutschland nachzufragen, was für Optionen wir haben. Das Problem wird vertagt, bis wir Neuigkeiten aus der Heimat erhalten, weitere Diskussionsgrundlagen werden während der Fahrt erörtert. Jutta vertritt den Standpunkt zwei Tage früher zurückzufliegen, ich will jede erdenkliche Möglichkeit prüfen, zwei Tage später abzureisen. Es bleibt spannend.

Wir lauschen David Nathan und wie er auf seine unbeschreibliche Art und Weise Misery performt. Dunkle Wolken ziehen auf und es fängt zu regnen an. Annie Wilkes hackt Paul Sheldon gerade den linken Fuß mit einer Axt ab und brennt die Wunde mit einem Propangasbrenner aus, weil er unartig war und mit seinem Rollstuhl eine Exkursion durch ihr Haus gewagt hat, in ihrer Definition einen Fluchtversuch. Sie erklärt ihm, dass so mit den Sklaven in Afrika verfahren wurde, wenn sie in den Diamantminen beim Stehlen erwischt wurden. So konnten sie weiterarbeiten, aber nicht mehr fliehen. „Hobbeln“ nennt man diese Operation.

„Wollen wir nicht bald mal halten?“, fragt Jutta. „Das Wetter wird immer schlechter!“ „Ja, meinetwegen, hab auch keinen Bock mehr!“, sage ich. „In Kenora gibt es eine Möglichkeit direkt an der Straße, nur noch eine Dreiviertelstunde von hier!“ „Ok, klingt gut, bin dabei. Macht keinen Spaß mehr zu fahren bei dem Wetter.“

In Kenora fahre ich auf einen Parkplatz am Highway und finde mit Mühe eine Lücke zwischen zwei LKWs. Ich parke und wir legen uns hundemüde ins Bett, nachdem wir nur kurz die Zähne geputzt haben. Es brummt vor und hinter uns. Blitze erhellen den Himmel und der Wind zerrt am Auto. Hin und wieder Donnerknall. Ich zähle die Sekunden bis zum nächsten Donner. Eine halbe Stunde später fragt Jutta: „Kannst du schlafen?“ Ich sage: „Nee, die Arschgeigen schalten ihre verdammten Motoren nicht ab.“ Gemeint sind die LKW Fahrer. „Soll ich umparken?“ Jutta sagt: “Ja bitte, wenn es dir nichts ausmacht.“

Ich ziehe mir notdürftig was über und steige aus der Kabine ins Auto, um einen ruhigeren Stellplatz zu finden. In einer vorderen Reihe, etwas näher am Highway, aber weiter entfernt von den LKWs, finde ich einen besseren Platz. Jutta macht sich Sorgen, weil wir in der Kabine keinen faradayschen Käfig um uns haben, wie es im Auto der Fall wäre. Ich versuche sie zu beruhigen: „Wir sind hier umringt von Bäumen und wenn der Blitz einschlagen sollte, dann trifft er nicht uns, sondern einen höheren Baum neben uns. Dann sterben wir nicht durch Blitzschlag, sondern höchstens durch einen Baum, der auf uns fällt!“, füge ich scherzhaft an. Ich denke, jetzt ist Jutta sicher beruhigt.

Schnell wieder ins Bett und zurück nach Sidewinder, Colorado, zu Annie Wilkes und Paul Sheldon ……in meinen Träumen. Paul schmiedet einen Plan, wie er Annie überlisten kann aus diesem Albtraum zu entkommen. Er sammelt Novril Tabletten, immer wenn er eine entbehren kann, dann versteckt er sie in seiner Matratze. Er hat Miserys Rückkehr fast fertiggestellt und Annie kann es kaum erwarten das Finale zu lesen. Sie haben ein Date zum Dinner, wenn Paul sein Werk in wenigen Tagen vollbracht hat. Paul plant Annie mit seinen Tabletten in ihrem Wein zu betäuben und dann zu töten. Annie erwartet ein grandioses Dinner mit ihrem Lieblingsautor und die Wiederkehr Miserys in Pauls Roman. Sein Plan geht ganz gut auf, er kann seine Drogen in ihrem Weinglas unterbringen, aber Annie ist ungeschickt und verschüttet ihren Drink…

Real sind wir angekommen in Ontario. Zwei weitere Bundesstaaten liegen hinter uns. Saskatchewan und Manitoba. Der nächste Tag beginnt früh, sehr früh. Wir waren aber auch zeitig im Bett letzte Nacht. Heute steht ein echter Marathon an. Ich will mindestens bis Thunder Bay kommen, was eine Strecke von 489 Kilometer bedeutet und eine Nettofahrzeit von fünfeinhalb Stunden. Wenn möglich, will ich auch noch weiter fahren. Der Trans Canada Highway fordert uns, fordert LEMMY, verschleißt Material, aber er ist nicht so endlos wie befürchtet. Wir kommen voran, weiter und weiter. Wir besprechen, diskutieren und streiten. Wie regeln wir das mit der Flugänderung? Ich bringe meine Argumente, Jutta die Ihren. Ich schlage vor in Sault Ste. Marie direkt an der USA/Canada Grenze zu fragen, was wir für Optionen haben und dabei belassen wir es fürs Erste. Mal abwarten, was wir von Erdal und Frau Docke erfahren. Vielleicht bringt uns das weiter.

David Nathan versüßt uns die Fahrt. Er erweckt die Geschichte zum Leben, Bilder entstehen in unseren Köpfen, vor unseren Augen. Wir hören ihm nicht nur zu, wir sehen alles klar und deutlich vor uns, in Farbe und das geschriebene Wort erwacht und lebt.

Paul Sheldon ist mächtig auf Entzug von seinen liebgewonnenen Novril Tabletten, er muss immer mal eine Dosis auslassen, um sie für seinen perfiden Plan zu nutzen. Die Geschichte nähert sich unaufhaltsam seinem Ende und die verrückte Annie schneidet Paul den linken Daumen mit einem Elektromesser ab, weil er ihr nicht das Ende von Miserys Rückkehr erzählt. Mehr verrate ich nicht von diesem großartigen Buch. Lest es oder lasst es euch vorlesen, es lohnt sich.

Wir reißen Kilometer ab, einen nach dem anderen. Stunden später erscheint der Lake Superior in unserem Blickfeld. Er ist der größte der fünf großen Lakes, des größten Süßwassersystems der Erde. Von Anfang an bin ich fasziniert von dem Anblick und dem Ausmaß des Sees. Ich weiß aus TV Reportagen, dass der See sich für Schiffe wie ein Weltmeer verhalten kann. Er verschlingt ganze Schiffe, als wären es Spielzeuge. In Thunderbay angekommen, will ich noch weiter fahren. Es bleibt noch hell für ein paar Stunden und wir sind früh aufgebrochen heute. Jutta ist auf meiner Seite und bereit mit mir weiter zu fahren. An einer Haltebucht stoppe ich kurz, um die Dimensionen des Sees zu ergründen, aber es gelingt nicht. Er ist zu riesig, zu gigantisch, um das Ausmaß auch nur zu erahnen.

„Lass uns weiter fahren, ich hab noch Bock und will nach Killarney!“; sage ich zu Jutta. „Ok!“, sagt sie „Dann los!“

Ich fahre und wir erreichen nach 811 Kilometern und weit mehr als zehn Stunden unser Ziel, den Pukaskwa Hattie Cove Campground. Wir sind am Lake Superior angekommen und nachdem wir die Mücken als nicht abwendbares Übel akzeptiert haben, freuen wir uns über den Stellplatz. Wir sind nach endlosen Stunden auf der Straße am Ziel und ich sehne mich nach nichts mehr, als nach einem kalten Bier, an diesem langen Tag.

Horseshoe Bay

Es ist der 30.05.2022, wir sind in Ontario am Lake Superior, im Pukaskwa National Park. Ich habe ein kaltes Bier zwischen den Knien und wir genießen den Sonnenuntergang über den See. Es ist mehr als nur ein See, es ist ein vollständiges Ökosystem.

Am Lake Superior

Auf unseren kleinen Campingstühlen sitzen wir nun hier an der Horseshoe Bay. Das Wasser des Lakes eiskalt, ebenso wie unsere Biere. Wir machen Pläne. Nach Toronto wollen wir und zu den Niagara Falls, vorher aber steht Killarney an, am Huron Lake. Dort waren wir 2006 bereits einmal. „Weißt du noch, die Betrunkene beim Fish Fry Festival der Ortsfeuerwehr?“, sage ich. Jutta grinst: „I´m so off!“, erwidert sie. „Die wollte doch unbedingt mit dir Tanzen, erinnerst du dich?“ Nö, wirklich? Muss ich verdrängt haben!“

Wir machen uns ein weiteres Bier auf und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Helios verabschiedet sich am Ende des Strandes hinter den Bäumen von diesem Tag und ich verabschiede mich von diesem Chapter. Cheers!

Lake Superior – Pukaskwa N. P.

….und was als nächstes geschieht….

CHAPTER IV – Vom besten Schreibtisch der Welt an der Georgian Bay, hinter die Fälle und hinauf in schwindelerregende Höhen

…und wie ich unbeabsichtigt eine ganze Kneipe zum Lachen bringe…

Chapter 26 – Durch die verschneiten Rocky Mountains über den legendären Icefields Parkway in die Wüste

…und warum man besser nicht auf den gefrorenen Lake Louise geht, wenn Schilder vor dünnem Eis warnen…

Vancouver liegt schon ein ganzes Stück hinter uns und wir fahren straigth north. Über den „Sea to sky Hwy 99“ geht es zunächst nach Squamish um dort LEMMY gründlich zu waschen. Es ist perfektes Wetter für die Straße. Die Sonne scheint, nur gelegentlich ziehen ein paar Wolken vorbei und verdunkeln den blauen Himmel. Der Asphalt ist trocken und der Name des Highways hält was er verspricht.

Wir haben richtig Bock wieder weiter zu reisen und werden sehen, wohin der Weg uns führt.

Natürlich gibt es eine grobe Route und einige Eckpunkte sind gesetzt, aber wie ich uns kenne werden wir hier und da abweichen. Mehr will ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen, aber so viel sei gesagt: Vom Icefields Parkway in Alberta werden wir noch einmal umdrehen und zurück nach B.C. in die Wüste fahren. Und ja, Canada hat eine Wüste!

„Hey, war da links nicht gerade die Waschhalle?“, frage ich Jutta, als wir das Ortsschild Squamish passiert haben. „Könnte sein, sah irgendwie so aus. Wende doch da vorne an der nächsten Ampelkreuzung!“, erwidert sie.

Lunchtime after work at Tim Hortons

Ich drehe und fahre zurück. „Hast du gesehen, da gibt es auch einen Tim Hortons und Wendys!“

„Hast wohl Lust auf Chili, was?“, sagt Jutta.

„Absolutly und auf einen Coffee to go……., und einen Donut!“

Jutta kümmert sich um die Bezahlung am Automaten mit ihrer Kreditkarte und ich erledige das Einschäumen von LEMMY. Die Halle ist hoch und breit genug, dass ich gut ums ganze Auto herumlaufen kann mit der sperrigen Hochdruckpistole. Nach dem Schaum kommt dann die Vorwäsche und Jutta hält mich mit dem Zeitcounter auf dem Laufenden. „Noch dreißig Sekunden, gib Gas!“, ruft sie mir zu. Ich beeile mich sehr und schäume, schrubbe und reinige was das Zeug hält.

Danach nehme ich noch die Plane von den Bikes ab und hänge sie an der Wand auf, damit ich auch sie reinigen kann.

Car Wash in Squamish

„Ich brauche noch einmal kurz Schaum und dann klares Wasser!“, fordere ich. „Na gut, aber wir sind schon fast bei 20 Dollar. Ist kompliziert mit der Eingabe hier an dem Scheißapparat.“

Mit knapp dreißig Dollar war das nicht gerade eine günstige Autowäsche, aber jetzt sieht LEMMY wieder aus wie neu und das fühlt sich ziemlich gut an.

Ich verzurre die Bikes unter der Plane und parke LEMMY bei Tim Hortons. Es sieht nach Frühling aus, alles blüht so schön.

So sauber war LEMMY lange nicht mehr

Für mich gibt es das obligatorische Chili, einen Kaffee und den Boston Style Donut. Jutta wählt eine vegetarische Lunchvariante, Kaffee und einen Donut mit „Salted Caramell“ Geschmack.

Nach dem kurzen Lunchbreak geht es wieder auf die Straße. Gestärkt und voll motiviert setzen wir die Reise fort. Lange genug waren wir in und um Vancouver. THE WÖRLD IS YOURS is on the road again.

In Whistler verbringen wir nur wenig Zeit. Wir kennen den Ort und waren unter anderem bereits auf dem Black Comb Mountain. Ich fahre einmal in das Zentrum, um zu sehen wie es sich verändert hat und weil Whistler eine bedeutende Rolle in Frank Schätzings Buch „Der Schwarm“ spielt. Dies ist eines meiner Lieblingsbücher, das ich auf einer früheren Kanadareise an die Ostküste regelrecht verschlungen habe.

Weiter geht es für uns auf dem Hwy 99 und überall gibt es so unglaublich schöne Aussichten, dass mir wieder mal die Worte fehlen, um es angemessen zu beschreiben. Wir lassen den Daisy Lake hinter uns und den Brandywine Fall, der seinen Namen von den Entdeckern bekam. Eine Erzählung besagt, dass zwei Landvermesser mit einem Boot unterwegs waren. Der Eine von ihnen hatte eine Flasche Brandy im Gepäck, der Andere eine Buddel Wein. So tauften sie den Wasserfall „Brandywine“.

Somewhere at the Sea To Sky Hwy

Hinter Whistler fahren wir eine ganze Zeit am Green Lake entlang und Jutta ist bereits fleißig am Recherchieren, wo wir die Nacht verbringen können. Am Lillooet Lake schlägt sie vor. Die „Strawberry Point Recreation Site“ soll traumhaft sein und abgelegen an einer Dirt Road liegen. Vorher können wir sogar Brot kaufen, von einem deutschen Bäcker in Lillooet. Ich finde, das klingt großartig.

Unterwegs müssen wir immer wieder anhalten, um schneebedeckte Berge zu fotografieren und die Aussicht über verschiedene Seen zu bewundern. So werden aus einer 176 km kurzen Strecke, die nicht länger als 2,5 Stunden dauern sollte, mal eben 5 Stunden. Na gut, wir haben auch das Auto innerhalb dieser Zeit gewaschen und Lunchpause gemacht.

Der deutsche Bäcker in Lillooet existiert leider nicht mehr, also fahren wir direkt zum „Strawberry Point“ .Ich freue mich riesig über Juttas Wahl, denn ich habe etwas Offroadfeeling und wir werden wieder in einer wahnsinnigen Traumkulisse stehen.

What a view!

Am 6. Mai 2022 registrieren wir uns selbst auf einem riesigen Campground inmitten dichter Bäume, suchen uns unter wenigen anderen Campern einen geeigneten Platz aus und werden schnell fündig. Nachdem LEMMY steht und das Lagerfeuer für den Abend präpariert ist, laufen wir noch runter an den Lillooet Lake, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen und den Sonnenuntergang zu verfolgen. Mit unseren beiden kleinen Campinghockern und ein paar Büchsen Bier gehen wir los und staunen nicht schlecht über den Strand, den riesigen Baumstamm, der hier rum liegt und die „Gute Nacht!“ wünschende Sonne.

Strawberry Point

Mich erstaunt es immer wieder, wie es möglich ist, dass die schönsten Plätze an denen wir schon gestanden haben, immer noch übertroffen werden.

Nach einem imponierenden Sonnenuntergang am See steigen wir wieder hoch zu unserem vorbereiteten Lagerfeuer und lassen den Abend gemütlich ausklingen. Es gibt noch ein kleines Nachtmahl und wir beschließen eine weitere Nacht am Strawberry Point zu verbringen.

Lillooet Lake

Irgendwann verglimmt das Feuer und Jutta wird kalt, ich war wohl zu langsam mit dem Holznachlegen. Jutta verabschiedet sich ins Bett. Mir ist es noch zu früh zum Schlafen gehen und drum lege ich zwei Scheite nach. Holz zum Kleinhacken habe ich am Nachmittag genug gefunden. Ich hole mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank, wärme mich am auflodernden Feuer und höre etwas Musik vom Handy. Hier störe ich niemanden, höchstens Jutta. Aber mit den Kopfhörern, die ich später benutze, nicht mal mehr sie. Wir sind fast alleine, einige Nachbarn haben wir, aber weit entfernt.

Ich grüble vor mich hin, Kanada ist einfach riesig groß und dünn besiedelt. Kein Vergleich zu den vollen Campgrounds in den Staaten. Auf die Ohren gibt es die Live Version von Beth Hart – Setting me free. Gute Lagerfeuermusik! Dann fröstelt mich und ich überlege schlafen zu gehen. „Ach was, ein Bier noch!“ Ich pinkle in die Natur, genieße meine Musik und freue mich über die kleinen Dinge im Leben. Ein kaltes Bier am Lagerfeuer in den kanadischen Wäldern, dazu meine Lieblingslieder. Dann wird mir klar, so klein sind die Dinge nicht, die ich hier erlebe. Manche Menschen reisen vielleicht nur einmal in ihrem Leben nach Kanada und bleiben drei oder vier Wochen. Demütig und dankbar versuche ich das alles einzuordnen und irgendwie auch einen positiven Betrag zu leisten, merke aber, wie schwer mir das als Globetrotter fällt. Ich will und werde weiter darüber nachdenken, welchen Beitrag ich leisten kann die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Ein letztes Bier am Feuer nehme ich mir noch zum Nachdenken. Dann spiele ich „Through the glass“, von Corey Tayler, trinke mein Bier aus und gehe ohne eine Antwort zu finden ins Bett.

Sun goes down

Unseren Morgenkaffee genehmigen wir uns unten am Lillooet Lake und ich berichte Jutta von meinem Gefühlsdilemma letzte Nacht. Ab jetzt werden wir beide darüber nachdenken, wie wir unseren Fußabdruck etwas kleiner ausfallen lassen können. Wer diesen Blog von Anfang an verfolgt weiß, wir sind seit Beginn der Tour (und auch schon lange in unserem alltäglichen Leben zu Hause) damit beschäftigt, unsere Spuren gering zu halten. Aber wir nehmen auch bewusst in Kauf eine sichtbare Spur zu hinterlassen. Wir wandern nicht um die Welt, wir fahren. Wir buchen Flugreisen, sind mit dem Motorrad gefahren, nur zum Spaß und wir machen noch viele andere Fehler, aber der Anspruch sich zu verbessern ist da. Nur Müll einsammeln und den Platz sauberer zu hinterlassen als man ihn vorgefunden hat, das reicht einfach nicht. Im Augenblick muss ich mich noch dazu bekennen in vielen Bereichen eine Umweltsau zu sein, da nützen die besten Absichten nichts. Vielleicht bekomme ich noch eine Kehrtwende auf die Reihe.

Den Strand in dieser einmaligen Kulisse haben wir für uns alleine. Wieder dicht am Wasser, vor dem toten endlos langen Baumstamm, der hier vermutlich seit einer halben Ewigkeit liegt.

„Cheers!“

Mit Müsli und Kaffee in den Tag zu starten, mit so einem Blick, was gibt es Schöneres?

Ich nehme mir vor später etwas Holz zu hacken, damit wir für die kommende Nacht gerüstet sind.

Was uns beide immer wieder begeistert, ist die allgegenwärtige respektvolle Haltung der Umwelt gegenüber, dem Wildlife. So sind wir auch hier am Strawberry Point mit einer großen Informationstafel konfrontiert, an der u. a. Verhaltensrichtlinien im Umgang mit Bären stehen. Zum Beispiel lesen wir: „A FED BEAR IS A DEAD BEAR“, was im Grunde bedeutet: Wer Bären füttert, nimmt es in Kauf, dass sie erschossen werden. Denn diese Bären verlieren ihre natürliche Scheu vor dem Menschen. Sie verbinden Menschen mit leicht erreichbaren Futterquellen und nähern sich ihnen, was sehr gefährlich werden kann. Nirgends liegt Müll rum, wie wir es aus Europa kennen. Die Kanadier und deren Gäste packen ihren angefallenen Unrat nach dem Picknick zusammen und nehmen ihn mit oder entsorgen ihn entsprechend vor Ort in bärensicheren Mülleimern.

Info Tafel am Lillooet Lake – Strawberry Point

Wir machen einen langen Spaziergang, nachdem unser Frühstücksequipment im Camp abgeliefert ist und verbringen einen herrlichen Tag in traumhafter Natur. Als wir am Nachmittag zurück sind, erinnert Jutta mich daran Holz zu hacken. „Du hattest doch noch was vor, oder?“, sagt sie.

„Ja ich weiß, das hätte ich nicht vergessen. Mit meiner scharfen Husky Axt macht es sogar Spaß!“

Camp Fire

Am hell lodernden Lagerfeuer schauen wir uns die Route für morgen an. In den Wells Gray Provincial Park wollen wir. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird das mal wieder ein richtiger Road Day, ein langer Tag auf der Straße. 422 Kilometer erwarten uns und eine reine Fahrzeit von 5 Stunden und 24 Minuten, laut Google Maps. Dazu kommen erfahrungsgemäß einige Stops an attraktiven Orten und Viewpoints, Pinkelpausen, Lunchbreak und Kaffeepause und Einkaufen müssen wir auch mal wieder. „Das können wir gut in Kamloops erledigen!“, schlage ich vor. „Dort gibt es alles und viele Camper versorgen sich dort für ihre Outdoor Abenteuer!“ Jutta ist einverstanden und wir freuen uns auf morgen. Ich habe Bock zu fahren und aus dem Auto die grandiosen Bergwelten zu bestaunen. Und Jutta liebt es sowieso während der Fahrt die vorbeiziehenden Flüsse zu bestaunen, die Seen und die schneebedeckten Gipfel.

„Wollen wir trotz der langen Fahrt noch mal unten am See frühstücken?“, fragt sie.

Ist der Papst katholisch?“, antworte ich lächelnd.

Diese Nacht bleibe ich nicht noch lange alleine am Lagerfeuer sitzen. Wir wollen morgen ausgeruht starten. Jutta macht sich im Bad schon mal fertig und ich lösche die letzten Flammen. Wer in den nächsten Tagen diesen Platz auswählt wird reichlich gehacktes Feuerholz vorfinden.

Morning

Mit unseren großen Kaffeemugs und geschmierten Butterbroten laufen wir runter an den Lake, bevor es dann endlich losgeht.

Wir folgen zunächst der „99“ und es geht immer höher hinauf. Der Schnee links und rechts der Straße wird mehr. Für die erste Pinkelpause klettere ich auf einen hart gefrorenen Schneeberg vor einem Schild mit der Aufschrift: „YOU ARE IN GRIZZLY BEAR COUNTRY“.

Das werden wir bald bestätigen….!

Zweispurig schlängelt sich die schmale Straße durch die Berge und wir kommen an die Gabelung der „97“ und haben die Möglichkeit Richtung Prince George zu fahren, geradewegs nach Norden oder die gestern abgesprochene Richtung Osten nach Kamloops, um dort einzukaufen. Wir überlegen einen Augenblick. Nach kurzer Bedenkzeit halten wir am Plan fest und fahren nach Kamloops.

Noch bevor wir den Ort erreichen, kommen wir am vereisten Kamloops Lake vorbei, der irgendwann darauf zum Thompson River wird. Zwischendurch halten wir immer wieder an, um die beeindruckenden Landschaften zu bewundern. Als wir schließlich das Ortsschild hinter uns haben, stocken wir großzügig die Vorräte auf. Es stimmt was im Reiseführer steht. In Kamloops gibt es alles, was das Herz begehrt.

Safety First!

Weiter geht es nach Clearwater und dahinter führt uns eine noch schmalere Straße hinein in den riesigen Wells Gray Provincial Park. Das Ziel für die Nacht ist der Falls Creek Campground, weit abseits der Zivilisation am südlichen Ende des Clearwater Lakes. Erreichen werden wir das Camp leider nicht.

Über die Clearwater Valley Road geht es immer weiter in den Provincial Park hinein. Links und rechts sind einige Wasserfälle ausgeschildert. Wir wollen allerdings nur zum schönsten von ihnen, dem Helmcken Fall. Hinter einer Steilkehre geht es runter zu einer kleinen Brücke, die uns sicher über den Murtle River trägt. Ich filme mit unserer DGI Kamera aus dem Auto und lasse Jutta hinter der Brücke aussteigen, damit sie mich von außen mit dem Handy filmen kann. Dann fahre ich zurück und wende oben in der Kurve. Jetzt nehmen wir die Fahrt von beiden Perspektiven auf, ich von innen mit der Dashcam und Jutta filmt von der anderen Seite der Brücke, wie ich aus sie zugefahren komme. Sie lässt mich dieses Manöver dreimal wiederholen, dann erst ist sie zufrieden mit der Aufnahme.

Der Helmcken Fall liegt nicht weit abseits unserer Route zum Clearwater Lake, also machen wir den kleinen Abstecher doch jetzt schon. Es scheint, als seien wir die einzigen Menschen in diesem großen Gebiet, denn gesehen haben wir weder andere Fahrzeuge noch Personen. Das wird sich vielleicht am Hotspot des Parks ändern, dem Wasserfall. Ich folge der Beschilderung, biege links ab und wir stellen LEMMY am Ende der Strecke auf einen verlassenen Parkplatz. Den Rest des Weges müssen wir laufen.

Das Rauschen des Helmcken Falls ist bereits zu hören und wird mit jedem Schritt lauter. Und dann sehen wir ihn endlich, alleine, niemand sonst ist hier. Die Wassermassen stürzen in eine Schlucht und die Gischt gefriert von unten nach oben. Ein weißes Band, der Clearwater River fließt durch die Bäume und ein nie enden wollender Strom ergießt sich in diesen runden Krater. Ab hier heißt der Fluss Murtle River. Wir bewundern eine Weile das Naturschauspiel, denn der Helmcken Fall ist wirklich einer der besonders schönen Wasserfälle.

Helmcken Fall – Wells Gray Provincial Park

Auf dem Trampelpfad wandern wir zum Auto und folgen der Straße zu unserem Ausgangspunkt. Jetzt ist die Zeit gekommen unser Tagesziel anzusteuern. Die Brücke liegt bereits weit hinter uns und die Clearwater Valley Road schlängelt sich nordwärts. Doch dann geht es nicht mehr weiter. Ein Schlagbaum versperrt uns den Weg. FUCK!

Hinter der gesperrten Straße türmt sich der Schnee. Ab hier wird offensichtlich nicht mehr geräumt. Jedenfalls jetzt noch nicht. Uns bleibt nichts anderes übrig als den ganzen Weg zurück zu fahren. Na was soll`s? So weit war es nun auch nicht, nur ein paar Kilometer. Jutta hat bereits eine Alternative parat, den Pyramid Campground. So wende ich also und wir fahren zurück, bis zu einem Hinweisschild, biegen links ab und folgen einer kleinen Piste in den Wald.

Kein Mensch ist hier. Registrieren müssen wir uns wieder selber. Jutta nimmt sich einen Umschlag für das Geld aus der Box an der Infotafel und dann verschaffen wir uns einen ersten Überblick. Ich fahre einmal im Kreis um den gesamten Platz. Wir sind alleine. Drei Stellplätze fallen in die engere Wahl, wir sind uns uneinig. Zuviel Auswahl ist nicht immer von Vorteil.

Der eine Platz ist etwas schräg, der Andere zu offen, wieder Einer hat die Feuerstelle nicht da, wo ich sie gerne hätte usw..

Wir entscheiden uns für einen Platz weit hinten, an dem wir ein wohliges Gefühl haben. Etwas Feuerholz liegt schon bereit und wir haben genug Abstand zu den nächsten Stellplätzen, was eigentlich völlig egal ist, da wir die einzigen Camper hier sind.

Nachdem LEMMY perfekt steht, plündere ich benachbarte Feuerstellen. In mir steckt wohl doch noch etwas von meinen wilden Vorfahren, den Wikingern. Es ist jetzt schon recht kühl, da wird uns das Feuer heute Abend ausreichend Wärme spenden. Jutta tütet einige kleine Dollarscheine in den Umschlag ein und spaziert über den weitläufigen Platz zur Selfregistration. Ich haue mich eine Stunde aufs Ohr. Heute war ein langer Fahrtag.

Beim Abendbrot hören wir Motorengeräusche. Dreht der Ranger seine Runde? Neugierig stürmen wir ans Fenster, versuchen unauffällig rauszuschauen. Zwei helle Lichtkegel kommen näher, bahnen sich einen Weg durch die Dunkelheit. „Das ist ein großes Auto!“, stelle ich fest. „Der Ranger ist das nicht, die fahren immer Pickups.“ Da kommt ein Leihcamper und stellt sich ausgerechnet auf den Nachbarplatz.

Wahrscheinlich sind sie froh nicht ganz alleine hier draußen zu sein.

Wir essen zu Ende, räumen ab und dann kümmere ich mich mal um das Lagerfeuer. Gesehen haben wir unsere neuen Nachbarn noch nicht. Das geplünderte Holz und das, was ich aus dem Wald gesammelt habe, sollte für einige Stunden reichen.

Ich spalte noch einige zu groß geratene Scheite mit meiner Axt in etwas gefälligere Stücke und kürze zu lange Stämme, die in der Nähe rumlagen.

Mit dem selbstgemachtem Anmachholz und etwas Bierkarton brauche ich selten mehr als einen Streichholz, um das Feuer in Gang zu bekommen. Als die Flammen sich gerade entwickeln und ich größere Stücke nachlegen will, höre ich Stimmen und Schritte auf mich zukommen. Na, wer kann das wohl sein?

Ich schaue vom Feuer auf und sehe ein junges Pärchen vor mir im Lichtschein unserer Außenbeleuchtung. „Hallo!“, sagen beide gleichzeitig. „Wir wollten mal fragen, ob wir uns mit zu euch ans Feuer setzen dürfen? Wir sind noch nicht so geübt mit Lagerfeuer machen!“, fährt sie fort. „Wir können auch ein paar Bier und etwas von unserem Feuerholz mitbringen!“, stimmt er ein.

Ich erhebe mich aus meiner gehockten Position und sage: „Selbstverständlich, herzlich willkommen!“ Dann rufe ich Jutta im Auto zu: „Jutta, wir haben heute Gäste!“

Sie stellen sich als Jana und Marcel vor. Jutta ist mittlerweile aus der Kabine gekommen und nachdem wir nun bekannt geworden sind, holen die Beiden ihre Stühle, einen Karton mit Bier und etwas von ihrem Feuerholz zu uns rüber. Das trockene, gekaufte Bündel ist besonders in der Anzündphase besser geeignet, als das feuchte, im Wald liegende Holz.

Mit dicken Pullovern machen wir es uns in den Stühlen bequem, mit einem Fell unter dem Hintern und im Rücken und einer Wolldecke über den Beinen. Sie haben sich tatsächlich sehr gefreut, als sie uns hier haben stehen sehen. Und besonders, dass wir aus Deutschland kommen. LEMMY ist ihnen sofort als ungewöhnlich aufgefallen und beim Blick auf das Kennzeichen war dann alles klar.

Somewhere on the road to the Wells Gray P. P.

Sie kommen aus Braunschweig und sind für drei Wochen in Kanada unterwegs, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Ihre Route geht von Calgary über den Icefields Parkway (den sie bereits hinter sich haben), dann über Jasper und den Wells Gray Provincial Park nach Vancouver Island und schließlich nach Vancouver um den Camper abzugeben und heimzufliegen.

Wir unterhalten uns prächtig, obwohl Jutta und ich wohl mindestens doppelt so alt sind wie Jana und Marcel. Die Chemie stimmt und wir sind uns sehr sympathisch. Unsere ersten beiden Kanadareisen haben wir ebenfalls mit so einem Leihmobil absolviert. Jetzt reden wir aber mehr über die aktuelle Reise und tauschen Insiderinformationen aus, z. B. wo Jutta und ich auf Vancouver Island gestanden haben, denn diese Information steht sicher nicht in einem herkömmlichen Reiseführer. Sie berichten uns von enormen Schneemassen auf dem Parkway und dass noch sehr viele Nebenpässe und Campgrounds gesperrt sind. Die Hauptstrecke sei aber geräumt.

Auch Privates und Berufliches wird bequatscht und zwischendurch muss ich gelegentlich Holz nachlegen, die ein und andere Pinkelpause machen und Bier aus dem Kühlschrank holen. Mein Bier muss immer eiskalt sein, so mag ich es am liebsten. In einer Bar in Singapore, in der ich mal war, wurde das Bier vom Barkeeper direkt aus einer Eismasse unter dem Glas Tresen serviert. „To cold to hold!“, stand da geschrieben. Zum Glück habe ich allzeit einen Beercooler dabei, der erstens das Bier auch bei 30° und mehr kalt hält und zweitens die Finger warm. Mit so einem Neopren-Beercooler fühlt sich die Flasche/Dose auch schön griffig an, das gefällt mir. Hier ist es leider weit entfernt von 30° Celsius und wir rücken näher ans Feuer. Marcel fotografiert auch viel und fast professionell. Wir tauschen unsere Instagram Accounts aus und folgen einander ab jetzt. So können wir auch unterwegs in Kontakt bleiben und uns auf dem Laufenden halten oder bei Problemen nachfragen.

Warum sie jetzt, so früh in der Saison schon auf Reisen sind, will ich wissen. Die Ferien haben doch noch lange nicht angefangen. „Weil wir jetzt Zeit haben und es nicht so voll ist. Außerdem ist es günstiger als in der Hauptsaison, sowohl die Flüge als auch die RVs.“

Das im Mai allerdings noch so viele Plätze geschlossen haben, das hat auch Jutta und mich überrascht. Marcel hat sogar bei dem RV-Verleiher nachgefragt, wo sie denn Campen sollen, wenn die meisten Plätze noch zu sind. Das wisse er auch nicht, wild campen sei jedenfalls verboten, hat er nur gesagt. Wir lachen uns alle kaputt darüber, denn irgendwie geht es ja doch immer. Als Jutta hört, dass die Beiden hauptsächlich mit der Park4Night App recherchiert haben, zeigt sie die IOverlander App. Marcel und Jana sind ganz begeistert, weil dort so viel mehr Stellplätze eingetragen sind. Sie ärgern sich ein bisschen, diese App nicht schon vorher gekannt und benutzt zu haben.

Morgen werden sich unsere Wege leider schon trennen, denn Marcel und Jana fahren weiter nach Westen. Unser Ziel wird der „Mount Robson Provincial Park“ sein, denken wir jedenfalls jetzt noch. Nach einigen Stunden am Lagerfeuer mit tollen Gesprächen und einem netten Paar geht der Holzvorrat langsam zur Neige. Wir verabreden, uns eventuell auf dem Reload Festival im August `22 in Sulingen zu treffen. Aber vorher verabschieden wir uns natürlich noch, nach dem Frühstück morgen früh.

Am späten Vormittag ist ,wie üblich, alles schnell verstaut, so dass jetzt nur noch der Abschied ansteht. Marcel und Jana waren etwas flotter fertig als wir und kommen gerade rüber zu uns, während ich in den letzten Zügen bin und gerade alle Klappen verschließe. „Hey moin!“, begrüße ich die Beiden. „Guten Morgen!“, sagen sie. Na, habt ihr gut geschlafen?“, fragt Jana. Jutta lugt zur Tür raus: „Guten Morgen!“

„Klar, hab geschlafen wie ein Baby.“, antworte ich. „Hatten ja ein paar schöne kleine Schlummertrünke.“

Dann geht es ans Umarmen und wir geben uns gegenseitig gute Wünsche mit auf den Weg. Die Tagesetappe von beiden Teams wird noch kurz erörtert und nun winken wir ihnen hinterher, bevor wir ein paar Minuten später selber den Pyramid Campingplatz verlassen. Noch immer sind alle Plätze unbesetzt und der große Run wird wohl noch ein paar Tage auf sich warten lassen oder gar Wochen?

Zunächst geht es wieder zurück nach Clearwater, den Weg nehmen auch Marcel und Jana, dort werden wir links abbiegen nach Nordosten. Marcel und Jana fahren noch eine ganze Weile weiter nach Süden, bis Kamloops und ab da auf die `99 in den Westen, den wunderschönen Sea to Sky Hwy. entlang.

Für uns geht es weiter in die verschneiten Rockies, die Berge werden höher und die Wolken hängen tief. Der Mount Robson ist mit 3954 Metern der höchste Berg der kanadischen Rocky Mountains, aber leider erkennen wir nur unten das Massiv, der Gipfel bleibt verborgen hinter dichten Wolken. Wir sind kurz davor die Landesgrenze von B.C. nach Alberta zu überqueren und damit auch eine Zeitzone, das wollten wir aber eigentlich erst morgen machen.

Mt. Robson

Der Mt. Robson Provincial Park ist geschlossen, ebenso das Visitor Center. Wir schauen noch nach einem Campingplatz auf der anderen Seite der Straße. Geschlossen! Als wir etwas abseits der Hauptstraße nach einem netten Ort zum Freistehen suchen, finden wir keine Stelle, die uns begeistert. Aber dafür erleben wir eine weitere Bärensichtung. Ein junger Schwarzbär ist auf Futtersuche und nimmt nur kurz Notiz von uns, bis er sich wieder seiner Beschäftigung widmet.

„Ach komm, wir fahren heute noch nach Alberta in den Jasper National Park. Da verlieren wir dann eine Stunde vom Tag, aber was soll´s? Verloren geht die Stunde morgen auch.“ Jutta überlegt kurz und sagt dann: „Na gut, wenn es dir nicht zu viel mit Fahren wird.“ Ich schaue rüber zu ihr und mein Blick sagt wohl alles. Ohne Worte versteht sie, dass es mir fast nie zu viel wird hinter dem Lenkrad. 363 Kilometer und etwas über vier Stunden in so einem Panorama zu fahren ist ein Vergnügen, selbst wenn das Wetter nicht perfekt ist. Ich freue mich auch den Ort Jasper wiederzusehen und den Whistlers Campground, denn der ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Dort fühlte ich mich damals schon ähnlich wie in Twin Peaks, in diesem dichten urwüchsigem Wald, wo der Wind nur so durch die Bäume rauscht und Bobs Gegenwart physisch spürbar ist.

Höchster Berg in Canada (3954 m)

Mir fällt auch wieder ein, dass wir unsere Uhren nicht sofort umgestellt hatten und später geriet es in Vergessenheit. Nach einem Kneipenbesuch in Jasper kamen wir dann eine Stunde zu spät zurück auf den Campingplatz, hatten aber Glück, denn die Schranke war noch nicht geschlossen. Eigentlich hätten wir nach 22:00 Uhr nicht mehr auf dem Platz fahren dürfen. Es war 23:00 durch und seit über einer Stunde Nachtruhe. Dabei wollte ich nur kurz auf zwei Bier und `ne Runde Billard unter Leute in eine Musicbar. War einfach mal nötig nach langer Zeit in den Wäldern.

Jetzt heißt es „Bye Bye British Columbia!“ und „Welcome to Alberta!“

In den kanadischen Nationalparks ist es wie in den der USA, man braucht einen Pass, um dort reinzukommen. Das gilt nicht für die Wilderness- , Nature oder Provincial Parks. Jetzt stehen aber gleich zwei Nationalparks an, der Jasper N.P. und der Banff N. P. Glücklicherweise kamen wir am Lagerfeuer gestern Nacht mit Jana und Marcel auf genau diesen Pass zu sprechen. Sie hatten sich den Jahrespass für ca. 140 Dollar gekauft, brauchen ihn aber jetzt nicht mehr. Für 70 Dollar haben sie ihn uns überlassen. Kritiker können uns jetzt vorwerfen, dass die Gebühr für den Erhalt der Wälder genutzt wird und sie haben Recht damit. Aus Eigennutz, um Geld zu sparen haben wir diesen Deal trotzdem gemacht. Manchmal glaube ich, wir sind unbelehrbar.

Eine halbe Stunde später kommt der Checkpoint. Schilder weisen darauf hin die Geschwindigkeit zu drosseln und in einem Häuschen in der Mitte der Spuren lächelt mich eine Rangerin durch ein offenes Fenster an. Ich greife zum Spiegel im Auto, da hängt der N.P. Pass, aber die Dame im Häuschen winkt ab. „I`ve seen your Pass already, have a great time in Alberta!“

Wenig später stehen wir an einer Kreuzung. Links geht es nach Jasper in den kleinen Ort, rechts geht es auf den legendären Icefields Parkway und vorher zum Whistlers Campground. Wir wollen einchecken auf dem Campingplatz und dann Feierabend machen für heute.

Wenigstens ist hier was los und auch andere Camper sind da. Aber es sieht irgendwie alles total anders aus als damals. Kann einem das Gedächtnis so einen Streich spielen? Ich zweifle an mir selbst. Sind wir überhaupt richtig hier? Wo sind die ganzen Bäume hin? Wir stehen auf einem riesigen Parkplatz und das Check In – Gebäude ist auf jeden Fall neu. Drinnen ist nicht viel los, zwei von fünf Countern sind besetzt. Wir kommen direkt dran und sprechen mit einem Mann hinter Glas, der uns eine Karte vom riesigen Camping Areal vorlegt. Wir sprechen kurz über unsere Wünsche, wie z. B. nicht so dicht am Waschraum, mit oder ohne Strom, naturnah und abseits gelegen usw.. Wir kennen das. Er markiert für uns relevante Sites und wir entscheiden uns. Dann macht er noch einen Kreis um die Feuerholzstelle. Wir dürfen nehmen soviel wir wollen, aber nur was wir hier verbrauchen werden. Das Mitnehmen von Feuerholz in andere Parks ist streng verboten.

Drei Tage wollen wir schon bleiben, ich reiche dem Mann hinter der Scheibe meine Kreditkarte und dann suchen wir unseren Platz. Jutta navigiert mich und ich frage sie, ob ihr das auch so fremd vorkommt. Sie hat diesen Ort auch ganz anders in Erinnerung. „Hier war doch alles voller Bäume, ich weiß es noch als wäre es gestern. Wir sind durch eine Schranke gefahren und dann einen schmalen Weg in den Wald hinein. Die Bäume waren so dicht, dass man seine Nachbarn kaum sehen konnte.“, bemerke ich. Wir kurven etwas herum, die Orientierung fällt leicht mit der Map und den nummerierten Plätzen und dann finden wir unsere Site. Sie ist wie gewünscht etwas abseits, mit viel Platz und einer tollen Aussicht auf nahegelegene Berge. Aber wo sind die ganzen Bäume hin? Früher konnten wir den Himmel über uns kaum sehen, geschweige denn die Berge um uns herum.

Whistlers Campground – Jasper National Park

Haben sie hier einen Kahlschlag gemacht, um mehr Leute zu beherbergen und den Gewinn zu steigern? Das kann ich mir so gar nicht vorstellen, das entspricht nicht meinem Bild von Canada.

Trotz der ersten Irritationen sind wir sehr zufrieden mit unserer Wahl. Auf dem Weg haben wir uns Feuerholz, von der auf der Map markierten Stelle, mitgenommen. Der Berg bestehend aus gehackten Scheiten hatte das gefühltes Volumen des Matterhorns, wirklich unglaublich. Ich lade ein was geht. Auch der Fußraum vorm Beifahrersitz wird so voll beladen, dass Jutta gerade noch reinpasst. Schließlich bleiben wir mindestens drei Tage.

Heute läuft nicht mehr viel, ich kümmere mich um das Lagerfeuer, Jutta zaubert noch was Leckeres zu Essen und zum Abschluss gibt es noch eine schöne Doku, die ich vor einer Weile bei Netflix runtergeladen habe: „Desert Coffee“. Unsere zwei Plätze weiter stehenden Nachbarn haben wir kurz zuvor flüchtig begrüßt, als sie bei uns vorbeigegangen sind. Sie scheinen nette Leute zu sein und sich für unser Auto zu interessieren. Jedenfalls wirkte es so auf mich, als sie winkend zu uns rüber sahen, während sie sich unterhielten.

Morgen wird ein aufschlussreicher Tag. Wir werden einiges über die Untoten von Vancouver erfahren und auch etwas über den Mountain Pine Beetle.

Heute Nacht erfahre ich auch noch etwas, und zwar, wo das Aussteigercamp in der Wüste Kaliforniens liegt, in die ich unbedingt wollte, aber deren Name mir nicht mehr eingefallen ist. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich da unbedingt hin wollte und woher ich die Inspiration dafür hatte.

Aus einer Doku die ich vor Jahren gesehen habe. Sie trug den Titel „Desert Coffee“……

„FUCK!!!“

Ich fluche und schimpfe und ärgere mich über mich selbst, weil ich in Kalifornien zu blöd war, rauszufinden wo diese scheiß Wüste genau ist, bzw. wie der Ort heißt, wo sich das Camp befindet. Ich wusste genau, dass ich mal im Fernsehen eine Doku über Leute, die in der Wüste leben, gesehen hatte. Es hieß es sei „The Last Free Place Of America“. Aber mir fiel der Titel der Dokumentation nicht mehr ein. Ich wusste nichts mehr, nur eins: „Da musst du eines Tages hin!“ Jetzt bin ich schlauer, Slab City heißt dieser Ort.

Zuhause, bei der Planung der Amerikatour, dachte ich dann noch etwas überheblich: „Ach, das wird sich schon ergeben unterwegs, das wird nicht so schwer zu finden sein“. Pustekuchen! Wir hätten Rob und seinen Coffeeshop kennenlernen können und einige der schrägen Menschen, die dort leben. Es sind Outlaws, Freigeister, Drogenabhängige, Musiker, Künstler und Überlebenskünstler. Einige sind in Rente und woanders reicht das Geld nicht zum Überleben, hier schon. Man zahlt hier keine Mieten oder Pacht. Hier stellt man seinen Caravan ab und steht frei, kostenlos.

Am Wochenende wären wir gemeinsam mit ihnen feiern gegangen in Slab City, morgens hätten wir unseren Kaffee bei Rob getrunken. Wir hätten sie live erleben können, „off stage“ und „on stage“. Und jetzt, in diesem Augenblick, als ich auf meine Map schaue, sehe ich wie nah wir Slab City waren. Luftlinie mögen es etwa 35 Meilen sein, auf der Straße ca. 85 Miles. Wir sind nachts wegen Dieselmangels in Desert Center gestrandet, alte Geschichte, ihr habt es bereits gelesen.

Slab City ist direkt südlich von Desert Center, neben dem Salton Sea, an dem wir auch schon waren (2011), aber damals wusste ich nichts vom letzten freien Ort Amerikas. Ich könnte mich vor Wut in den Arsch beißen, aber Jutta versucht mich zu beruhigen: „Hör mal, dann haben wir doch noch einen Grund mehr, hierher zurück zu kommen!“ Damit hat sie mich und ich komme wieder etwas runter. Dann gehen wir schlafen.

Beim Frühstück ärgere ich mich noch kurz über die verpasste Gelegenheit, im März in der kalifornischen Wüste bei Slab City gestanden zu haben und einige der interessanten Leute aus der Doku persönlich zu treffen. Doch beim Blick aus dem Fenster vergeht mein Frust von gestern und ich freue mich auf den heutigen Tag, der schön zu werden verspricht.

„Ich fange heute mein neues Buch an, das ich von dir zu Weihnachten bekommen habe!“, sage ich zu Jutta. Eigentlich ist es von ihren Eltern, aber Jutta hat es natürlich ausgesucht.

„Oh, tatsächlich?“, stellt sie fest. „Du hast ja schon ewig nicht mehr gelesen!“

„Ich weiß, aber jetzt habe ich Lust dazu und setze mich mit dem zweiten Kaffee schon nach draußen und mache mir das Feuer an.“ Sie schaut ernst rüber zu mir: „Aber vorher wird abgeräumt, klar?“ Ihr Blick duldet keinen Widerspruch. Ich will nichts Falsches sagen.„Selbstverständlich, das hatte ich sowieso gerade vor!“

Nachdem ich alles im Kühlschrank verstaut und den Tisch abgewischt habe, schnappe ich mir das Buch aus meiner Schublade, den zweiten Kaffee und lege draußen alles bereit. Das Feuer kostet mich nur ein paar Augenblicke, dann mache ich es mir in meinem Campingstuhl bequem.

Norman & Nicole, unsere Nachbarn

Ich schlage das Buch auf und ein kleines Pappkärtchen fällt raus. Es ist beidseitig bedruckt mit fast nackten Frauen. Melody auf der einen Seite, Mary auf der anderen. Telefonnummern sind auch dabei. Mir fällt der Mexikaner in Las Vegas ein, der mir auf dem Strip einen kleinen Stapel von diesen Kärtchen in die Hand gedrückt hat. Ich muss grinsen. Sind doch super Lesezeichen! Iich wusste vorher, dass ich mich irgendwann darüber freuen werde, wenn sie unerwartet auftauchen.

Ich stecke die Karte weiter hinten in das Buch, wo sie mir nicht dauernd rausfällt und fange an zu lesen: “Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit – Mai Thi Nguyen-Kim.

„Leg mal Holz nach, es qualmt ja fast nur noch!“, vernehme ich von innen durch das geöffnete Fenster. „Jaja, mach ich schon, das Buch ist voll geil. Mai schreibt super unterhaltsam!“, antworte ich.

Tatsächlich habe ich die ersten beiden Kapitel verschlungen, denn das sind auch Themen, die mich faszinieren. Mai Thi Nguyen-Kim ist Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin, ich kenne sie bereits aus dem Format „maiLab“.

In den ersten zwei Kapiteln geht es um die Legalisierung von Drogen und dem Zusammenhang zwischen Videospielen und Gewalt. Das alles wird wissenschaftlich geprüft und von Mai äußerst unterhaltsam und aufschlussreich erklärt. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich schmunzeln muss beim Lesen. Ich finde mich auch wieder in dem, was sie schreibt: „Das hab ich doch immer schon gesagt!“, oder „Wusste ich doch genau, das es so ist!“

Ich lege etwas Holz nach, steige um auf Tee, den ich mit einem Kessel auf dem Feuer zubereite und beginne mit dem dritten Kapitel: Gender Pay Gap – Die unerklärlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Whistlers Campground

Irgendwann nehme ich ein Rascheln neben mir wahr und blicke mich fragend um. Eine Familie Wapitis grast relativ dicht neben unserem Platz, zwei große Tiere und drei kleine Kälber. Ich rufe so leise wie möglich und so laut wie nötig: „Juttaaa, guck mal aus dem Fenster!“ Sie liest drinnen auf dem Sofa und schaut raus zu mir. Ich deute mit der Hand in die Richtung, wo sich die grasenden Wapitis tummeln. Jutta kommt leise raus und setzt sich zu mir ans Feuer.

Ein fantastischer Tag hat begonnen.

Um mich etwas zu bewegen, sammle ich ein wenig rumliegendes Holz ein. Die Matterhornsammelstelle ist zu weit weg zum Laufen und ohne Einkaufswagen oder einer Schubkarre wäre es nicht möglich genug Holz zu holen, damit sich der Gang lohnt.

Es geht auf Mittag zu und unsere beiden Nachbarn kommen wieder auf dem Weg zu ihrem Caravan an unserem Platz vorbei. Sie grüßen uns vom Weg aus, bleiben stehen und zeigen auf LEMMY: „What a nice car! Where are you come from?“

„Oh yeah, thank you. We`re from Germany!“ Dann legt Jutta ihr Buch beiseite, ich schmeiße mein gesammeltes Holz neben die Feuerstelle und wir lernen Norman und Nicole kennen. Wir plaudern etwas und nach ein paar Minuten erhalten wir eine Einladung für den heutigen Abend bei ihnen am Lagerfeuer. „After Dinner?“

“ Yes sure, why not? See you later.“

Für uns geht der Tag total entspannt weiter. Die meiste Zeit verbringen wir draußen. Ich beginne noch ein weiteres Kapitel aus meinem Buch: Big Pharma vs. Alternative Medizin, dann essen wir einen Happen, werden müde und gönnen uns einen Mittagsschlaf. Vor unserer Verabredung genehmigen wir uns einen Kaffee und etwas Gebäck. In Kamloops haben wir uns gut versorgt, sollten wir einschneien, so könnten wir bestimmt zwei Wochen locker ausharren ohne zu verhungern.

Nach dem Abendessen packe ich ein paar Bier ein, obwohl Norman vorhin schon erwähnt hat, er habe einige leckere Biere kaltgestellt. Ich möchte allerdings nicht mit leeren Händen erscheinen. Jutta nimmt eine Flasche Rotwein mit. Norman ist bereits dabei sein Lagerfeuer in Gang zu bringen und Nicole sitzt neben ihm.

Ich fasse es kurz zusammen: Wir erleben einen großartigen Abend mit zwei tollen Menschen.

Zu Besuch bei Norm and Nicole

Sympathisch waren wir uns schon von Anfang an, aber jetzt lernen wir uns noch viel besser kennen. Sie wollen natürlich alles über unsere Reise wissen, über LEMMY, die Verschiffung, die Route und auch die Fragen : „Wo war es am Schönsten?“ und „Haben wir etwas Gefährliches erlebt?“ bleiben nicht aus. Wir erzählen bereitwillig und gerne, sie hören gespannt zu und stellen weitere Fragen. Hier sitzen wir nun zu viert am Lagerfeuer, Camper unter sich. Denn auch sie lieben es schon ihr Leben lang draußen in der Natur zu sein.

Dann erfahren wir auch Einiges über Norman und Nicole. Er kommt ursprünglich aus Quebec und sprach damals nur französisch. Nicole stammt aus Vancouver und mittlerweile leben sie gemeinsam in Prince George in B.C.. Sie sind bereits in Rente und fahren gerne mehrmals im Jahr zum Campen. Auch hier im Jasper N. P. waren sie schon häufig. Norm, wie Nicole ihren Mann nennt, musste der Liebe wegen von der Ostküste nach Vancouver ziehen und erstmal Englisch lernen. Ich erzähle von unserem ersten Besuch 2004 auf diesem Campground und das ich ihn kaum wiedererkannt habe, so kahl wie es aktuell aussieht. Dann frage ich, wo die ganzen Bäume geblieben sind. Norms eben noch fröhliche Erscheinung, immer mit einem Lächeln im Gesicht, verändert sich schlagartig. Es ist bereits dunkel, noch bei Tageslicht hat dieser Abend begonnen. Doch im Licht des Feuers verfolge ich, wie sich seine Miene verfinstert. Dann berichtet er uns vom „Mountain Pine Beetle“, einem Borkenkäfer (bei uns bekannt als schwarzer Bergkiefer – Käfer), der verheerend gewütet hat.

Der Borkenkäfer befällt hauptsächlich die Drehkiefer. Schon in den 90er Jahren gab es durch warme Winter starken Befall. Innerhalb von nur 10 Jahren bis Ende 2008 sind dem Bergkiefernkäfer knapp 620 Mio. m³ Drehkiefern-Stämme zum Opfer gefallen. In den letzten Jahren hat sich die Lage leider nicht verbessert und jetzt sind nach den geschwächten kommerziell genutzten Wäldern auch die Nationalparks betroffen. Überall unterwegs konnten wir abgestorbene Bäume sehen, aber hier im Jasper Nationalpark ist es uns besonders aufgefallen.

Wir können den Beiden ansehen, wie sehr sie diese Tatsache deprimiert und auch für uns fühlt es sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Das ist natürlich auch eine Erklärung dafür, dass man kein Feuerholz von einem Park zum Nächsten mitnehmen darf. Man könnte Schädlinge zu einer Gratisfahrt einladen und über weite Strecken transportieren. In Gegenden, wo sie noch nicht ihr Unheil treiben. Wow, das hat erstmal gesessen. Ich brauche eine Pinkelpause und gehe kurz zu uns rüber. Dann nehme ich erneut ein paar Dosen Bier mit und gehe zurück. Norm hat vor allem Craftbiere im Angebot, die mag ich nicht so sehr.

Als ich wieder in der Runde ankomme schlägt Nicole vor, dass wir uns ihren Caravan mal von innen ansehen können. Ich halte es für eine gute Idee, so kommen wir auch von dem deprimierenden Thema des Waldsterbens weg. Das Teil ist riesig und mit allem ausgestattet, was man sich nur wünschen kann. In den Kühlschrank passt eine Schweinehälfte und ne Kiste Bier. Das Sofa ist aus Leder und es trägt zurecht den Namen Sofa. Bei uns ist es eher eine Bank mit Polsterauflage. Auch das Bad und der Schlafbereich sind überaus komfortabel, fast luxuriös. Trotzdem würden wir nicht tauschen wollen, wir haben unterschiedliche Reisephilosophien. Beeindruckt begeben wir uns wieder nach draußen in die Nacht. Norm füttert das Feuer, ich biete ihm eins von meinen Bieren an und wir kommen zum nächsten ernsten Thema.

Da Norman und Nicole lange in Vancouver gelebt haben, komme ich nicht umhin nach den Untoten in der East Hastings Street zu fragen. Ich erzähle ihnen, dass wir vor fast 20 Jahren auch dort waren und es als ein „normales“ Problemviertel wahrgenommen haben, wie es sie vielfach in fast allen Metropolen der Welt gibt. Aber was wir vor wenigen Wochen dort gesehen haben, das war einzigartig und unvorstellbar bedrückend.

Tolle Nacht mit neuen Freunden

Auch über dieses traurige Kapitel wissen sie etwas zu berichten.

Bei diesem Thema übernimmt Nicole den Versuch einer Erklärung. Ich bemühe mich, es ebenso gut wiederzugeben, wie ich es verstehe. Ergänzt habe ich es mit einigen Informationen aus dem Netz (https://604now.com/vancouver-downtown-eastside). Es sei wie überall, wo sich Junkies treffen, da gibt es eine Nachfrage und entsprechend auch ein Angebot. Es begann schon in den 70er Jahren, als einige psychiatrischen Einrichtungen der Stadt, aufgrund fehlender öffentlicher Gelder, geschlossen wurden. Die Menschen mussten irgendwohin und in der langsam zerbröckelnden Eastside war Wohnraum erschwinglich, was auch Leute mit niedrigem Einkommen anzog. Dann kam 1986 die Expo nach Vancouver. Das zog viele Touristen an und hatte eine fatale Auswirkung auf die Einheimischen in den günstigen Wohnhotels. Sie mussten weichen. Von Februar bis April ’86 wurden 800 – 1000 Räumungen durchgeführt, damit Platz für solvente Touristen und Kunden, der sich ausbreitenden Geschäfte entsteht. Viele wussten nun nicht mehr wohin und landeten so auf der Straße.

Der Anziehungspunkt wurde größer und größer, doch eine Strategie gegenzusteuern hatte man (noch) nicht. Es kamen immer mehr Süchtige nach Vancouver, aus allen Teilen des Landes, aus allen Teilen der Welt. Der Drogenhandel gedieh prächtig, besonders in den ’90er Jahren, als zum Heroin immer mehr Kokain die Straßen überflutete. Und eines Tages hatte Vancouver die Kontrolle komplett verloren. So entstand schleichend eine Kolonie der Untoten in einer der faszinierendsten Städte der Welt. 1997 wurde in Downtown Eastside ein Gesundheitsnotstand ausgerufen. HIV, Hepatitis C und andere durch Blut übertragbare Krankheiten breiteten sich aus, denn viele Süchtige teilten ihre Nadeln untereinander.

So konnte es nicht weiter gehen, also entstanden Programme und verschiedene Initiativen wurden ins Leben gerufen, um die Not etwas zu mildern. Ein Weg war beispielsweise das „InSite“ Programm, das es Drogensüchtigen ermöglichte, legal Heroin zu spritzen. Sie bekamen kostenlos saubere Spritzen von Krankenschwestern in einem hauseigenen Reha Zentrum.

Dann erfahren wir noch, dass seit einigen Jahren Fentanyl auf dem Vormarsch ist und Kanada und der Nachbar USA damit zu kämpfen haben. Dieses Opioid soll 100 mal stärker sein als Morphium und ist eigentlich ein Schmerzmittel. Mir kommen wieder Bilder in den Kopf, von den planlos umher wandelnden Menschen, von den kopfüber abgetauchten, deren Hintern in den Himmel ragt und deren Kopf zwischen den Knieen baumelt.

Mannomann, wieder so ein Schlag in den Magen. Jetzt weiß ich gar nicht, wie ich die Kurve kriegen soll weiterzuschreiben.

Aber ich will es versuchen. Wir wollen uns nicht unterkriegen lassen und reden auch über viele erfreuliche Dinge. Wir switchen hin und her zwischen verschiedenen Themen, besonders oft geht es natürlich ums Reisen und Erfahrungen rund um den Globus.

Thema ist natürlich auch Alaska, dass wir es auf dieser Reise nicht schaffen werden, aber unbedingt nachholen, wenn wir die Pan Americana runter nach Südamerika fahren. „Dann müsst ihr uns unbedingt besuchen kommen!“, sagt Nicole. „Prince George liegt auf dem Weg und das sage ich nicht nur so dahin, das meine ich ernst!“

Ich kaufe es ihr ab, sie haut das nicht nur so raus aus Höflichkeit. Norm stimmt mit ein: „Ja, dann MÜSST ihr uns besuchen!“ wieder mit seinem vertrauten Lächeln im Gesicht. Das ist echt, sie meinen es ernst.

So beschließen wir dann diesen wundervollen Abend mit neuen und eindrucksvollen Begegnungen, wie sie (fast) nur auf Reisen zustande kommen. Morgen im Laufe des Tages werden wir Adressen und Emaildaten austauschen.

„What a beautiful day!“, denke ich mir auf dem kurzen Weg nach Hause. „War das nicht ein schöner Abend?“, frage ich Jutta. „Oh yes, it was amazing!“, sagt sie lächelnd und nimmt meine Hand.

Jutta legt sich schlafen, ich setze mir noch die Kopfhörer auf und nehme ein Kokanee aus dem Kühlschrank. Dann höre ich Danko Jones – Just a beautiful day – auf meinem Sofa. Zufrieden und im Einklang mit der ganzen Welt drehe ich die Lautstärke hoch….

Der nächste Tag beginnt ganz genauso fantastisch, wie der Gestrige. Mit Norm und Nicole tauschen wir, wie verabredet, unsere Adressen aus, beobachten die umherstreifenden Wapitis, lesen und faulenzen. Abends ruiniere ich beim Outdoorcooking auf dem Feuer unsere beiden Kochtöpfe, weil ich die Hitze unterschätze. Ich schmelze die beiden Klappgriffe aus Kunststoff, aber egal. Die nächsten Töpfe werden feuerfest sein.

Outdoor cooking
Noodles, Vegetables & Fleischersatz

Mit gemischten Gefühlen verlassen wir Whistlers Campground, traurig über das Sterben der Bäume, glücklich über die Bekanntschaft mit Norman und Nicole. Next Destination: Athabasca Gletscher. Aber vorher werden wir noch Jasper besichtigen, durch den Maligne Canyon wandern, einen Grizzly sehen und den legendären Icefields Parkway befahren.

Wir beginnen mit dem nur wenige Minuten entferntem Jasper. Der Ort ist schnuckelig klein, hat aber auch Charme. Leider ist es wieder etwas bewölkt. Wir bummeln herum, nachdem ich einen Parkplatz gefunden habe und kaufen ein paar Kleinigkeiten ein. Ein Besuch im Souvenirshop muss auch sein. Jutta liebt es nach Mugs und Trinkflaschen zu stöbern und Taschen kann man schließlich auch nie genug haben.

Jasper Town

Nach dem kurzen Zwischenhalt geht es weiter zum Canyon. Wir fahren den Yellowhead Hwy. nach Norden. Norman und Nicole haben uns erzählt, man könne bei der „Sixth Bridge“ gut parken und von dort die Wanderung durch den Maligne Canyon starten. Genau das ist unser Plan. Auf dem Weg sehe ich gegenüber einen PKW am Straßenrand stehen. Das ist in der Regel ein Indiz für eine Tiersichtung, wenn es sich nicht um eine Panne handelt. „Guck mal da rüber, kannst du was erkennen?“, frage ich Jutta. „Ein Bär, ein Brauner!“, sagt sie. Ich gucke in den Rückspiegel und ziehe rüber auf die andere Straßenseite. Hinter dem PKW komme ich zum Stehen und dann sehe ich ihn auch. Ein großer, ausgewachsener Grizzly auf einer kleinen Anhöhe am Waldrand. Unser allererster Grizzly überhaupt. Im Internet haben wir geschaut, woran man einen Grizzly erkennen kann. Es gibt verschiedene Merkmale, wie z. B. einen kleinen Buckel hinter dem Kopf und die ausgeprägtere Schnauze. Dann ist da natürlich noch die beeindruckende Größe und die Farbe. Bei unserem Exemplar passt alles, das ist ein Grizzly. Wollen wir mal hoffen, so einem Bären nicht in freier Wildbahn zu begegnen.

Grizzly oben auf der Anhöhe

Freudestrahlend fahren wir zu unserem Ausgangspunkt für die Wanderung durch den Canyon. Leichter Nieselregen hat eingesetzt, aber das macht nichts. Wir packen unsere Regenjacken in die Rucksäcke und los geht es über die Sixth Bridge und entlang des Seitenarms des La Biche River. Bis zur Second Bridge überqueren wir auch die Fifth- Fourth- und Third- Bridge. Wir kommen vorbei an fließenden und an gefrorenen Wasserfällen. Mal führt uns der Pfad rauf und um uns herum bietet sich ein fantastisches Bergpanorama, dann geht es wieder runter und wir stehen an kristallklarem, eisigem Flusswasser. Wir fühlen uns ganz wohl auf diesem Trail, denn es sind auch andere Wanderer unterwegs.

Wären wir alleine in diesem Gebiet hätten wir eher ein mulmiges Gefühl, besonders nach der Grizzlybärensichtung vor wenigen Minuten. Remember: „You Are In Grizzly Bear Country!“ Schon manches Mal habe ich mich gefragt: „Was willst du eigentlich machen, wenn dich in der Wildnis ein Bär überrascht?“ Mit einem Schwarzbären könnte man eventuell noch fertig werden, mit einem großen Ast oder Ähnlichem als Waffe. Aber mit einem Grizzly?

Maligne Canyon Trail

Die erste Hälfte unserer Tour endet am Maligne Lookout. Nun müssen wir nur noch zurück zum Auto. Da das Wegenetz viel Abwechslung bietet, gehen wir (wenn möglich) andere Pfade als auf dem Hinweg. Angekommen an der Sixth Bridge, ohne weitere Bärenbegegnung, bereiten wir uns auf die nächste Etappe vor. Als erstes erleichtern wir uns von innerem und äußerem Ballast (Blase entleeren und dicke Klamotten ausziehen), dann packen wir uns ein paar Snacks für die Weiterfahrt ein und einige Softdrinks. Ich habe immer gerne etwas Icetea dabei.

Gut ausgestattet im Cockpit von LEMMY starten wir jetzt zu einem Highlight, auf das ich mich seit Wochen freue, dem legendären Icefields Parkway. Wir sind diese Strecke bereits einmal im Sommer 2004 gefahren und ich versuche mich nicht mit Superlativen zu überschlagen, denn es wird spektakulär. Das Panorama ist atemberaubend und hinter jeder Kurve bieten sich unglaubliche Ausblicke. Unser Tagesziel ist der Athabasca Gletscher, aber vorher halten wir am Athabasca Wasserfall, den haben wir damals ausgelassen.

Frozen Waterfall

Zunächst geht es zurück nach Jasper, um dann auf die `93 abzubiegen. Ab hier sind es nur etwas mehr als 100 Kilometer bis zum Gletscher. 100 Kilometer endlosen Staunens. Vorbei am Whistlers Campground entscheiden wir spontan die alte `93 A zu fahren, damals Haupt-, heute nur noch Nebenstrecke. Dieser Weg ist wesentlich schmaler und weniger befahren. Ich muss an ein Zitat von Walt Whitman denken: „Im Wald zwei Wege boten sich mir da. Ich ging den, der weniger betreten war.“ Ich liebe diesen Satz, den ich aus dem Film „Club der toten Dichter“ kenne. Inspiriert durch einen tollen Film machen wir es getreu nach Walt Whitmans Motto, nur das wir den Weg nicht betreten, sondern befahren.

Die alte Route `93 A endet ziemlich genau am Athabasca Fall und die Aussicht auf die umliegenden Berge ist nicht weniger sehenswert als die der Hauptroute. Gesperrt ist diese Strecke von November bis April und die Schranke ist oben, es ist ja bereits fast Mitte Mai. Der 233 km lange IFPW (Ice Fields Parkway) dürfte zu den Traumstraßen der Welt gehören und diese Panoramastrecke bietet in kurzen Abständen, ein Highlight nach dem Anderen.

Wir sind begeistert und beeindruckt, obwohl wir bereits hier waren und schon viel rumgekommen sind. Immer wieder muss ich anhalten, um Fotos zu machen oder einfach nur um den Augenblick zu genießen, in dieser bezaubernden Bergwelt. Ich muss mich zusammenreißen, nicht zu sehr ins Schwärmen zu geraten.

La Biche River

Die wenigen Abzweigungen der 93 A sind durch Schlagbäume gesperrt, aber einer ist offen, der zum Whirlpool Group Campground am La Biche River. Die Gelegenheit lassen wir uns nicht nehmen, um mal einen Blick zu riskieren, obwohl wir dort nicht übernachten wollen. Wir sind bloß neugierig. Der Campingplatz ist verlassen, aber möglich wäre es trotzdem unregistriert hier zu stehen. Einsam in grandioser Natur. Allerdings könnte es Ärger mit den Rangern geben, wenn sie kontrollieren kommen.

Unsere Fahrt geht weiter und endet dann schneller als erwartet. „Was ist das denn jetzt?“, sage ich entsetzt zu Jutta. „Siehst du das auch da vorne?“ Oh nein, scheint so als müssten wir umdrehen!“ Ich gehe vom Gas und schalte langsam runter. Wir nähern uns einer geschlossenen Schranke direkt vor uns. Dahinter hoher Schnee auf der ganzen Strecke, wie zuvor im Wells Gray Provincial Park. „Na was solls!“, sage ich ohne mich zu ärgern. „So haben wir jedenfalls ein gutes Teilstück der `93A gesehen und jetzt noch das Vergnügen den gesamten IFPW auf der Hauptroute zu fahren.“ Jutta stimmt mir zu: „Es gibt keine Umwege, der Weg ist das Ziel!“ Positiv gestimmt drehe ich um und freue mich tatsächlich über ein paar Extrameilen in dieser Kulisse.

Durch die verschneiten Rocky Mountains

Auf der Hauptstrecke ist schon etwas mehr Verkehr, aber nicht annähernd soviel, wie wir es aus dem Sommer 2004 gewohnt sind. Und wieder kommen wir aus dem Staunen nicht raus. Ein Gipfel ist schöner als der Andere und hinter jeder Kurve offenbaren sich neue, beeindruckende Ausblicke. Man kann sich nicht satt sehen an den Dreitausendern, es ist erstaunlich und kaum zu beschreiben. Jeder Berg ist besonders und die meisten haben wohl eine Höhe zwischen 3000 und 3500 Meter.

Die Rocky Mountains zeigen sich von ihrer schönsten Seite, überall liegt noch so viel Schnee. Davon können wir in Norddeutschland nur träumen. Ständig hören wir uns sagen: „Guck dir den an!“ oder „Hast du das gesehen?“

Panoramastraße Icefields Parkway

Dann fahren wir über eine Bergkuppe und das Spiel geht von vorne los: „Wahnsinn, schau mal da!“ Hinter der nächsten Kurve sehen wir denselben Berg und die Flanke sieht aus dieser Perspektive noch geiler aus als kurz zuvor. Manchmal sehen wir Mountain Goats, Schneeziegen an den Hängen der Berge oder auch auf der Straße. Wir halten Ausschau nach Grizzly- Braun- und Schwarzbären, haben damit leider bislang noch kein Glück. Aber egal, wir werden dermaßen verwöhnt mit grandiosen Landschaftsbildern, die für immer bleiben werden, die uns niemand nehmen kann.

Icefields Parkway – Alberta

Am Parkplatz des Athabasca Falls angekommen spazieren wir unter einigen anderen Touristen entlang des La Biche River zur Hauptattraktion, dem 23 Meter hohen Wasserfall. An verschiedenen Stellen gibt es Warnschilder, die auf nicht selten vorkommende Todesfälle hinweisen, weil Leute für das ultimative Foto die Absperrungen überschreiten und dann auf den glatten Steinen abrutschen und in die reißenden Fluten stürzen.

Es ist kalt und sehr bewölkt, aber immer mal wieder öffnet sich die Wolkendecke und die Sonne scheint für einen Augenblick hervor. In diesen Momenten sehen die schneebedeckten Berge noch fantastischer aus und ich versuche genau dann, mit einer guten Lichtstimmung meine Fotos zu schießen. Das klappt aber leider nicht immer, da ich kein Profifotograf bin und oft zu ungeduldig, um auf das richtige Licht zu warten. Nach diesem netten kleinen Abstecher machen wir uns auf den Weg zum Auto, um unser heutiges Tagesziel anzusteuern.

Dabei halten wir weiter gelegentlich an besonders schönen Aussichtspunkten, machen hier und dort einen weiteren kleinen Minitrail am Wegesrand und genießen die Sonne, die sich immer häufiger zeigt, je weiter die Nachmittagsstunde vorrückt. Auch der „Goats and Mountain Lookout“ wird nicht ausgelassen.

Umgeben von Dreieinhalbtausendern

Wir genießen jeden Kilometer, staunen hinter jeder Kurve und fragen uns, wie es sein kann, dass jeder weitere Berg uns dermaßen begeistert, als hätten wir so etwas nie zuvor gesehen. Eine Antwort darauf finden wir nicht. Aber soviel ist sicher, die Rocky Mountains sind purer Rock `n` Roll und dieser Weg ist auch beim zweiten Mal ebenso beeindruckend wie damals schon, vor fast 20 Jahren.

Den „Sunwapta Fall“ lassen wir aus, ein Wasserfall reicht uns für heute. Ich halte nur kurz am „Columbia Icefield Skywalk“, einer bogenförmigen Plattform mit Glasboden über einem schwindelerregenden 280 Meter hohen Abgrund. Wir finden den Eintrittspreis ganz schön happig und Jutta ist kein Fan von Höhe, schon gar nicht auf einem durchsichtigen Skywalk.

IFPW im Mai

Und dann sind wir auch schon angekommen. Ich parke auf dem riesigen Parkplatz vom „Jasper National Park Icefield Information Center. Der benachbarte Campingplatz ist noch geschlossen, also lassen wir es darauf ankommen und bleiben über Nacht, obwohl es eigentlich nicht gestattet ist. Wir sind auch nicht die einzigen Camper hier, ein Pickup mit Kabine steht etwas von uns entfernt und dann noch ein großes RV. Ansonsten parken nur einige PKWs hier, vermutlich Angestellte des Information Centers.

Jasper N. P. Icefield Information Center

Von meinem bewusst ausgewählten Stellplatz sehen wir den majestätischen Athabasca Glacier aus dem Fenster. Um uns herum türmt sich der Schnee zum Teil mehrere Meter hoch.

Athabasca Glacier

Einen schöneren Platz, umgeben von Dreitausendern, kann man sich kaum vorstellen und das auch noch völlig kostenlos. Es ist bereits später Nachmittag und wir machen`s uns gemütlich. Die Heizung wird aufgedreht, rein in die Jogginghose und der Abend kann beginnen. Wir lassen den Tag Revue passieren und sind einfach nur glücklich. Mag sein, das ich mich wiederhole, aber dann liegt es einfach daran, das es immer wieder passiert.

Für heute genügt uns der Blick aus dem Fenster, morgen früh wollen wir auf das Icefield und an den Gletscher wandern. Ein Ranger fährt mit seinem Pickup Truck an uns vorbei. Er sagt nichts, also wird es wohl in Ordnung sein, hier die Nacht zu verbringen.

Wir bereiten uns das Abendessen zu, unaufwendig und lecker soll es sein. Da bieten sich Cracker und Käse an, etwas Wein und Obst. Dazu schauen wir einen Film vom Tablet und werfen gelegentlich einen Blick aus dem Fenster. Es wird dunkel da draußen, aber der Vollmond taucht die schneebedeckten Gipfel in ein mystisches Licht, irgendwie nicht von dieser Welt.

Parkplatz am Information Center

Bevor wir zu Bett gehen, drehe ich noch eine Runde ums Auto, entleere den Peetank in einem Gully und genieße die eiskalte Nachtluft. Eine weiße Wolke strömt aus Mund und Nase beim Ausatmen. Jetzt sind nur noch wir drei Camper hier, alle Pkws haben den Platz verlassen. Ich spüre den eisigen Hauch des Gletschers. Was für eine wundervolle Stimmung hier oben herrscht, gerade in diesem Augenblick. Es ist so still. Es gibt nur mich, den Mond und die hohen Berge um mich herum. Sonst nichts. Ich weiß nicht genau, wie lange ich in diesem Zustand verharre, aber bald wird mir kalt und ich gehe wieder zurück in die kuschelige Kabine.

Die Nacht kommt über uns und ich schlafe unruhig. Im Traum irre ich durch den Schnee an einer imaginären Bergflanke. Ich bin alleine unterwegs und habe völlig die Orientierung verloren auf der Suche nach dem rechten Weg, finde ihn aber nicht….

Lost in my dreams….

Ich liege im Bett und will mich umdrehen, da rieche ich frisch aufgebrühten Kaffee. Träume ich immer noch? „Guten Morgen!“, begrüßt mich Jutta. „Morgen!“, antworte ich unausgeschlafen.

Der Tag beginnt mit viel Sonne und nur wenigen Wolken am blauen Himmel. Und mit reichlich Kaffee. Beim Frühstück besprechen wir den Tagesplan. Als erstes wollen wir auf den Gletscher gehen, danach fahren wir zum Peyto Lake, um wiederum eine Wanderung zum See zu machen. Dann steht Lake Louise auf dem Programm und der Touristenort Banff. Dort wollen wir auch die Nacht verbringen, wo genau ist allerdings noch nicht klar. Erste Wahl wäre eine Tankstelle im Ort. Ist ein Tipp aus dem Internet. Ansonsten gibt es verschiedene Campgrounds.

Wie klein wir sind, inmitten von Giganten!

Frühstück und „Washroom – Business“ ist erledigt, jetzt geht es rein in die ganz warmen Klamotten, inklusive lange Unterwäsche. Handschuhe, Schal, Mütze und die guten Wanderschuhe an, fertig ist der Gletscherlook.

1844 reichte der Gletscher noch bis zum Visitor Center und diesem Parkplatz, wo wir unsere Tour beginnen. Einmal über die Straße und schnurstracks Richtung Athabasca Glacier. In den Wanderschuhen fühlen wir uns wohl und haben einen sicheren Tritt. Irgendwie verliert sich der anfängliche Pfad etwas und ich wittere eine Abkürzung. „Guck mal da rüber!“, sage ich und zeige mit dem behandschuhten Finger nach schräg rechts vorne. „Wollen wir da nicht runter, dahinten ist ein Weg, der uns rauf zum Gletscher führt. Da laufen auch schon ein paar andere Leute, siehst du?“

„Na gut, wenn du meinst!“, erwidert Jutta.

Meine Idee stellt sich als etwas waghalsig heraus. Wir stolpern über Geröll, kleine Wasserläufe und große Schneeflächen. Zum Umkehren sind wir allerdings schon zu weit vorangekommen. Ich gehe vor und Jutta folgt mit Abstand. Manchmal muss ich etwas springen, um keine nassen Füße zu bekommen. Das das, was wir hier gerade machen ganz schön gefährlich ist, erfahre ich später auf dem richtigen Weg, der mit diversen Informationen flankiert ist und mit den Warnhinweisen vor Abstürzen in schneebedeckte Gletscherspalten. Wir kommen gesund und heile auf dem richtigen Pfad an, ohne verstauchte Füße und vor allem ohne in einer Spalte zu verschwinden.

Ist ja nochmal gut gegangen!

Die Wetterbedingungen sind perfekt. Die Sonne steigert die gute Laune, die dicken Sachen halten uns einigermaßen warm, solange wir in Bewegung bleiben. Einen deprimierenden Beigeschmack hat das Ganze allerdings schon, denn der Gletscher schmilzt, so wie alle anderen Gletscher auf der ganzen Welt auch. Und das wird mit farbigen Markern, auf denen jeweils eine Jahreszahl steht, sehr deutlich gemacht. Bis hierher reichte der Gletscher noch im Jahre 1992. Er verliert pro Jahr ca. 5 Meter. Für uns sieht es deshalb heute folgendermaßen aus, seit unserem letzten Besuch ist er um fast 100 Meter geschrumpft.

Wir erreichen eine Schutzhütte und ein Toilettenhäuschen. In der Hütte machen wir kurz Rast, um einem Moment dem Wind zu entkommen, dann geht es weiter. Der Aufstieg wird beschwerlicher und steiler. Dazu kommt noch der Schnee, der jetzt den ganzen Boden bedeckt. Ich merke wie Jutta langsamer wird. Der Weg ist noch relativ weit und es geht nur langsam voran. „Wie weit willst du denn noch hoch laufen?“, fragt Jutta. „Na soweit es eben geht!“

Der beschwerliche Weg nach oben

„Dann gehe ich zurück, mir reicht das bis hier.“ „Bist du sicher?“, frage ich. „Ja ganz sicher, ich warte im Auto auf dich.“ „Schade, aber wie du willst. Ich zeige dir nachher die Fotos.“

Dann geht sie abwärts und für mich beginnt der Aufstieg. Zwischendurch lege ich eine Atempause ein und bewundere die umliegenden Berge. Links von mir liegt der 3491 Meter hohe Mt. Athabasca, daneben der Mt. Andromeda mit 3450 Metern. Vor mir befindet sich der Gletscher und rechts daneben der Mt. Snow Dome mit einer Höhe von 3456 Metern und der Mt. Kitchener, 3505 Meter hoch. Zwischen diesen beiden Gipfeln noch ein Gletscher, der Dome Glacier. Ich marschiere weiter und beim nächsten Durchatmen schaue ich runter auf den Parkplatz. Winzig klein erkenne ich LEMMY in weiter Ferne. Das ist eine ganz neue Perspektive, von hier oben nach unten zu schauen. Nicht nur die Höhenluft ist atemberaubend, auch die Ausblicke sind es. „Nur noch zehn Schritte!“, motiviere ich mich zum Weitergehen. Und dann wieder von vorne…., „Nur noch zehn Schritte….., nur noch…..“

Immer wieder am Wegesrand – Infotafeln

Irgendwann stehe ich auf einem Plateau vor einem Absperrseil. Bis hier ist der Gletscher geschrumpft, wie traurig! Vor allem, weil wir wissen, er wird weiter schmelzen, unaufhaltsam, unwiderruflich.

Mit gemischten Gefühlen mache ich mich an den Abstieg. Ich bin alleine hier oben. Drei Mädels sind mir bei meinem Aufstieg entgegen gekommen, jetzt bin nur noch ich hier. Irgendwie so ähnlich wie in meinem Traum letzte Nacht. Aber ich kenne den Weg, der Trampelpfad ist gut zu erkennen im Schnee.

Hope to see you again my Glacierfriend….

Die nächste knappe Stunde fahren wir weitere 84 Kilometer überwältigend schöne Panoramastraße, den IFPW runter nach Südosten.

Ich verzichte auf weitere Superlative, denn ich würde mich zwangsläufig wiederholen.

Wir rollen auf den vom Schnee geräumten Parkplatz des Peyto Lake Trails und ich finde eine Lücke in die LEMMY gut rein passt. Der Platz ist von drei Meter hohen Schneemauern umgeben. Eine Menge Leute sind unterwegs, im Gegensatz zum Athabasca Gletscher. Kein Wunder, das Wetter ist mittlerweile nahezu perfekt für eine Bergwanderung. Aber was für eine? Das soll sich schnell herausstellen.

Peyto Lake Parkplatz

Uns wird sofort klar, hier liegt viel Schnee, sehr viel Schnee, hoher Schnee. Der Trail ist nicht geräumt und es geht fast nur aufwärts, relativ steil. Durch die vielen Menschen, die trotzdem unterwegs sind zum Peyto Lake, ist der schmale Trampelpfad fest und vereist. Der zum Teil nur zwei Fuß breite Weg ist glatt wie Schmierseife. Jutta muss ganz schön kämpfen, um nicht auszurutschen, da sie nicht so trittsicher ist und auch etwas Angst hat zu stürzen. Bei Gegenverkehr muss an Engstellen, von denen es sehr viele gibt, immer Einer warten, bis der Andere vorbei ist. Verlässt man den schmalen Pfad und tritt in den unberührten Schnee links oder rechts des Wegs, dann verschwindet man schon mal schnell mindestens bis zum Knie, manchmal bis zur Hüfte. Dreimal kündigt Jutta den Rücktritt an, hat Angst auszurutschen, sich etwas zu verdrehen oder zu brechen. Ich versuche sie zu motivieren mich weiter zu begleiten. Ich glaube sie ringt innerlich mit sich selbst und dreht nur deshalb nicht um, weil sie schon auf dem Weg zum Gletscher einen Rückzieher gemacht hat. Hätte sie vorher gewusst, was uns hier erwartet, dann wäre sie bestimmt mit bis zum Gletscherrand aufgestiegen. (Anmerkung Jutta: „Nö, da wär ich trotzdem nicht weiter mit hochgekommen und ich hab auch nicht mit mir gerungen ;)“ )

„Nur noch zehn Schritte!“, sage ich laut, drehe mich um zu Jutta. Dann rutsche ich aus und finde mich auf allen Vieren wieder. „Nichts passiert, mir geht’s gut!“ Ich stehe auf, halte mich an einem Baum fest und reiche Jutta die Hand, um diese schwierige Stelle zu überwinden. Nach einer dreiviertel Stunde haben wir den Aufstieg geschafft und werden belohnt mit einer grandiosen Aussicht über einen weißen Peyto Lake.

Peyto Lake

Sogar die Besucherplattform ist mit hohem Schnee bedeckt. Auch hier ist nirgends geräumt und der Aufstieg erfolgt auf eigene Gefahr. Der Peyto Lake wechselt, je nach Jahreszeit und Stand der Sonne die Farbe, zwischen blau, grün und türkis, was dieses Ausflugsziel wohl auch so attraktiv macht. Im Winter kommt eine weitere Farbe hinzu: weiß. Heute ist der 14. Mai und wir befinden uns in den schneebedeckten Rockies, augenscheinlich noch immer im Winter.

Vorsichtig begeben wir uns auf den Rückweg. Jutta hat inzwischen meine Technik übernommen, die es ihr ermöglicht, ohne viel Schlittern und Rutschen nach unten zu kommen. Sie stößt bei jedem Schritt die Hacken tief in den Schnee und freut sich, als das andere Wanderer, vor allem Frauen, kommentieren und nachmachen.

Unversehrt kommen wir unten an und ich freue mich darüber, dass wir beide gemeinsam den Aufstieg gemeistert haben und die Aussicht auf den Peyto Lake genießen konnten. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Paradox, aber wahr.

Schnee, wohin man blickt

Weiter im Programm geht es mit dem Lake Louise. Den IFPW haben wir hinter uns gelassen, nun fahren wir auf dem Trans Canada Hwy. Eine halbe Stunde und 44 Kilometer später sind wir da. Unterwegs fahren wir unter vielen begrünten und baumbewachsenen Brücken durch. Nachdem wir uns zunächst nichts dabei gedacht haben und sie noch für „normale“ Übergänge über die Autobahn hielten, kamen wir dann doch ins Grübeln.

Hat es vielleicht etwas mit dem Wildlife zu tun? Der Trans Canada Hwy ist stark befahren, oft mehrspurig und die Leute sind zügig unterwegs. Auf den Brücken stehen Bäume aller Art und links und rechts des Highways sind nur Wälder. Diese sind auf der ganzen Strecke des Highways eingezäunt. Über diese Brücken können alle Tiere umherziehen, ohne den Verkehr zu gefährden und selber Opfer eines Rasers zu werden. Wir sind begeistert über die Liebe der Kanadier zu ihren Wildtieren und hoffen, dass es Mensch und Tier zugute kommt.

Lake Louise

Der Parkplatz am Lake ist kostenpflichtig und es gibt eine Menge Ausweichparkplätze weiter abseits, sollte dieser überfüllt sein. Heute ist er es nicht, aber voll ist es trotzdem. Lake Louise ist eben auch ein Touristen Hotspot. Ich will mal versuchen mich etwas kürzer zu fassen, damit dieses Chapter nicht den Rahmen sprengt. Am Automaten zahlen wir die Parkgebühr, nachdem uns ein Ordner einen Platz zugewiesen hat. Dann spazieren wir den kurzen Weg zum See vor dem Grandhotel „The Fairmont – Chateau Lake Louise“.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Kulisse traumhaft ist. Wir wagen uns auf den zugefrorenen Lake, weil bereits schon viele Andere auf der Eisfläche sind. Als wir damals hier waren durften wir nicht alleine im Wald um den See herum wandern, wegen erhöhter Grizzlybären Warnung. Es war nur Gruppen mit 6 Personen aufwärts gestattet. Dann ist der Geräuschpegel höher und die Gefahr einer Attacke deutlich geringer. Aber wandern wollen wir heute eh nicht mehr. Wir wollten nur einen kurzen Abstecher hierher machen. Ich will noch das Hotel von vorne sehen und deswegen verlassen wir die Eisfläche, die nicht durchgängig ist, sondern nur Teile des Sees bedeckt. Auf dem Weg am Rande des Lake Louise sehe ich jetzt auch Warnhinweise vor dünnem Eis.

Ich weiß auch nicht, warum ich manchmal so blöd bin…

Aha, denke ich. Na und, was geht mich das an? Gerade waren wir doch drauf und viele Andere auch. Man sieht doch, wo das Eis ist, und wo das Wasser beginnt. Ich mache mein Bild vom Grandhotel und weil ich nicht ganz zufrieden bin mit dem Bildausschnitt, es ist etwas zu nah, gehe ich auf die Eisfläche, um den Abstand zu vergrößern. Noch etwas weiter zurück, dann müsste es gut sein. Ich gehe rückwärts, um das Hotel im Visier zu behalten und dann geschieht es. Es knackt und ich breche ein. „FUCK!“, schreie ich innerlich, mein linkes Bein ist bis zum Knie im Eiswasser. Glücklicherweise ist der rechte Fuß noch nicht eingebrochen und panisch ziehe ich das linke Bein raus. Ich versuche entspannt zu wirken, keine Ahnung, ob es mir gelingt. Schleunigst verlasse ich die dünne Eisfläche und wundere mich mal wieder über meinen Leichtsinn.

Mit einem nassen und einem trockenen Fuß verlassen wir den Lake Louise.

In Banff ist „Overnight Parking“ generell verboten und explizit auch an der Tankstelle, die im Internet als Geheimtipp galt. Wir steuern einen Campingplatz an. Der vordere Teil ist gut für eine Zwischenübernachtung mit großen RV`s, aber nichts für uns. Beim Check In bekommen wir den Tipp, in den Teil des riesigen Campingplatz zu fahren, der etwas tiefer im Wald und schöner gelegen ist. Er heißt „Tunnel Mountain Village I. Dankend nehmen wir die Empfehlung an und fahren weiter. Nach wenigen Minuten sind wir dann dort, checken ein und werden gebeten wachsam zu sein, denn gestern noch wurde ein Grizzly im Camp gesehen. Ruhig lassen wir den Abend ausklingen, mit einem wachsamen Auge.

Einen Bären sehen wir nicht in dieser Nacht. Leider?

Wie soll es jetzt weiter gehen? Diese Frage haben wir uns gestern Abend gestellt. Schnee und Winterfeeling hatten wir jetzt genug. Wir könnten von hier aus direkt nach Calgary fahren, diese Stadt ist für mich gesetzt. Dort will ich unbedingt ins „Broken City“, eine ziemlich coole Bar. Dann würden wir bereits jetzt Richtung Osten weiterreisen. Eine andere Option ist Osoyoos, Canadas „warmest place“ und einzige Wüste des Landes. Das würde allerdings bedeuten, dass wir erst nach Süden fahren bis an die US amerikanische Grenze und dann zurück in den Westen nach British Columbia. Eine Tour von 730 Kilometern und einer reinen Fahrzeit von weit über acht Stunden. Wir kennen und lieben Osoyoos und haben Lust auf Sommer, T-Shirt und kurze Hosen. Es geht sehr schnell, dann ist es entschieden. Es gibt keine Umwege, wir fahren in die Wüste.

Heute ist der 15. Mai und uns steht ein sehr langer Road Day bevor, wahrscheinlich der bisher längste auf dieser Tour. Ich will soweit wie möglich kommen, eventuell sogar bis ans Ziel, zum Haynes Point Provincial Park in Osoyoos. Der Weg führt uns durch den Kootenay N. P., vorbei an den Radium Hot Springs und durch dichte, nebelverhangene und gespenstische Berge. Wir haben eine weitere Bärensichtung weit oben, irgendwo an einer einsamen Bergstraße. Es ist ein Schwarzbär auf der Suche nach Futter.

Wir kommen vorbei an riesigen Seen in abgelegenen Wäldern und sehen traumhafte Häuser am Ufer, alle mit einem eigenen Bootsanleger und Terrasse über dem Wasser. Könnten wir da leben? So einsam und weit ab von jeder größeren Ortschaft? Jutta würde das bejahen, ich vielleicht für eine gewisse Zeit, zum Schreiben zum Beispiel, aber nicht auf Dauer.

Für eine kreative Pause die perfekte Location

Bei einer Pinkelpause halte ich an einem kleinen Rastplatz und sehe ein Plakat von einer vermissten Person. Als wir dann weiterfahren beschäftigt mich das Schicksal von Madison Scott und ihrer Familie eine ganze Weile. Sie ist erst 20 Jahre alt und sieht hübsch aus auf dem Foto, welches auf dem Plakat abgebildet ist. Verschwunden ist sie schon vor langer Zeit, am 23. Mai 2011. Zuletzt gesehen wurde sie in dieser Nacht um drei Uhr früh. Es war bei einem Campingurlaub am Hogsback Lake im nördlichen British Columbia. Ihre Eltern haben 100 000 Dollar als Belohnung ausgesetzt, für Hinweise die zur Ergreifung der/des Täters führen. Ich vermute das Verbrechen ist bis heute noch nicht aufgeklärt, denn das Plakat sieht neu aus, obwohl Madison vor fast genau 11 Jahren verschwunden ist. Ihre Eltern werden die Hoffnung sicher niemals aufgeben und ich schließe sie und Madison mit in meine Gebete ein.

Nothing to say

Es ist ein trüber, regnerischer Tag und wir sind bereits seit vielen Stunden unterwegs. Jutta sorgt sich, wie üblich, um meine Verfassung. Wir sind ausgestattet mit verschiedenen Knabbereien und Nüssen, mit Icetee und Energie Drinks, die ich gerne an langen Fahrtagen konsumiere.

Irgendwann kommt an solchen Tagen immer die Frage: „Wie lange willst du denn noch fahren? Bist du auch noch fit genug?“ Wir sind seit über 6 Stunden unterwegs. „Ja, danke. Mir geht es gut und ich will noch ein paar Stunden weiter fahren, alles bestens.“

Wir wären eigentlich eine andere Route gefahren, über Golden, Revelstoke und Kewlona. Aber dort waren noch einige Pässe gesperrt, wahrscheinlich weil noch zuviel Schnee liegt. Und irgendwie bin ich jetzt ganz froh darüber, denn diese Route gefällt mir ganz ausgezeichnet, trotz oder sogar wegen des trüben Wetters. Das macht die Fahrt durch die wolkenverhangenen Berge irgendwie mystisch.

Wir halten nur für notwendige Bedürfnisse und Kaffee. Ernährt wird sich während der Fahrt fast ausschließlich von Snacks und Softdrinks. Manchmal unterhalten wir uns, manchmal sind wir auch still und genießen den Blick aus dem Fenster. Meine Musik läuft vom Stick. Ich könnte ewig einfach immer so weiter fahren…..

Jutta recherchiert bereits nach möglichen Übernachtungsplätzen, während ich immer noch unschlüssig bin, ob wir heute durchziehen sollten bis zum Haynes Point.

Eine weitere Stunde verstreicht. Ich werde tatsächlich auch etwas müde und mir ist bewusst, dass es meine Verantwortung ist uns heil ans Ziel zu bringen. Mit beginnender Müdigkeit geht oft die Konzentrationsfähigkeit flöten. Jutta plädiert dafür eine Zwischenübernachtung einzulegen und argumentiert, wir seien dann ja auch früh dort, weil die Fahrstrecke nur noch kurz ist. Wenn wir jetzt bald halten, dann wären es morgen tatsächlich nur noch etwa 90 Minuten bis zum Ziel. Damit hat sie mich überzeugt. Heute würden wir eh nichts mehr unternehmen und morgen haben wir dann noch den ganzen Tag und das sogar ausgeruht.

„In einer halben Stunde erreichen wir Grand Forks, dort können wir auf einem „Safe-On-Foods“ Parkplatz stehen. Dann können wir morgen früh mal wieder einen Großeinkauf machen, bevor wir losfahren.“, schlägt sie vor. Ich schaue rüber zu ihr und sage: „Check!

Es ist längst dunkel als wir in Grand Forks einfahren, einer typisch amerikanischen Kleinstadt am Kettle River. Nur noch kurz über die Brücke und da vorne rechts ist schon der Parkplatz vor dem Supermarket. Ich parke unter einer Straßenlaterne (Spitzbuben scheuen das Licht) und beschließe jetzt Feierabend zu haben. Jutta bereitet uns noch eine richtige Mahlzeit zu und bei einem Film endet dieser lange Fahrtag nicht besonders spät.

Gut ausgeschlafen gönnen wir uns ein kleines Frühstück. Mit knurrendem Magen wollen wir keinen Großeinkauf wagen, das könnte sonst teuer werden. Mit vollem Einkaufswagen stehen wir schließlich an der Kasse, da fällt Jutta ein, dass ihr noch etwas fehlt. „Mach du das hier, ich muss noch mal los!“, sagt sie nur und schon ist sie verschwunden. Ich gucke etwas verdutzt, bin aber entspannt, weil jeder seine eigene Kreditkarte hat. Ich habe bereits alles auf das Laufband gelegt, wieder in den Wagen sortiert und bezahlt, von Jutta keine Spur. Am Ausgang warte ich und halte Ausschau, da kommt sie um die Ecke und stellt sich an die Kasse. Wir bekommen Blickkontakt und ich rufe zu ihr rüber: „Das hat aber gedauert, hast du alles gefunden?“ „Jaja, alles gefunden!“, sagt sie.

Ich bemerke, wie ein älterer Herr mich mustert. Habe ich zu laut gerufen, ob Jutta alles gefunden hat? Er kommt zu mir rüber und sein Blick lässt nicht ab von mir. „Kommen Sie aus Deutschland?“, fragt er mich auf deutsch mit amerikanischem Akzent. Erstaunt sage ich: „Ja, ich komme aus Deutschland, 30 km südlich von Bremen. Eine nette Unterhaltung entwickelt sich zwischen uns und er hat viele Fragen unsere Reise betreffend. Er ist selber auch aus Deutschland, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Canada. Ich zeige ihm durch die Tür unseren LEMMY auf dem Parkplatz und er ist ganz begeistert. Er will auch demnächst eine Campingtour machen, in den Yukon. Dafür hat er sich seinen Kombi umgebaut. Er sagt, er brauche nicht viel. Eine Matratze liegt hinter den Vordersitzen, dann nimmt er noch ein Zelt mit, einen Gaskocher und viele eingemachte Lebensmittel. Mehr benötige er nicht. Ob wir nicht mit auf ein Bier mit zu ihm kommen wollen, fragt er mich. Überrascht und erfreut über diese spontane Einladung lehne ich aber dankend ab. „Wir müssen weiter nach Osoyoos und wollen nicht so spät dort ankommen. Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich nehme an er lebt alleine. Vielleicht ist seine Frau schon verstorben, sonst würde er doch nicht auf eine lange Reise in den Yukon starten, oder? Wir plaudern noch etwas auf dem Weg zu unseren Autos und dann zeigt er mir seinen weißen Kombi. Er muss ein sehr genügsamer alter Herr sein. Ich finde ihn sehr sympathisch und bin etwas traurig, weil wir seine Einladung ausgeschlagen haben. Wahrscheinlich hätten wir einen interessanten Tag bei ihm gehabt, aber ich kenne mich, nach dem ersten Bier hätten wir ein Zweites getrunken und wir wären heute nicht mehr in die Wüste gekommen. So bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu verabschieden und uns gegenseitig alles Gute zu wünschen. Ich hoffe wirklich, das er eine großartige Tour durch den Yukon erlebt.

Ich tanke noch voll, mache einen kleinen Abstecher in einen Beerstore und dann geht es ab nach Osoyoos.

An einem „Welcome to Osoyoos“ Schild halte ich kurz. Wir sind auf einem Berg und schauen runter auf den See. Er zieht sich schmal und lang von Nord nach Süd und ein gutes Drittel des Lakes reicht über die Grenze in die USA. Auf der kanadischen Seite ist eine Halbinsel, ebenfalls schmal und lang, ungefähr so geformt wie ein Schuhlöffel, der Haynes Point Provincial Park. Dort wollen wir hin. Die Temperatur geht stramm auf die 20° zu und weiter unten werden wir sie hoffentlich noch toppen.

Canadas only desert

Vorbei an einem Wohngebiet geht es direkt auf die Halbinsel. Wir sind angekommen. Links und rechts von uns ist Wasser. Zuerst wird die Lage sondiert. Es sind fast alle Plätze belegt, damit hätten wir jetzt nicht gerechnet. Drei freie Stellplätze sind noch verfügbar. An manchen leeren Plätzen sehen wir „Reserviertkarten“ an den Nummernpfosten und hinter uns folgt schon ein Pickup Camper.

Wir fackeln nicht lange und belegen eine Campsite, die uns auf Anhieb zusagt. „Yes, geschafft!“

Mal wieder ein Traumstellplatz

Ich baue draußen alles auf, was die Staufächer zu bieten haben. Tisch und Stühle, ist ja klar und auch das Tarp wird endlich mal wieder aufgespannt. Der Kühlschrank wird mit ein paar Bieren befüllt. Es weht ziemlich stark und wir befinden uns am Anfang von Haynes Point, an der sehr schmalen Stelle, wo uns der Wind von allen Seiten trifft. Wir gehen zu Fuß rüber zu den freien Stellplätzen weiter hinten, wo der Bewuchs stärker ist und mehr Windschatten bietet. „Diese Campsite ist doch noch schöner als unsere.“, stellen wir fest. „Und auch viel geschützter. Bleib du hier und halt den Platz für uns frei, falls ein anderer Camper kommt. Ich hole eben zwei Stühle rüber und stelle sie hier ab, dann holen wir das Auto nach!“ Gesagt getan. Ich bringe unsere beiden Campingstühle und reserviere damit die neue Campsite und dann packen wir alles zusammen und ziehen um. Jetzt sind wir richtig angekommen. Cheers!

Blick von oben auf den Haynes Point P. P.

Wir überlegen, wie lange wir bleiben wollen und ich bin für 5-6 Tage. Jutta ist sofort dabei. Hier können wir mal wieder so richtig abschalten und Pause vom Reisen machen. Die Temperatur ist bei angenehmen 22°, wenn die Sonne scheint. Ich habe vor ein neues Chapter zu beginnen und freue mich darauf draußen zu schreiben. Wir fühlen uns pudelwohl und sind glücklich so einen tollen Stellplatz ergattert zu haben. Nach uns sehen wir andere Camper an uns vorbei fahren, die keinen freien Platz finden. Wir sehen sie kommen und gehen. Wie gut, dass wir kein Bier mehr in Grand Forks mit dem netten alten Herren getrunken haben. Das hätte uns diesen Platz gekostet.

Der Ranger kommt vorbei und registriert uns. Wie lange wir bleiben wollen, will er wissen. „So 5-6 Tage.“, antworten wir. Er schüttelt den Kopf, das tue ihm sehr leid, aber am 20. Mai müssen wir abreisen. Ab da beginnt die Saison und alles ist reserviert und ausgebucht. Da ist nichts zu machen. So ein Mist, aber nützt ja nix. Wir haben dann eben nur 4 Tage, das ist doch nicht schlecht. Ich bestelle noch zwei Bundle Firewood, die er später vorbeibringen will.

Wir haben eine fantastische Zeit am Haynes Point. Ich schreibe oft und das neue Chapter macht richtig viel Spaß. Es geht um New Orleans in Louisiana (NOLA) und ich switche zwischen den Identitäten hin und her. Es ist etwas abgedreht und für mich auch experimentell. Mal bin ich ich und mal bin ich Lincoln Clay, ein fiktiver Charakter aus der Mafia PC Spielwelt. Die meiste Zeit verbringen wir im French Quarter, wo auch (unter anderem) das Mafia III Universum angesiedelt ist. Ich liebe NOLA und ich liebe Mafia. Was liegt also näher als beides miteinander im neuen Chapter zu verknüpfen?

Ein neues Chapter wird geboren…

Jutta liest viel und wir lassen es uns gut gehen. Manchmal weht der Wind von Nord nach Süd und trifft uns mit voller Wucht von der Seeseite aus. Dann muss ich das Tarp abbauen, aber die Handgriffe sitzen und es geht alles sehr schnell. Die Wasserpumpe hat auch wieder ihren Geist aufgegeben, wie zuletzt in der Türkei auf dem Dragon Camp, aber das stresst uns nicht mehr. Wir haben eine Ersatzpumpe im Gepäck und bis ich die einbaue, benutzen wir den Wassersack, den Jutta mitgenommen hat. Abends sitzen wir gerne am Lagerfeuer und schauen über den See, wenn auf der anderen Seite langsam die Lichter angehen.

Osoyoos auf der kanadischen Seite

Manchmal grillen wir Mais, Paprika, Zucchini und für mich darf es auch mal eine Bratwurst sein, über der Feuerstelle. So vergehen die Tage schneller als uns lieb ist, aber ich komme ganz gut voran mit dem Schreiben. Morgen werde ich mal die Wasserpumpe tauschen und dann müssen wir uns noch eine andere Simkarte besorgen, mit einer besseren Netzabdeckung. Jutta hat schon einen Laden dafür rausgesucht, wir müssen dann allerdings mit dem Auto los, da es nicht eben um die Ecke ist.

Das Tauschen der Wasserpumpe klappt auf Anhieb und es fühlt sich gut an, wenn alles nach Plan läuft und im Fahrzeug die Sachen funktionieren, die wir täglich brauchen.

Das gute Gefühl wird mitgenommen auf dem Weg zum Telus & Koodo Store in Oliver. Unterwegs will ich noch nach einem bestimmten Café suchen, wo wir damals eingekehrt sind. Es sollte direkt gegenüber unseres Stellplatzes auf der anderen Seite des Sees sein und Mr. Elvis Presley himself ist schon dort gewesen. Viele Fotos schmückten die Wand, auf denen Elvis genüsslich seinen Kuchen verspeist. Leider finde ich das Café nicht wieder. Wahrscheinlich existiert es nicht mehr, denn ich bin mir sicher, dass es genau hier an der Uferpromenade war.

Wenigstens haben wir Glück im Telus Shop. Wir werden von einer netten Dame gut beraten und müssen auch nicht lange warten. Das Freischalten der Karte will Jutta dann Zuhause erledigen, sie ist routiniert darin.

Die Landschaft hier erinnert mich stark an die Weinregion in California, überall sind Winerys, die zur Verkostung einladen. Wir genießen den kleinen Ausflug bei offenem Fenster und spüren den lauen Wind durchs Auto wehen.

Zurück im Camp baue ich das Tarp wieder auf, damit ich im Schatten schreiben kann. Jutta kümmert sich um die Simkarte. Da gibt es allerdings Probleme, sie kann die Karte nicht freischalten, weil unsere deutschen Kreditkarten nicht akzeptiert werden. So was Blödes, jetzt müssen wir morgen noch mal in den Laden fahren, um dort zu bezahlen und das Freischalten von der netten Dame vornehmen zu lassen.

Am Lagerfeuer bei einem Drink besprechen wir schon mal, wie es demnächst weiter gehen soll. Wie gesagt, Calgary ist gesetzt. Wir wollen aber die 731 Kilometer nicht am Stück fahren und auch keine achteinhalb Stunden. Wie wäre es denn, wenn wir jetzt die Strecke über Kelowna, Revelstoke und Golden fahren, die auf dem Hinweg noch gesperrt war? Da kommen wir dann auch durch den Glacier National Park of Canada. Wir finden die Idee großartig und wollen es genauso machen, wenn die Route bis dahin wieder freigegeben ist.

Beim zweiten Besuch in Tom Harris Telus & Koodo Store zahlen wir bar und alles läuft reibungslos.

Wir haben rausgefunden, dass es auch hier Geld für leere Bierdosen und Wasserflaschen zurückgibt, wenn man weiß, wo man sie abgeben kann. So erledigen wir das eben auch noch und dann geht es wieder zum Haynes Point. Ich mache gute Fortschritte mit meinem NOLA Chapter und will heute Nacht noch fertig werden. Ich baue wieder alles auf, hole mir das Laptop raus und einen frisch gebrühten Kaffee. Für Bier ist es noch zu früh und mich erwartet eine lange Nacht. Der Schreibtisch steht. Mit einem genialen Blick über den See nehme ich Platz in meinem Outdoor Office. Jutta sitzt in der Sonne und liest. Ich schaue rüber zu ihr und sage: „Bitte nicht stören in den nächsten Stunden, ich begebe mich jetzt nach New Bordeaux.“ Dann beginnt meine Transformation, unter dem Tarp im Schatten. Jetzt sitzt nicht mehr Jürgen Godt an der Tastatur……. nein……., jetzt haut Lincoln Clay in die Tasten…. „Yes, he is back!“

Lincoln Clay at work….

…und was als nächstes geschieht…

CHAPTER III – AUF DEM 7821 KILOMETER LANGEN TRANS CANADA HWY, VON WEST NACH OST

…und wie ich mit einem bekannten Neurologen über einen besseren Rausch mit Tilidin Tropfen philosophiere…

3. Akt

Chapter 25 – Going to Canada, into the wild

…und wie wir in Vancouver in eine Kolonie der lebenden Toten geraten…

Wir haben North Bend, Snoqualmie, Fall City und damit die Region des fiktiven Twin Peaks verlassen. Aber eine Sache steht noch an auf dem Weg nach Canada. Ein Besuch in Everett, das liegt fast an unserer Route raus aus den Staaten. Dort befindet sich das Elternhaus von Laura Palmer. Bob konnten wir nur knapp entkommen. Hoffen wir mal, dass Leland Palmer uns nicht begegnet, denn das wäre genauso fatal, als würde Bob uns auflauern. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich will nicht zu viel verraten, falls doch jemand nach der Lektüre des letzten Chapters auf den Twin Peaks Zug aufspringen möchte. Und die „Anderen“, die „Twin Peaks Freunde“ verstehen es ohne Erklärung.

In weniger als einer Stunde nach dem letzten schwarzen Kaffee im Double R Diner stehen wir vor Laura Palmers Haus. Dies hier scheint eine ruhige Wohngegend zu sein, sauber und friedlich wirkt es auf uns. Eine graue Betontreppe bahnt uns den Weg nach oben zum zweistöckigen Wohnhaus, flankiert von dichtem, grünen Rasen. Dann eine weitere Treppe aus roten Ziegelsteinen. Vor dem  Eingangsportal stehen zwei Stühle. Die Fenster im 2. Stock sind mit weißen Gardinen zugezogen. Das ganze Haus ist schneeweiß gehalten, bis auf die dunkelgrauen Dachschindeln. Es wirkt alles sehr gepflegt, die ganze Nachbarschaft hat nett angelegte Gärten und überall ist der Rasen frisch gemäht. Nicht dass es einen Grund für Gerede gibt, weil jemand seinen bürgerlichen Pflichten nicht nachkommt. Wir steigen aus und es scheint niemand Zuhause zu sein, was uns beruhigt. Ein Fußgänger führt seinen Hund Gassi und schaut uns im Vorübergehen misstrauisch an, dann blickt er zu unserem Auto und wieder zu uns. Er flüstert seinem vierbeinigen Gefährten etwas zu, das ich nicht verstehe, dann verschwindet er von der Bildfläche.

Laura Palmers Elternhaus

Augenblick mal, war da oben am rechten Fenster nicht etwas Bewegung in der Gardine? Ich könnte schwören aus dem Augenwinkel Laura Palmer gesehen zu haben. Nicht die komplette Laura Palmer, aber die Hälfte ihres hübschen Gesichts. Wie sie mit einem Auge hinter der Gardine hervorlugt, runter auf die Straße schaut und mir ein halbes Lächeln schenkt.

Laura Palmers Haus – Twin Peaks

Mit einem guten Gefühl verlassen wir Everett und nehmen den Freeway 5 in Richtung Canada. In Blaine wollen wir die Grenze von der USA nach White Rock überqueren, um heute Nachmittag Vancouver zu erreichen. Etwa 80 Minuten später sind wir an der Grenze und reihen uns ein. Die „Nexus“ Spur ganz außen ist Pendlern vorbehalten, die täglich zwischen den USA und Canada hin und her fahren.

Heute ist der 20. April 2022 und wir hätten noch bis zum 5. Mai in den USA bleiben dürfen, dann erst sind die erlaubten 90 Tage vorüber. Aber wir haben uns entschieden früher nach Canada einzureisen, in der Hoffnung dem Schmuddelwetter zu entkommen und um mehr Zeit für Vancouver Island zu gewinnen. Ein anderer Gedanke dabei ist auch, wenn wir schon immer wieder von Neuem in den Frühling fahren, dann evtl. mit Schnee in den höheren Lagen. Im Nachhinein betrachtet, wäre die einzige bessere Option gewesen, den Sommer im südlichen Kalifornien zu verlängern. Aber dann hätten wir mit Pam und Earl anders planen müssen und im Grunde ist es jetzt müßig drüber nachzudenken, was wir hätten anders machen können, um eine Schönwettergarantie zu haben. Wir haben vielleicht zu hoch gepokert und uns zu sehr darauf verlassen, dass die Jahreszeiten immer optimal verlaufen in Nordamerika.

Oh, wir sind gleich schon am Schalter des Grenzbeamten, nur noch zwei Autos vor uns. Es geht zügig voran und als wir an der Reihe sind, zeigen wir unsere Dokumente vor und werden nach mitgeführten frischen Lebensmitteln befragt. „Nur etwas Obst!“, antwortet Jutta. Ob wir „peaches“ dabei haben, werden wir gefragt. Jutta verwechselt „peaches“ (Pfirsiche) mit „pears “ (Birnen) und sagt ja. Ob wir wissen, wo es sich im Auto befindet, will er noch wissen und Jutta bestätigt. Dann weist er mir den Weg links raus zu einigen Mülltonnen, wo andere Beamte stehen, die die Entsorgung der deklarierten Lebensmittel überwachen. Erst jetzt erkennt Jutta ihre Verwechslung. Sicherheitshalber schmeißt sie die Birnen aber weg. Auf Erklärungen und Diskussionen mit den Grenzbeamten wollen wir uns nicht einlassen. Bevor wir unsere Papiere zurückbekommen, drückt der freundliche Zollbeamte Jutta ein kleines Päckchen in die Hand. Das sei ein PCR Test und Jutta müsse ihn innerhalb von 48 Stunden durchführen und abgeben. So ein Mist, ausgerechnet uns hat diese Stichprobe mal wieder erwischt.

Wir bekommen unsere Pässe zurück und weiter geht es auf kanadischem Boden nach Surrey, einem Vorort von Vancouver. Dort gibt es einen BestBuy Laden, in dem wir eine neue Simkarte kaufen wollen. Die Karte aus den USA funktioniert nicht in Canada.

Ich parke nach kurzer Fahrt auf einem riesigen Parkplatz vor dem Laden und wir hoffen auf einen guten Deal. Eine junge Inderin berät Jutta und uns fällt sofort auf, wie multikulturell es schon hier, so dicht hinter der Grenze zugeht. Im Geschäft sind viele verschiedene Nationalitäten anzutreffen, sowohl bei den Angestellten, als auch bei den Kunden. Sehr viele Menschen kommen aus dem asiatischen Raum. Meistens vermute ich, sind es Inder, aber auch Chinesen, Vietnamesen, Thailänder und so weiter. Es sind Leute aus allen Teilen der Welt und das liebe ich so an Canada. Jeder ist willkommen und das Land ist offen und tolerant. Das ist uns bei allen Kanadareisen zuvor schon aufgefallen, egal ob an der Westküste oder an der Ostküste. Obwohl es mir so vorkommt, als sei die Völkervielfalt im Westen noch größer als im Osten.

Jutta wird handelseinig mit der jungen Verkäuferin und wir können uns auf den Weg machen durch Vancouver zu unserem Stadtcampingplatz, dem Capilano River RV Park auf der westlichen Seite. Hinüber gelangen wir zunächst über die Iron Workers Memorial Bridge und kurz darauf checken wir ein. Angekommen in einer der wohl schönsten Metropolen der Welt.

Capilano River RV Campingplatz – Vancouver

Der Capilano River RV Campingplatz ist ein typischer Stadtcampingplatz mit viel Komfort. Es gibt einen beheizten Whirlpool im Innenbereich, einen Außenpool und saubere Sanitäreinrichtungen. Gegenüber der Rezeption ist eine Lounge mit Getränke- und Snackautomaten, einer Eiswürfelmaschine, einer Waschmaschine und freiem Wlan auf dem ganzen Gelände. Um uns herum haben wir eine prächtige Bergkulisse, den Pazifik vor der Tür und Einkaufsmöglichkeiten ohne Ende. Auch ein Kino und diverse Restaurants gibt es im großen nahegelegenen Einkaufskomplex. Hier bleiben wir auf jeden Fall erstmal einige Tage, um Vancouver zu erkunden, Wäsche zu machen, lecker zu kochen und auch mal wieder ausgiebiger einzukaufen. Eine unserer beiden Gasflaschen ist mittlerweile leer und die kann ich mir hier auffüllen lassen, denn draußen vor dem Pool steht ein großer Propangastank. Aber eins nach dem anderen. Heute kaufen wir nur noch ein, denn ich habe Lust zu kochen. Jutta muss innerhalb von 24 Stunden online einen Termin machen für den videoüberwachten PCR Test. Das ist bereits erledigt und morgen Vormittag um 11 Uhr ist das Appointment.

Parkdeck des Einkaufcenters

Wir machen einen Spaziergang zum Einkaufscenter und staunen über die grandiose Aussicht. Der Blick wandert rüber zur Lions Gate Bridge. Die Brücke verbindet Westvancouver mit dem berühmten Stanley Park, Coal Harbour und Downtown Eastside. Unter der Brücke fährt gerade ein großes Frachtschiff nach Vancouver Harbour ein. Egal in welche Richtung wir schauen, überall ragen die riesigen, schneebedeckten Berge in den Himmel. Diese Stadt ist gesegnet mit prächtiger Natur in der nahen Umgebung.

Bis ins Wintersportparadies Whistler ist es nur einen Katzensprung. Um nach Vancouver Island zu kommen, mit den leider nicht mehr ganz unberührten Regenwäldern (es wurde und wird viel abgeholzt) geht es von der Horseshoe Bay mit der Fähre nach Nanaimo. Und dann ist da noch der Pazifik. Welche Stadt hat so viel Flair, Natur und Ozean zu bieten? Rio de Janeiro vielleicht und meinetwegen auch Sydney und Kapstadt. Aber in Südafrika war ich noch nicht, das kann ich also nicht wirklich beurteilen.

Lions Gate Bridge

Im Asiasupermarkt bummeln wir gemütlich durch das reichhaltige Sortiment und kaufen frischen grünen Spargel, Tagliatelle, Parmaschinken und noch Einiges mehr. Hier scheint es so ziemlich alles zu geben. Eine Flasche Wein kommt auch noch in den Einkaufswagen und dann machen wir uns wieder auf den Rückweg.

Capilana RV Stadtcampingplatz West Vancouver

Weitere Aktivitäten heute sind nicht geplant, nur noch kochen und einen Film schauen. Vancouver steht morgen auf dem Programm, nach diesem blöden Appointment um 11 Uhr.

Für das Abendessen genehmige ich mir einen Küchenwein und mache mich daran ein leckeres Pastagericht zuzubereiten. Dabei fällt mir ein, dass ich mich morgen mal um das Auffüllen der Gasflasche kümmern sollte.

Tagliatelle mit Spargel und Schinken
Pasta & Wine

Beim Frühstück bemerke ich Juttas Anspannung. Der Wlan Empfang ist an unserem Platz nicht so wirklich gut und sie hat Bedenken, dass es für die Videoverbindung nicht reicht. Zum Glück wurde ich nicht ausgewählt für den Test. Ich muss sogar vor 11 Uhr das Auto verlassen, während Jutta den Videotermin wahrnimmt. Ich frage derweil an der Rezeption, ob mir jemand meine Propangasflasche auffüllen kann. „Yes sure!“, bekomme ich zu hören. Ich soll schon mal beim großen Propantank warten, es komme gleich jemand. Die kleine 2,7 Liter Aluflasche und einen Adapter habe ich dabei.

Dann kommt ein etwas untersetzter Mann mit gerunzelter Stirn auf mich zu. Er hat einen schmutzigen Blaumann an. Kritisch beäugt er meine Propanflasche und sagt: „I have no idea how it works!“ Ich zeige ihm meinen Adapter und er versucht sein Glück. Es funktioniert. Ich will wissen was mich der Spaß kostet und er runzelt erneut die Stirn. Das war so wenig Gas, das er mir da in meine winzige Flasche gefüllt hat, das kann er mir nicht berechnen. Ich bedanke mich vielmals und gut gelaunt verstaue ich die Flasche wieder im Gasfach im Auto. Auch der nette Blaumann Typ verabschiedet sich  bestens gestimmt, denn er hat mir mit der kleinen netten Geste, nichts zu berechnen, den Tag versüßt und bekanntlich kommt das Glück und die guten Taten, die man vollbringt, zu einem zurück.

Vorbereitet für den PCR Test

Jetzt klopfe ich an die Tür um zu sehen, ob Jutta mit ihrem Termin fertig ist und schon steht sie vor mir. „Hat alles gut geklappt, eine nette Inderin am anderen Ende der Leitung hat den Test mit mir durchgeführt. Ich musste ihr alles zeigen und jeder Schritt wurde von ihr sorgfältig beobachtet, kommentiert und dokumentiert. Jetzt müssen wir nur noch auf den Lieferanten warten, der den Test gleich abholen wird. “

Eine halbe Stunde später sehen wir einen weißen FedEx Lieferwagen an der Rezeption stehen. Der Fahrer wird vermutlich gerade nach uns fragen. Jutta geht schon raus und winkt ihn herüber. Pflichttermin ist abgehakt, jetzt haben wir den Rest des Tages zur freien Verfügung.

This way

Die Sonne scheint, es ist Frühling in British Columbia. Deshalb wollen wir mit den Bikes über die Lions Gate Bridge fahren, durch den Stanley Park, nach Downtown. Dass wir heute Abend vollkommen geschockt und deprimiert zurückkehren werden, davon ahnen wir jetzt noch nichts.

Die Räder sind startklar, der Luftdruck auf den Reifen ist gut, aber ich brauche neues Flickzeug. Unterwegs musste ich doch immer mal wieder die Reifen flicken, an so wundervollen Orten wie zuletzt in San Francisco vor Alcatraz oder am Santa Monica Beach in Los Angeles. Das sollte aber kein Problem sein, denn es gibt im Zentrum einen Fahrradladen. Jutta hat ihn schon rausgesucht. Wir haben auch noch einige US Dollars, die wir in der Bank gegen Canada Dollar tauschen wollen. Bestens gelaunt fahren wir los, in eine der beeindruckendsten Städte der Welt.

Doch bevor wir das Stadtzentrum erreichen müssen wir über die Lions Gate Bridge. Sie ist nur ca. 1,5 km lang, aber die Steigung die wir bis zum Scheitelpunkt zurücklegen müssen, die hat es in sich. Wir kämpfen uns hoch und treten ordentlich in die Pedalen, aber dann werden wir belohnt mit einem unglaublichen Blick auf Vancouver und den Stanley Park vor uns. Ab jetzt geht es abwärts und ich schalte in den höchsten Gang und trete richtig in die Pedalen. Das Tacho zeigt eine Geschwindigkeit von 47 km/h an. Ab jetzt lasse ich mich rollen und freue mich hier sein zu dürfen. Einen kurzen Augenblick bin ich ganz bei mir und unendlich dankbar, so eine Reise machen zu können. Unten angekommen warte ich auf Jutta, denn es gibt zwei Möglichkeiten weiter zu fahren, die ich mit ihr besprechen will. Wir entscheiden uns für den längeren Weg, nah an der Wasserkante, anstatt den direkten Weg mitten durch den Park. Zwischendurch halten wir immer mal an, um den wahnsinnigen Blick auf die Brücke zu bewundern, um uns künstlerische Totempfähle anzusehen oder um den Blick auf die Skyline zu bewundern. Ich kann nicht genug schwärmen für diese Stadt……, bis wir die Not in der East Hastings Street hautnah erleben.

Skyline von Down Town Vancouver hinter dem Stanley Park

Nachdem wir den Stanley Park linksseitig halb umrundet haben, kommen wir an die Waterfront von Vancouver Downtown. Die Wasserflugzeuge starten hier am laufenden Band und werden wie Taxis genutzt, denn viele Orte sind über Straßen nur schwer oder gar nicht zu erreichen. Vom Canada Place schauen wir rüber auf West Vancouver, auf die andere Seite von Vancouver Harbour. Neben dem angenehmen Sightseeing Programm haben wir allerdings heute noch etwas zu erledigen. Wir müssen eine Bus & Metro Karte kaufen, damit wir von unserem Campingplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln schnell, günstig und unkompliziert in die Stadt und zurückkommen. Das wird in Windeseile von Jutta am Canada Place erledigt. Einmal runter in die U-Bahn an den Automaten, Tickets ziehen und fertig.

Jetzt noch schnell in eine Bank, um unsere US Dollar gegen Canada Dollar zu tauschen. Das dauert leider etwas, weil die Schlange am Schalter ziemlich lang ist. Ich warte draußen vor der Tür und passe auf die Bikes auf, während Jutta sich in die Reihe der Bankkunden anstellt. Ich warte und beobachte das Treiben auf der Straße. Vancouver ist eine fahrradfreundliche Stadt, es gibt Spuren ausschließlich für Biker. Gewöhnungsbedürftig für uns nur, dass sie teilweise mitten zwischen den Autospuren verlaufen. Ist man vertraut mit dem System, kann man als Biker auf gut markierten Spuren durch ganz Vancouver radeln. Wir fahren, als Jutta mit frisch getauschten Geldscheinen aus der Bank kommt, zum Fahrradladen. Es geht nur zwei Blocks weiter, links um die Kurve und schon sind wir da. Ich kaufe zwei Packungen Flickzeug, für jede Fahrradtasche Eine.

Harbour Air

Jetzt wollen wir uns noch China Town ansehen und ich will unbedingt in die East Hastings Street. Die Sachen von der „To do Liste“ sind alle erledigt. Auf dem Weg fahren wir durch das alte Gastown. Vorbei an der Steamclock, die alle 15 Minuten (betrieben durch Wasserdampf) für die Touristen pfeift. Wir stöbern noch kurz durch einige Shops und kaufen unter Anderem einen Canada Sticker für LEMMY.

Steamclock in Gastown

Das mit der East Hastings Street ist eher mein Ding und ich will dorthin fahren, weil mich die Gegend interessiert. Ich weiß noch von unserem ersten Vancouver Besuch im Jahr 2004, dass dort der „No Go District“ für Touristen ist. Chinatown liegt allerdings direkt an dieser „Problemstraße“ und im Reiseführer stand damals, man solle sich dort fern halten. Wenn ich allerdings so etwas lese, dann erregt das in besonderem Maße meine Aufmerksamkeit und zieht mich magisch an, so auch heute. Und ich leite Jutta durch den wuseligen Stadtverkehr in Richtung Chinatown, von der West Hastings Street in die East Hastings Street. Diese Straße ist endlos lang, doch das Grauen spielt sich größtenteils in und um China Town ab. Schon auf dem Weg in diese Gegend werden wir immer schweigsamer, immer ruhiger. Die anfängliche Euphorie hier zu sein, löst sich in Luft auf. Das pure Entsetzen übermannt uns. Das was wir hier zu sehen bekommen, haben wir in dieser Intensität noch in keiner anderen Metropole der Welt gesehen. Wir befinden uns in einem Bezirk der Untoten.

China Town Vancouver

Wir kennen das aus dem normalen Großstadtleben. Jeder hat schon einen Junkie gesehen, einen der an der Nadel hängt, der auf Crack ist oder einige der „Verlorenen“, die auf Meth abfahren. Die Methjunkies bilden hier wohl die größte Gruppe, die diese Gegend um Chinatown bevölkern, die wie lebende Tote umherziehen. Überall stehen Zelte auf den Bürgersteigen und direkt am Straßenrand. Kleidung, die zum Kauf angeboten wird, stapelt sich auf alten Decken und es wird gekauft, was für den ein oder anderen von Nutzen ist und verkauft, was sich noch irgendwie zu Geld machen lässt. Dies ist kein gewöhnlicher Flohmarkt, es ist ein Markt von Junkies für Junkies. 

Shop in China Town

Die Untoten stolpern umher, liegen in den Seitengassen, starren ins Leere und teilweise verhandeln sie einen Deal oder setzen sich einen Schuss. Auch das geschieht hier auf offener Straße und die Behörden scheinen völlig die Kontrolle verloren zu haben. Wir reden nicht, noch nicht. Ich fahre weiter vorweg, biege nach rechts ab, um weiter ins chinesische Viertel vorzudringen. Hinter uns bleibt ein Heer von Drogensüchtigen zurück, die etwas abseits der East Hastings Street die Straßen eher vereinzelt bevölkern. So etwas habe ich nicht erwartet und auch noch nie zuvor erlebt. Weder 2004, als wir in der selben Straße waren, noch sonst irgendwo anders auf der Welt. In der Main Street halten wir kurz, orientieren uns und versuchen das Gesehene zu verarbeiten. Einer der verloren Seelen schlurft vorbei, nimmt kaum Notiz von uns. Seine Jeans hängt in den Knien und seine Unterhose bedeckt nur notdürftig, was sie bedecken soll. Beschämt wenden wir uns ab.

Wir sehen jemanden, bei dem der Hintern in den Himmel ragt und der Kopf unterhalb der Knie hängt. So steht er da, kopfüber, weggebeamt in eine fremden Welt und ich frage mich, wie das anatomisch überhaupt möglich ist. Drumherum sitzen und stehen andere Süchtige, als wäre es das Normalste von der Welt, seinen Rausch in dieser Körperhaltung zu erleben.

Totempfähle im Stanleypark

Kein Trip der Welt ist es wert, so ein Leben führen zu müssen. Was rede ich? Das ist kein Leben, das ist eine Zwischenstation zwischen Leben und Tot. Denn das sind sie, lebende Tote. Sie vegetieren vor sich hin, leben nur von einem Augenblick zum Anderen. Von einem erlösenden Kick zum Nächsten, wenn es denn überhaupt noch einen Kick gibt. Wir sind geschockt. Chinatown in Vancouver ist eine Stadt der lebenden Toten und lässt uns entsetzt zurück. Wir halten erneut kurz an, verständigen uns, dass wir uns das große Tor ein andermal ansehen werden und verlassen dieses Viertel. Die Stadtverwaltung hat hier kapituliert und es scheint so, als sind sich diese armen Seelen selbst überlassen. Ganz bewusst verzichte ich hier auf Fotos.

Die Lions Gate Bridge vom Stanley Park nach West Vancouver

Es geht ähnlich zurück wie wir gekommen sind, durch den Stanley Park und über die Lions Gate Bridge. Von der Brücke werfe ich einen kurzen Blick zurück auf die Skyline und erkenne den Tower mit dem 360 ° Rundumblick. Dort haben wir damals gegessen. Das Restaurant befindet sich weit oben und dreht sich innerhalb einer Stunde einmal um seine eigene Achse, so dass man in jede Richtung schauen kann. Ich versuche an die Reise von damals zu denken, was wir da alles gemacht und erlebt hatten, aber die armen Menschen aus Chinatown tauchen immer wieder in meinem Kopf auf und ich fürchte, diese Bilder nicht mehr loszuwerden. Sie werden mich verfolgen, für eine sehr lange Zeit. 

Lions Gate Bridge

Zuhause versuchen wir mit dem Erlebten fertig zu werden und reden noch ein Weile darüber. Jutta recherchiert noch ein bisschen, ob und was für diese Menschen hier getan wird und ob wir dort etwas spenden können. Sie findet aber nicht so wirklich was und wirft mir vor, dass sie sich das schreckliche Elend nicht hätte „Live“ anschauen müssen und wollen. Viel später, in einigen Wochen werden wir mehr erfahren über die lebenden Toten von Vancouver. Bis dahin wende ich eine altbewährte Strategie an: Verdrängung. Verdrängung aus dem Bewusstsein. Bevor wir zu Bett gehen versuche ich mit viel Bier all das herunter zu spülen…

Lions Gate Bridge

Ein neuer Tag bricht an und die Geister der vergangenen Nacht sind für den Augenblick aus meinem Kopf verschwunden, schließlich hatte ich jahrzehntelanges Training. Meine Psychologin hatte mir während einer Verhaltenstherapie in einer 11-monatigen „Burn Out Phase“ oder wie es die Mediziner nennen „Akutes Belastungssyndrom“ erklärt, dass ich in meiner Kindheit zu meinem eigenen Schutz, die Strategie der Verdrängung erlernt habe. Weiter möchte ich an dieser Stelle nicht darauf eingehen, aber so viel sei gesagt: „Diese Art der Bewältigung hat mir wahrscheinlich den Arsch gerettet!“

Zunächst lassen wir es gemütlich angehen. Erledigen profane Aufgaben wie Wäsche machen, die Staufächer aufräumen, lesen, Sudoku und abhängen. Nach dem Mittagsschlaf gibt es noch Kaffee und Kuchen, dann eine heiße Dusche. Heute Abend wollen wir ausgehen in eine Metal Kneipe und ich habe mich für „The Moose“ entschieden. Jutta ist einverstanden und in der Regel ist es mein Privileg die Location auswählen zu dürfen. Manchmal sucht Jutta auch selber was raus, dann aber immer mit dem Hintergedanken, dass es mir dort gefällt und Metal, Punk, Hardcore und/oder Rock gespielt wird, gerne auch Live. Darüber bin ich sehr glücklich, denn mittlerweile wisst ihr, wie wichtig Musik für mich ist.

Zuhause

„Wie lange brauchst du noch?“, frage ich ungeduldig. Wir werden mit dem Bus fahren, der direkt oben auf unserer Seite der Lions Gate Bridge hält. Jutta ist noch im Bad und ich langweile mich immer ein wenig, wenn ich warten muss. „Bin gleich fertig, bleib ruhig. Nur noch ein paar Minuten!“, sagt sie.

Deine paar Minuten kenne ich, denke ich und hole mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank.  „Ziiiiiiiisch!“ Wie üblich ist es eine Dose und sofort nachdem ich sie geöffnet habe vernehme ich eine Stimme aus dem Bad: „Hast du dir etwa gerade ein Bier aufgemacht?“

„Ja, was hat mich bloß verraten?“

Dann ist es soweit, Jutta kommt top gestylt hinter dem Vorhang hervor und wir können los.

Bis zum Bus sind es keine 10 Minuten zu laufen. Wir müssen nur eine Treppe hoch auf die Brücke und in der Kurve am Anfang ist die Haltestelle. Das Timing ist perfekt, nach weniger als fünf Minuten sehen wir den Bus kommen. Kurzer Check ob die Nummer stimmt, OP Maske auf und die Karte aus dem Automaten an den Scanner beim Busfahrer halten.

Geht nicht. Es leuchtet rot auf. Irgendwas mache ich verkehrt. Der Fahrer hilft mir, anders rum funktioniert die Karte dann. Es leuchtet grün und ich kann eintreten und mir einen von vielen freien Plätzen aussuchen. Jutta hat beobachtet, wie es richtig geht und kommt zu mir an meinen Fensterplatz.

In der Abenddämmerung überqueren wir die Brücke und beobachten wie die Lichter in Downtown nach und nach angehen. Jutta behält auf ihrem Handy im Blick, wo wir aktuell sind und wie viele Haltestellen noch kommen, bis wir aussteigen müssen. Kurz vor der Granville Street verlassen wir den Bus. Genau an dieser Haltestelle ist ein ganzer Gebäudekomplex für einen Filmdreh abgesperrt. Überall stehen helle Scheinwerfer, Kräne mit Kameras und eine Menge Leute laufen geschäftig umher. Gedreht wird allerdings noch nicht, aber die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Ich bin durstig und so gehen wir zügig weiter. Wir sind im Nightlife District zwischen Downtown und Yale Town. Auf der Karte habe ich mir Zuhause schon angeschaut, wo wir lang gehen müssen und es ist nicht weit. Einmal rechts in die Granville Street und dann etwas weiter gen Norden und in die Nelson Street wieder rechts rein. Die ersten Nachtschwärmer sind unterwegs und immer mehr Lichter gehen an, während der Himmel sich weiter verdunkelt.

Vancouver

Je nachdem in welche Himmelsrichtung wir schauen, sehen wir durch schmale  Hochhäuserschluchten die weit entfernten, schneebedeckten Berge. Auf den Straßen ist ein geschäftiges Treiben von Leuten, die unterwegs sind zu einer Verabredung in einem Restaurant, in einer Bar oder Andere, die noch shoppen. Überall ist was los und eine Menge Leute bevölkern die Szenerie. In einer anderen Blickrichtung sind die Gebäude dann weniger hoch und keine Berge sind zu sehen, dafür aber endlose Straßen, die ins Nirgendwo führen, raus aus der Stadt, gesäumt von hell beleuchteten Diners. Darüber tiefblauer, sich verdunkelnder Himmel. Wir kommen vorbei an Kinos, Bars, Irish Pubs und vielen Restaurants, Shops, Museen und Nightlife Venues. Dann sehen wir endlich „The Moose Vancouver“ und gehen rein.

Night comes down…

Diese Bar ist auf Anhieb nach meinem Geschmack, die Musik ist laut, das Licht schummrig und der Tresen dominant. Wir setzen uns an einen kleinen Stehtisch mit hohen Hockern. Es ist die perfekte Mischung aus dirty, loud & cool. Keine zwei Minuten später ist eine Bedienung bei uns am Tisch. Ich bestelle mir ein Pabst Blue Ribbon und Jutta wählt ein frisch gezapftes local beer. Als die Bardame die Getränke serviert, prosten wir uns zu und freuen uns in der Stadt zu sein, aber auch auf die nächste Station: Vancouver Island. Mir schmeckt mein Bier ganz ausgezeichnet. Kein Wunder, denn Pabst Blue Ribbon ist immer noch eines meiner Lieblingsbiere. Jutta mag ihres nicht besonders. „Komm, dann tauschen wir!“, biete ich an und Jutta bekommt mein Pabst. Wir reden und beobachten die anderen Gäste. Die Bar ist ziemlich voll und am Tresen spielt sich eine kuriose Szene ab. Vom Plattenteller läuft Slipknot : „Psychosocial“.

The Moose Bar Vancouver

Ein Typ sitzt mit seiner Freundin an der Bar, aber unglücklicherweise haben die Hocker zwei unterschiedliche Höhen. Der Hocker der Freundin ist gut 30 cm höher als seiner und er muss die ganze Zeit zu ihr hoch schauen. Er geht durch den Pub und fragt auch an den Stehtischen nach freien Hockern. Leider hat er kein Glück. So kehrt er unvollendeter Dinge zurück und nimmt es mit Humor. Spaß haben die Beiden auch (oder vielleicht gerade wegen) der unterschiedlichen Aussicht.

The Moose

Wir planen grob den Trip nach Vancouver Island und reden darüber, was uns wichtig ist. Jutta will unbedingt Whale Watching machen und diesmal werden wir das auch durchziehen. Die Gelegenheit dazu hatten wir schon oft, sei es in Australien, in den USA oder auf früheren Kanadareisen, egal ob an der Westküste oder an der Ostküste. Nie haben wir uns dafür entschieden so eine Tour zu buchen. Ich war da immer so ein bisschen die Bremse, weil ich nie bereit war dafür so viel Geld auszugeben. Aber in Tofino soll es endlich soweit sein.

Mir ist wichtig nach Port Hardy ganz im Norden zu fahren und in die Hauptstadt von B. C., nach Victoria, im Süden von Vancouver Island. Wo wir Wale beobachten ist für Jutta unbedeutend, aber ich möchte gerne nach Tofino fahren, auf die Westseite der Insel, an den offenen Pazifik, gegenüber von Japan. Diese geographischen Details sind Jutta völlig egal, solange es Wale zu sehen gibt, aber mir sind sie sehr wichtig. Jutta bucht uns eine Fährpassage von der Horseshoe Bay nach Nanaimo. Das heißt, wir haben noch etwas Zeit für Vancouver, bevor wir in ein paar Tagen zur Fähre müssen.

„Ich würde gerne noch etwas durch die Stadt cruisen und die architektonisch interessante Bibliothek besuchen und dann müssen wir eigentlich auch noch einen Ölwechsel machen.“, sage ich. So schmieden wir Pläne für die nächste Zeit, bestellen uns Bier nach, wenn die Gläser leerer werden und genießen die laute Musik und die nette Bedienung, die flott Nachschub liefert. Aufgrund meiner Begeisterung für diese Bar plädiere ich dafür, nach unserem Abstecher auf die Insel unbedingt noch mindestens eine weitere Nacht in Vancouver zu verbringen, damit wir hier noch einmal einkehren können. Jutta ist einverstanden und es ist beschlossen. Aus den Boxen hören wir „Ramshackle Glory – Die the nightmare“. Schon etwas bierselig wird mir klar, wie sehr ich diese Stadt liebe und das Moose.

Da fällt mir eine Kneipe in Polen ein, ich glaube es war in Krakow. Es ist erst knapp ein Jahr her und Corona hält die Welt bereits in Atem. Wir wollten auf ein Punkkonzert gehen in einer kleinen Kellerbar und als wir die Treppe runtergegangen sind, stand dort ein Schild, dass man möglichst 2 Meter Abstand halten soll zur nächsten Person. Als wir unten angekommen sind und um die Ecke geschaut haben, standen dort ungefähr 50 Leute auf 20 Quadratmetern vor der Bühne. Da sind wir lieber wieder umgedreht und haben uns eine andere Bar gesucht. Auf dem Weg in die andere Kneipe haben wir beim Zurückschauen gesehen, wie die Polizei das Konzert mit mehreren Mannschaftswagen aufgelöst hat. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist das Passwort für das Wlan in der nächsten Kneipe, die auch echt gerockt hat, in der aber alles relativ coronakonform lief. Ich fragte die maskierte Barkeeperin bei meiner Bierbestellung, ob sie mir den Login in ihr Wifi verrät und sie sagte: „I LOVE THIS BAR!“ Ich verstand und antwortete: „Thanks Sweatheart, me too!“

Mein Bier ist fast leer und ein Gefühl des Unwohlseins überkommt mich, weil ich die Bedienung seit einer Weile nicht mehr gesehen habe. Jutta rutscht schon unruhig auf ihrem Hocker hin und her. „Wollen wir nicht bald los?“, fragt sie. „Die Busse fahren nicht die ganze Nacht durch!“

„Ja, gleich!“, sage ich. „Nur ein Bier noch bitte, Ok?“

„Na gut, eins noch!“

Restroom im Moose Vancouver

Glücklicherweise taucht die Bedienung wieder auf und ich bekomme ein letztes Bier im „The Moose“, dann verlassen wir die Bar und gehen zur Bushaltestelle. Jetzt müssen wir über eine Dreiviertelstunde warten, bis der Bus kommt. Jutta überwacht und kommentiert die aktuellen News von ihrem Handy. „Da kommt gleich ein Bus!“. Und dann: „Ach nee, der fährt woanders hin.“

Ich übe mich in Geduld und schweife ab mit meinen Gedanken. Um uns herum haben einige Obdachlose ihr Lager aufgeschlagen. Ich denke darüber nach, was eigentlich der Unterschied ist zwischen New York und Vancouver, denn beide Städte zähle ich zu meinen Favoriten. Vancouver ist wohl die schönere Stadt, die ruhigere und unaufgeregtere Metropole. Sie ist die spektakulärere Stadt, wenn es um die Umgebung geht, um die Berge, die Natur und die Wildnis. Vancouver hat einiges zu bieten, was das Nachtleben angeht, ist weltoffen und multikulturell, wie nur wenige andere Städte auf dem Globus. New York ist lauter, dreckiger, abgefuckter, größer und in jeder Hinsicht aufregender. NYC ist auch weniger weltoffen und nicht von so einer begnadeten Natur umgeben. Vancouver hat die East Hastings Street und damit einen Stadtteil, bevölkert von lebenden Toten. New York hat vermutlich nicht weniger Junkies, nur fällt es nicht so auf, weil sich die Untoten unter die Lebenden mischen und sich auf einer viel größeren Fläche verteilen, in Brooklyn, Manhattan, Queens, Hoboken, Jersey und der Bronx. Was ist aber nun besser, stelle ich mir die Frage? Wenn ich mich hier und jetzt entscheiden müsste, wo ich leben will, dann würde ich wahrscheinlich sagen: „New York City!“

Warten auf den Nachtbus

„Da kommt der Bus!“, ruft Jutta. Wir checken die Nummer, setzen unsere Masken auf und steigen ein. Karte an den Scanner, grünes Licht, richtiger Signalton und durch die Nacht geht es durch den Stanley Park und über die Lions Gate Bridge nach Hause. Und einmal mehr wird mir klar: Zu Hause ist dort wo LEMMY steht.

Jutta ist müde und macht sich bettfertig. Ich bin viel zu aufgedreht und will noch schreiben. Das Thema gerade ist New York. „Ziiiiisch!“

Nachtschicht am Laptop

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich heute Nacht schreiben werde…….

Bei der Arbeit

Die Tage in Vancouver gehen zu schnell vorbei und der Tag des Abschieds überrumpelt mich irgendwie, obwohl ich genau wusste, was kommen wird. Manchmal hat es geregnet und wir sind einfach zuhause geblieben, obwohl diese galaktische Stadt vor unserer Tür liegt. Kann man das machen? Darf man zuhause bleiben, obwohl man in Vancouver ist? Darf man in seinem Camper sitzen bleiben, wenn es in einer der grandiosesten Städte der Welt regnet?

„Ja, man darf das machen!“ Aber nur, wenn man schon mal dort war. Geht raus in diese Stadt, erkundet sie, lebt sie und inhaliert sie. Vancouver ist einzigartig!“

Bibliothek

Unsere Fähre nach Vancouver Island legt erst am Nachmittag ab, der Termin mit dem Ölwechsel in der NS (North Shore Repair) Werkstatt ist gegen Mittag und vorher haben wir noch etwas Zeit ein letztes Mal durch die Stadt zu fahren und unter Anderem die Bibliothek zu besuchen. Leider läuft es mal wieder nicht nach Plan. Ich kann noch durch Downtown cruisen und auch der Termin in der Werkstatt für den Ölwechsel steht. Doch leider kommt es anders als zugesagt. Und das dieser Ölwechsel mehr als 10 000 Kilometer später an der Ostküste noch richtig Probleme verursachen wird, das ist eine andere Geschichte.

Downtown Vancouver

Im Internet haben wir schon erfahren, dass es wohl schwierig werden wird mit einem Ölfiltertausch in Amerika. Umso überraschter haben wir darauf reagiert, als es auf Juttas Frage vor Ort heißt: „Kein Problem, das können wir machen!“ Es dauert nur eine Stunde und wir können entspannt einen Kaffee trinken gehen. Sie rufen uns an, wenn alles fertig ist. Ich frage noch nach, ob es tatsächlich klappt, sogar mit dem Filter? „Ja ja, sicher!“

NS Auto Repair

Fröhlich spazieren wir an die nahegelegene Waterfront von West Vancouver, um zunächst mal die Aussicht auf Downtown zu genießen und danach tatsächlich einen Kaffee zu trinken und uns einen Lunch zu genehmigen. Nach dem Spaziergang, dem Lunch und dem Kaffee in einer wirklich netten Location werden wir langsam unruhig. Nach ca. 80 Minuten klingelt Juttas Telefon. Es wird leider doch nichts mit dem Filter. Wir können kommen und das Auto abholen. In der Werkstatt erfahren wir dann, den Filter, den wir brauchen, gibt es nur in Europa und Australien. Wir haben den europäischen Ford Ranger, der ist ganz anders als der Amerikanische. Wenn sie den Ölfilter wechseln sollen, dann müssen sie ihn erst bestellen und wir können uns auf zwei Wochen Wartezeit einstellen, oder länger. Außerdem rät uns der Mechaniker, nach spätestens 10000 Kilometern den nächsten Service machen zu lassen, da das amerikanische Motoröl nicht annähernd so gut ist, wie unseres in Europa. Wir sind trotzdem zufrieden mit der Leistung von North Shore Repair Service, da sie alles offen mit uns kommuniziert haben.

Vancouver Skyline

Jetzt machen wir uns auf den Weg zur Horseshoe Bay, (wo auch ein Teil der Serie „Bates Motel“ gedreht wurde) um von dort mit der Fähre nach Nanaimo zu fahren. Beim Bezahlen der Rechnung im Büro, erfahren wir noch, dass die Werkstatt ein Familienbetrieb ist und sie alle aus Bulgarien kommen. Die Dame am Schreibtisch fragt uns, wie wir unser Auto verschifft haben. „Mit Seabridge haben wir das gemacht, Roll on, roll off. Aber PKWs im Container sind günstiger. Und dann gibt es auch noch Firmen, wie Overlander Shipping, die ebenso Fahrzeuge aller Art, unter anderem von Hamburg in die ganze Welt verschiffen.“

Es dauert nur eine halbe Stunde bis zur Fähre und da wir reichlich Zeit bis zur Überfahrt haben, gucken wir uns Horseshoe Bay an, um Drehorte aus der Serie wiederzuerkennen. Das gelingt uns nur bedingt, aber die Serie Bates Motel zu schauen kann ich uneingeschränkt empfehlen, da die Darsteller total klasse sind. Die Story ist morbide, skurril und die Kulisse großartig.

Horseshoe Bay

Auf der Fähre stürme ich relativ schnell nach oben, um gute Plätze vorne mit einer schönen Aussicht zu sichern. Jutta will sich vorher im Auto noch die Nase pudern. Es gelingt mir in der ersten Reihe zwei Plätze zu ergattern. Doch das junge Pärchen links von mir hustet ordentlich. Mir ist ziemlich unwohl dabei neben ihnen zu sitzen, obwohl zwischen uns ein Platz frei bleibt. Jutta kommt dazu und setzt sich an meine Seite. Ich blende das Risiko aus, hoffe Corona verschont uns und bleibe optimistisch. Dann kommen wir in Nanaimo an und verlassen die Fähre. Ich vermute, die beiden jungen Leute, die bei uns gesessen haben, sind mit dem Zelt unterwegs. Sie sahen aus wie typische Backpacker, wie wir es selber früher waren.

BC Ferries Horseshoe Bay – Nanaimo

Wir fahren noch etwas raus aus der Stadt, auf einen Costco Parkplatz, wo wir für lau stehen können, aber auch hier treiben sich einige Junkies rum. Mich wundert es, wenn auf Inseln Drogensüchtige anzutreffen sind. Schon auf Vashon Island konnte ich das nicht verstehen. Denn sogar dort haben wir einen Junkie gesehen, der ja auch irgendwie an seinen Stoff kommen muss. Und die Nachfrage auf einer Insel hält sich vermutlich in Grenzen und das Angebot demnach auch, da lukrative Geschäfte eher unwahrscheinlich sind. Er wird wohl jedes Mal nach Seattle müssen, um Nachschub zu kaufen. Nun kann man das kleine Vashon Island natürlich nicht annähernd mit Vancouver Island vergleichen und ich verwerfe den Gedanken.

Vancouver Island

Hier und heute bleibe ich wachsam und beobachte aus dem Fenster, was um unser Auto herum geschieht. Die kleine Truppe von vier Junkies zieht weiter und das Sofa hinter dem Supermarkt bleibt diese Nacht unbesetzt. Wohlmöglich liegt es daran, dass wir uns in diese entlegene Ecke des Parkplatzes gestellt haben und wie Störenfriede wirken. Die einzigen Camper von der Fähre sind wir allerdings nicht, zwei andere nutzen diesen IOverlander Tipp ebenfalls. Einer ist ein alter VW Bus, der Andere ein klappriger Pickup mit Absetzkabine hinten drauf. Sie stellen sich etwas weiter entfernt von uns hin.         

Stellplatz beim Costco

Morgen wollen wir bis Campbell River kommen, immer dicht am Wasser entlang. Es sind keine 180 km zu fahren und der direkte schnelle Freeway würde ca. anderthalb Stunden dauern. Aber wir wollen den schöneren längeren Weg nehmen, obwohl es mindestens eine weitere Stunde im Auto bedeutet. Leider ist die Wetterprognose für morgen nicht besonders, viele Wolken und etwas Regen sind angesagt.

Ich mache noch einen Rundgang ums Auto, wundere mich etwas über die verschiedenen Stühle, die hier so in den Büschen rumstehen, außer dem Sofa wohlgemerkt. Dann entleere ich den Peetank in einem Abfluss in der Nähe des Wagens und wir gehen schlafen.

„Ich gehe mal eben in den Costco , gucken was sie dort so haben!“, sagt Jutta. Noch im Halbschlaf antworte ich: „Waaas, wo willst du hin? Gibt es schon Kaffee?“

„Nee, den kannst du ja heute mal machen!“

Auf mich alleine gestellt stehe ich auf, koche Kaffee und hoffe, dass Jutta nicht zu sehr in Shoppinglaune ist.

Dann bereite ich das Frühstück vor. Ist ja nicht so, dass ich dazu nicht in der Lage wäre.

Es dauert nicht lange, da ist Jutta schon zurück. „Ohne Kundenkarte kommt man nicht in den Laden. Scheint so etwas zu sein wie bei uns Metro.“, sagt sie. Ich verberge, wie erfreut ich darüber bin und sage: „Ach wie schade, naja, dann kommen wir etwas eher los!“ Jutta durchschaut mich, sagt aber nichts. Ihre Blicke sagen Alles.

Vancouver Island empfängt uns ungemütlich, stürmisch, bewölkt und mit viel Regen. Gelegentlich lassen die triefenden Wolken mal etwas Sonnenstrahlen durchblicken. Aber wir sind trotzdem bester Laune und erfreuen uns am Ausblick auf das Wasser während der Fahrt und an den schönen Häusern, die unsere Route säumen.

Strait of Georgia

Im Sommer wird Campbell River von Touristen, vor allem Anglern, überrannt. Aber jetzt, nach ca. zweieinhalb Stunden Fahrt sind wir ganz alleine am Pier. Es ist der 26. April und fühlt sich an, als würde der Winter sich gerade verabschieden und der Frühling erstreitet sich die Berechtigung in Erscheinung treten zu dürfen.

Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Dieses Erlebnis hatten wir bereits etliche Male. Normalerweise erlebt man den Frühling einmal pro Jahr, wir hatten das zweifelhafte Vergnügen in den letzten Wochen durch Amerika bereits dutzende Male. Vom tiefsten Winter in Kanada sind wir in den endlosen Sommer Floridas gefahren, in die subtropischen Everglades, nach Key West in die Karibik. Davor und danach ging es rauf und runter mit den Temperaturen. In Louisiana war es tagsüber heiß und abends kühl, in Texas begann dann der Frühling wieder mal von Neuem. Und in New Mexico gab es alles, von Schnee in Santa Fe und traumhaftem Frühsommer in den endlosen Weiten dieses unterschätzten Bundesstaates. In Utah, Arizona und Colorado glaubten wir dann tatsächlich irgendwann den Frühling hinter uns zu lassen, spätestens in den Wüsten Kaliforniens, aber das war wohl nichts. Der Frühling und sogar Schnee und Winterwetter werden uns noch lange begleiten und wir gewöhnen uns daran. Auch an den ständig wiederkehrenden Frühlingsanfang. Aber ich schweife ab, wir sind in Campbell River. Ich parke, wo Jutta mich hinnavigiert, auf den Parkplatz des örtlichen Museums. Dann wollen wir einen kleinen Spaziergang zum Pier machen.

Maritime Heritage Centre, Campbell River

Gerade ist es trocken und mit dickem Pullover und Schal gegen den Wind gewappnet, gehen wir über ausgebleichte, wettergegerbte Planken einen Steg für die Angler entlang. Der Kiosk aus blau gestrichenen Brettern, der im Sommer Eis am Stiel und Fish & Chips verkauft, hat geschlossen. Die Anglerpositionen sind unbesetzt. Wir laufen einmal den ganzen langen Steg entlang und schauen rüber auf die Inseln der Strait of Georgia. Zwischendurch sehen wir überdachte Waschstationen, an denen die Fischer ihren Fang säubern und vorbereiten können. Uns wird kalt und wir haben Lust noch was Leckeres essen zu gehen. Ob wir hier stehen bleiben werden, wissen wir jetzt auch noch nicht. Es gibt ein nettes Lokal in der Nähe, den Riptide Pub. Wir beschließen dort hinzufahren und dann zu entscheiden, wo wir die Nacht verbringen werden.

Campbell River Pier

Wir brauchen nur fünf Minuten mit dem Auto und stellen LEMMY auf einem schlammigen, nicht asphaltierten Parkplatz ab. Aber wie es aussieht ist es nicht erlaubt über Nacht stehen zu bleiben, glaubt man den Schildern. Einige ältere Motorhomes stehen zwar da, aber wir wissen nicht, ob die Menschen dazu hier leben und geduldet werden oder ob sie den Platz noch verlassen, bevor die Frist abläuft. Ich sage: „Wir fahren nach dem Essen zurück auf den anderen Platz, wo wir gerade herkommen. Dann trinke ich eben nur zwei Bier!“ Jutta findet das gut und somit ist es beschlossen. Das Riptide ist mehr ein Restaurant als ein Pub und das Publikum wirkt für meinen Geschmack etwas zu gediegen. Das Essen ist gut, ich habe Fish & Chips vor mir und Jutta isst Lachs und Reis mit Gemüse. Zum Trinken genehmige ich mir ein dunkles Alexander Keith Beer und Jutta den roten Hauswein. Nach dem zweiten Drink verlassen wir den Pub, fahren zurück auf den Parkplatz am Pier und gehen früh zu Bett. Morgen wollen wir tief in die Wälder von Vancouver Island eintauchen, in die Regenwälder, die Urwälder, die es immer noch sind, trotz immenser Abholzung.

Riptide Pub
Whale Watching and Grizzly Tours

Morgens gibt es nur ein kleines Frühstück, dann geht es los. Mit Vorräten haben wir uns in Vancouver eingedeckt. Der erste Stopp ist schon nach wenigen Minuten erreicht, der Elk Fall am Campbell River. Ich biege rechts von der Durchgangsstraße ab, auf den Parkplatz zum Wasserfall und sehe einen anderen Overlander dort stehen. Den kenne ich doch, denke ich. „Hallunke“, steht dort oben am Heck der Aufsetzkabine. Ich meine den Wagen schon mal in Utah im Arches N. P. gesehen zu haben, aber darauf wetten will ich nicht. Einige Sticker am Heck zeugen davon, wo er schon überall rumgekommen ist. Utah ist nicht dabei. Ich parke direkt neben dem Overlander, dann machen wir uns auf die Wanderung zum Wasserfall. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, sollten wir die Hallunken nicht treffen.

Hallunke Camper
Overlander

Das Wetter meint es gut mit uns. Die Sonne scheint und die Insel zeigt sich heute von ihrer lieblichen Seite. Uns kommen wenige Leute entgegen auf unserem Weg zum Elk Fall. Wir versuchen genau zu horchen, ob sie deutsch sprechen, aber das passiert nicht. Die Hallunke Camper werden wohl auf anderen Pfaden wandern. Jutta will sie später mal anschreiben. Sie haben einen Instagram Aufkleber am Auto.

Wir marschieren durch dichten grünen Wald, über schlammigen Boden und Brücken und die Sonne triumphiert über die Wolken. Bevor wir den Wasserfall erreichen, können wir das Rauschen hören und vor einer letzten Hängebrücke sehen wir ihn endlich. Treppen wurden gebaut, um uns den Zugang so angenehm wie möglich zu machen. Mir wäre es lieber, der Zugang wäre beschwerlicher und jeder der den Wasserfall sehen will, muss für sich seinen eigenen Weg finden oder den ausgetretenen Pfaden folgen. Wo bleibt hier das Abenteuer? Barrierefrei ist der Zugang zum Elk Fall schon wegen der vielen Treppen nicht, aber vermutlich will man wenigstens den Weg dorthin so angenehm wie möglich gestalten und gehbehinderte Menschen werden es begrüßen. Und natürlich geht es auch um Naturschutz. Würde Jeder seinen eigenen Weg suchen, dauert es nicht lange, bis alles plattgetrampelt ist. Ich denke, wie egoistisch meine Gedanken manchmal sind und nehme mir vor, mich zu bessern.

Elk Fall

Nach kurzer Verweildauer machen wir uns auf den Rückweg, denn wir wollen noch viel weiter in den Urwald eindringen. Die Hallunken finden wir nicht. Unsere Reise geht nach Gold River, um von dort einer Holzfällerpiste nach Woss zu folgen. Das ist eine Offroadstrecke auf der eigentlich nur Trucks aus der Holzindustrie fahren und Overlander mit Allradantrieb, die abseits an entlegenen Traumplätzen stehen wollen.

Jutta hat etwas Probleme mit der Navigation, denn die Straßen sind keine Straßen, es sind Dirtroads, die nicht in unserem Tomtom vorhanden sind und der Internetempfang ist sehr schlecht. Das Wegenetz in unserer offline App Maps.me ist ein Labyrinth. Wir haben nun unterschiedliche Möglichkeiten in verschiedene Richtungen weiter zu fahren und wählen intuitiv eine aus, die uns richtig erscheint.

Jetzt und hier wird uns klar, wir sind in der Wildnis unterwegs. Es ist holprig zu fahren, aber nicht wirklich anspruchsvoll. Gegenverkehr hatten wir schon auf der asphaltierten Straße kaum, nun wird es erst recht keinen mehr geben. Ich bin begeistert von der Strecke und freue mich mal runter vom Asphalt zu sein, obwohl die Schlaglöcher schon nerven. Jutta freut sich trotz der schlechten Piste über die Natur um uns herum. Besonders schnell kann ich nicht fahren und alle naselang führt eine Brücke über einen kleinen Fluss, mit einem nicht unerheblichen Höhenunterschied bei der Auf- und Abfahrt. Für mich bedeutet das: Aufmerksamkeit sehr hoch halten! Das tue ich eigentlich immer, aber manchmal ist es echt nötig noch ein Quentchen mehr zu geben, um Schäden am Fahrzeug zu vermeiden.

Piste von Gold River nach Woss

Unbeschadet kommen wir an, ohne einen Holzfällertruck zu sehen oder überhaupt Irgendjemanden. Wir stellen uns auf einen abgelegenen, verlassenen Stellplatz zwischen Gold River und Woss. Diese Recreation Area am Lower Klaklakama Lake ist fantastisch und wir haben den Platz für uns alleine. Theoretisch dürften wir hier für zwei Wochen stehen bleiben. Utopisch für mich. An der Feuerstelle wurde ein wenig Holz zurück gelassen. Das ist so eine nette Geste, die ich mir in Zukunft zu eigen machen werde. Ich fahre LEMMY auf die Keile, dann kümmere ich mich um das Lagerfeuer.

Klaklakama Lake

Am Feuer lassen wir den Abend ausklingen, mit einem wahnsinnigen Blick über den See. Alleine, umgeben von Bergen, Bäumen und vielleicht einem Bären in der Nähe oder einem Wolf? Es fühlt sich ein bisschen an wie im Paradies. Nur die Temperaturen könnten etwas höher sein.

Wir sehen natürlich auch die negativen Auswirkungen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Die abgeholzte Fläche sieht aus, wie der Geist vom alten Atari Klassiker Pac Man. Die wenigen intakten Wälder bilden ein einzigartiges, bedrohtes Ökosystem. Es handelt sich um alten Küstenregenwald mit riesigen Bäumen im Alter von bis zu 2000 Jahren. Trotz großer Proteste von Umweltschützern und Menschen der First Nation wird weiterhin Profit vor Naturschutz gestellt.

Sun goes down in Paradies

Da wir bereits zeitig mit dem Lagerfeuer angefangen haben, geht mir das gesammelte und das wenige bereitgelegte Holz aus. Im Dunkeln will ich keinen Nachschub mehr suchen, also begeben wir uns ins Auto und ich entschließe mich, das dritte Chapter zu beginnen. Jutta macht sichs gemütlich und ich fahre mein Laptop hoch und versorge mich mit einem Bier und einem White Russian. Der Mond scheint hell über dem See. Das Lagerfeuer glimmt nur noch etwas vor sich hin, bei meinem Kontrollblick aus dem Fenster.

Ich beginne ein neues Chapter: DOWN THE EAST COAST TO KEY WEST, 90 MILES CLOSE TO CUBA……Hannah Montana does the African Savannah und was meine Freundin Maddi damit zu tun hat…

Into the wild

Da ich bis in die Morgenstunden geschrieben habe, schlafe ich lange. Jutta sitzt schon lesend draußen am See, als ich mit meinem ersten Kaffee dazustoße. Wir verbringen einen weiteren Tag im Paradies und weil ich mit meiner Schreibarbeit der letzten Nacht ganz zufrieden bin, muss ich heute nichts tun, außer die Natur genießen. Na gut, etwas Feuerholz sammeln muss ich auch, das ist halt mein Job.

Beim Nachmittagskaffee folgt eine, mir mittlerweile liebgewonnene Routine: das Besprechen der nächsten Tage: Whale Watching in Tofino, vorher nach Port Hardy, wo unter anderem die Fähre für die Inside Passage nach Alaska ablegt. Für Alaska, den größten US Bundesstaat haben wir leider keine Zeit. Das ist auf dieser Reise gecancelt und wird in den nächsten Jahren nachgeholt. Von Port Hardy aus wollen wir dann weiter nach Port Alice, Richtung Westcoast. Das soll eine traumhafte Strecke sein, die wir allerdings auch wieder zurück fahren müssen, weil sie dort im Westen endet. Das nächste Ziel ist dann Telegraph Cove, wo wir auf dem Weg nach Tofino halt machen werden. Danach noch ein Stop in Victoria. Eigentlich will ich auch eine Nacht in der Hafenstadt Nanaimo verbringen, aber Jutta ist nicht begeistert von dieser Idee.

Wir waren bereits 2004 dort. Es war eine kombinierte Reise. 3 Wochen hatten wir einen Camper von CanaDream für B. C. und Alberta. Danach ging es für eine Woche mit einem Leihwagen, einem dunkelblauen GMC Envoy, nach Washington in die USA , nach Seattle und Twin Peaks.

Während der damaligen Reise, bei der Jutta auch nur einen Bruchteil der Strecke gefahren ist, ausgerechnet auf dem Rückweg von Twin Peaks nach Vancouver hat es geknallt. Ich war etwas verkatert von der Abschiedsnacht in North Bend und wollte am nächsten Morgen mit dem Restalkohol im Blut nicht fahren. Jutta war bereit, den GMC Envoy über die Grenze zu bringen, obwohl sie große Autos nicht gerne fährt.

In Arlington (Washington/USA) ist es dann passiert. Sie steuert den Wagen auf eine große Ampelkreuzung zu. Es herrscht wenig Verkehr und alles ist gut einzusehen. Vor der Kreuzung über der Straße ist, wie üblich in Amerika, eine große Warntafel mit orangefarbenen Leuchten, die zu blinken anfangen, wenn die Ampel in Kürze auf Rot wechselt. „Prepare to stop!“, steht da drauf. Jutta passiert dieses Schild und die Lichter fangen kurz davor an zu blinken. Ich sitze mit Kopfschmerzen neben ihr auf dem Beifahrersitz. Weit hinter uns fährt ein Dodge Van. Wir lassen die blinkende Warntafel im Rückspiegel verschwinden und kommen der Ampel immer näher. Das Signal wechselt von grün auf gelb. Jutta bremst kurz an und beschleunigt dann. Ich gucke irritiert und denke: „OK, dann gib mal Gas“. Gesagt habe ich nichts. Was jetzt geschieht spielt sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Jutta tippt auf die Bremse, löst diese wieder um dann doch vor der Ampel hart in die Eisen zugehen. Der Dodge Ram Van kommt schnell näher und scheint das Bremsmanöver nicht richtig mitzubekommen, obwohl er eigentlich die rote Ampel gesehen haben müsste. Dann knallt es, er ist uns in den Kofferraum gefahren und hat uns über die Ampel mitten auf die Fahrbahn für den Querverkehr gedrückt.

Ich gucke rüber zu Jutta, ob sie unversehrt ist. „Ist alles OK bei dir?“, frage ich. Etwas benommen antwortet sie: „Ja, ja, mir geht´s gut!“

„Du musst eben über die Straße fahren, wir stehen mitten auf der Kreuzung!“ Auf der anderen Seite fährt sie rechts ran und ich stürze raus aus dem Envoy und laufe über die Kreuzung zum Fahrer des Dodges. Ich reiße die Fahrertür auf und frage: „Are you ok?“

Er nickt langsam, ohne mich anzusehen. Dann sagt er nach einer Weile: „It was my fault!“ Jetzt kommt auch Jutta dazu und ich registriere die Latschen an ihren Füßen. Eine Sirene ist aus der Ferne zu hören. „Geh noch mal schnell rüber zum Auto und zieh dir feste Schuhe an!“, höre ich mich sagen. „Ihm geht es gut.“

Klaklakama Lake

Zwei Minuten später erreicht ein Krankenwagen die Unfallstelle und ein Streifenwagen folgt sofort darauf. Wir sind alle unverletzt und ein Policeman nimmt das Protokoll auf. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie alles so schnell gehen konnte und wer die Polizei und die Rettungskräfte gerufen hat. Wir bedanken uns bei den Einsatzkräften, bekommen einen „Report“ von der Polizei ausgehändigt, den wir dem Autoverleiher vorlegen sollen und verabschieden uns vom Vanfahrer. Er entschuldigt sich bei uns, weil er gepennt hat, obwohl ich tatsächlich Jutta für mitschuldig halte, da sie sich nicht entscheiden konnte entweder zu stoppen oder Gas zu geben. Ohne Frage aber ist es klar, wer auffährt hat Schuld, auch in den USA.

Wir gehen zurück zum Auto, um die Schäden beim Leihwagen zu begutachten und stellen mit Schrecken fest, dass er hinten am eingedrückten Kofferraum eine Menge Flüssigkeit verliert. Es ist aber nur die Styroporkühlbox aus dem Hardware Store, aus der das Eiswasser ausläuft. Zum Glück sind die meisten Bierflaschen und Softdrinks unbeschädigt. Wir können weiterfahren und unverzüglich nach dem problemlosen Grenzübertritt tauschen wir am Airport von Vancouver den Wagen. Am Avisschalter geht es dann auch erstaunlich schnell. Ob wir einen Polizeireport vom Unfall haben, will die Avis Dame wissen. Wir händigen den Zettel aus und dann sagt sie noch, dass sie sowieso alle Fahrzeuge abstoßen, die älter sind als 6 Monate. Nach weniger als dreißig Minuten sind wir mit einem neuen GMC Envoy wieder auf der Straße.

Campfire at Klaklakama Lake

Wir wollen mit dem neuen Auto rüber nach Nanaimo, nach Vanvouver Island, aber vorher müssen wir eine Styroporkühlbox, Bier, Softdrinks und Eis zum Kühlen kaufen. Ich will in Downtown Vancouver gerade in eine Tiefgarage fahren, da fällt mir die Höhenbegrenzung von 1,80 m ein. Zehn Zentimeter bevor es innerhalb eines Tages zum zweiten Mal zu einem Crash gekommen wäre, fahre ich rückwärts die Rampe wieder hoch und suche einen anderen Parkplatz.     

Ich schweife schon wieder ab, eigentlich will ich nur kurz von unserem ersten Besuch in Nanaimo berichten. 2004 ist es eine kleine abgefuckte Hafenstadt mit düsteren Spelunken und miesen Motels. Wir finden eine einigermaßen akzeptable Unterkunft und eine coole Hafenkneipe. Nachdem der rote Envoy vor unserem Motel geparkt ist, gehen wir in eine dieser Bars. Ich fühle mich auf Anhieb pudelwohl und bin glücklich hier zu sein, aber Jutta sitzt der ganze Stress des zurückliegenden Tages im Nacken.

Auf den Nachbartischen sehe ich die großen Pitcher voller goldgelber Glückseligkeit stehen und versuche Jutta zu überreden, auch einen davon zu bestellen. Sie meint nur: „Wenn es denn sein muss!“, und „Schaffen wir den denn auch?“ „Na klar, locker schaffen wir den!“, sage ich. Die Bestellung muss ich allerdings aufgeben, da Jutta eigentlich nur noch ins Bett will. „Ach komm schon!“, sage ich. „Ich bin die meiste Zeit gefahren, kannst du nicht bestellen gehen?“, frage ich. „Nööö, ich muss nichts mehr trinken, nur wegen dir sind wir hier!“, erwidert sie. Dem habe ich nichts entgegenzusetzen.

Als es mir gelungen ist der Barkeeperin mitzuteilen, dass ich einen großen Pitcher Bier möchte, will sie wissen, welches Bier es denn sein soll. „Kokaini!“, sage ich. „What?“, fragt sie nach und ich sage lauter „Kokaini!“ Sie schaut mich fragend an. Ich sage erneut und noch etwas deutlicher: „KOKAINI!“ Die Bar ist voll, die Leute reden und die Musik ist laut. Sie schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Mir kommt der rettende Einfall, ich zeige mit dem Finger auf den Zapfhahn am Tresen. „Oh Kokanee!“, sagt sie und spricht es völlig anders aus, als ich es getan haben.

Nun, der Abend wurde noch relativ lang und ich musste den Pitcher fast alleine austrinken. Möglicherweise lassen wir eine Übernachtung in dieser Hafenstadt aus, weil wir ja schon dort waren und Juttas Erinnerungen daran nicht die Allerbesten sind.

Der zweite Abend am Klaklakama Lake endet wie der Erste. Das Lagerfeuer knistert, die Sonne geht und der Mond erscheint. Hohe schneebedeckte Berge hinter einem tiefen Bergsee beeindrucken bei Sonne wie bei Mondschein gleichermaßen.

Vom Lake nach Woss sind es noch 18 km Piste, die ich Kilometer für Kilometer genieße. Bis Port Hardy benötigen wir knapp anderthalb Stunden. Mahr als 100 Kilometer fahren wir auf langweiligem Asphalt.

Port Hardy fühlt sich irgendwie an, als wären wir am Ende der Welt. Das mag zum Teil am trüben Wetter liegen, auch meinetwegen an der Jahreszeit. Es ist noch immer keine Saison. Die Sommertouristen sind noch lange nicht auf dem Weg und wenn das Schiff nach Alaska nicht ablegt, was will man dann hier?

Am Arsch der Welt

Ich weiß die Antwort: Fotos machen. Hier gewesen sein, am nördlichsten Ende von Vancouver Island. Eine Historic Site weist mit einer aus einem Baumstamm geschnitzten Karotte und einem Schild darauf hin. Wir sind am Ende aller Straßen auf Vancouver Island, ganz im Norden. Übernachten müssen wir hier nicht, es sieht nicht so aus, als gäbe es hier einen netten Pub. Dann können wir uns auch gleich auf den Weg nach Port Alice machen.

End of the Road

Selbstverständlich schauen wir uns noch die Totempfähle an, verschaffen uns einen Eindruck vom Ort und den Hafen, wo die Inside Passage beginnt. Aber dafür brauchen wir nicht allzu lange und schon sind wir wieder auf dem Rückweg, zunächst nach Port Alice, um eine wahrlich traumhafte Strecke zu fahren. Es geht rauf und runter, eine Kurve folgt der Nächsten. Selten kommt uns einer entgegen und noch seltener werden wir überholt. Jutta schreibt immer mal wieder mit den Hallunken Campern, die meist in der Nähe sind, aber doch nicht so in Reichweite, dass es zum Treffen kommt. Weit ist es nicht bis nach Port Alice und würden wir diese Strecke im Zeitraffer aufnehmen, dann wäre es eine rasante Achterbahnfahrt. Übernachten wollen wir auch hier nicht. So entscheiden wir uns kurzfristig für einen abgelegenen Naturcampingplatz am Lake Alice.

Alice Lake

Jutta navigiert mich wieder abseits gepflasterter Straßen durch den Urwald an eine abgelegene Location. Jetzt geht es auf Dirt Roads genauso auf und ab wie zuvor, aber mit viel mehr Fahrspaß für mich, denn ich kann zügig fahren. Es sind kaum Schlaglöcher auf der Strecke. Wir kommen an am Alice Lake und sind begeistert. Bis auf einen Platz ist alles frei und wir haben die Qual der Wahl.

Alice Lake

Die Entscheidung für einen Stellplatz am äußeren Ende ist schnell getroffen, obwohl noch nicht mit anderen Campern zu rechnen ist, die uns auf die Pelle rücken könnten. Ich checke die Plätze in der Nähe und sammle rumliegendes Holz, da die Rezeption unbesetzt ist und ich nichts kaufen kann. Jutta fragt inzwischen den anderen Camper mit seinem Pickup und den beiden Jungs, ob sie sich registriert haben. Er verneint und meint, jetzt würde noch niemand kommen, um die Selfregistration zu checken. Erst ab Anfang Mai werden sie den Platz offiziell eröffnen und die Rezeption besetzen. Heute ist der 29.04 2022.

Dieser Stellplatz ist noch perfekter als am Klaklakama Lake und wir sind uns einig, hier wiederum mindestens zwei Nächte zu verbringen. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir faulenzen, Jutta liest, ich schreibe und immer mit diesem grandiosen Blick über den Alice Lake. Erstaunlicherweise haben wir, seit wir auf Vancouver Island sind, an den schönsten Plätzen immer Glück mit dem Wetter.

Guter Platz zum Arbeiten…

Wieder verlassen wir einen Ort, an dem wir uns so sauwohl fühlen, eine Oase im wilden kanadischen Regenwald. Dieser Platz wird sich in wenigen Tagen füllen und es werden Camper kommen, die hier ein oder zwei Wochen verbringen. Mich zieht es weiter. Unsere Zeit ist begrenzt. Wir haben noch den langen Trans Canada Highway vor uns, bis an die Ostküste. Alaska mussten wir schon streichen von meiner Wunschliste, weil es einfach nicht möglich ist, alle Pläne in den zwölf Monaten zu realisieren, bei den enormen Entfernungen. Noch rechne ich mir eine Chance aus, Newfoundland und den Endpunkt vom Trans Canada Highway zu erreichen, aber ob es klappt bleibt ungewiss.

Homeoffice

Es bleiben noch unzählige Ziele offen, die zum Teil aufgeschoben werden und realistisch sind. Andere werde ich nicht mehr erreichen, das ist mir klar. Es soll auch nicht undankbar klingen, mir ist durchaus bewusst, wie glücklich wir uns schätzen dürfen diesen Trip machen zu können.

Wochenlang in der Einsamkeit könnte ich eh nicht verweilen, wie schön es auch sein mag. Sogar auf einer Trauminsel würde mich der Inselkoller überkommen und ich habe das Bedürfnis weiter zu ziehen. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich beobachte, wie lange manche Globetrotter an einem Ort hängen bleiben. Andererseits finde ich es auch bewundernswert, wenn man nicht so getrieben ist, wie ich es bin.

Am Lagerfeuer

Mit einem weinendem Auge verlassenen wir den Alice Lake, aber wir freuen uns auf Telegraph Cove. Was uns den Weg dorthin zu einem unvergesslichen Erlebnis macht, ist die erste Bärensichtung dieser Reise auf amerikanischem Boden. Ein großer ausgewachsener Schwarzbär ist unterwegs entlang der Straße und sucht nach Futter. Dies ist nicht die letzte Bärensichtung, weitere Schwarzbären werden folgen und auch der ein und andere Grizzly.

Erste Bärensichtung

Unglaublich glücklich fahren wir weiter, so eine Bärenbegegnung macht was mit Einem. Sogar dann noch, wenn man es schon erlebt hat. Bis nach Telegraph Cove ist es nicht mehr weit.

Telegraph Cove scheint noch im Winterschlaf zu sein, aber eine Handvoll Touristen sind schon unterwegs, um es daraus zu erwecken. Ab Mai starten die Boote zu den Whale Watching Touren, das Hotelrestaurant wird vorbereitet, aber ansonsten ist der Ort ausgestorben. Wir haben dieses Pfahldorf beinahe für uns und genießen das einzigartige Gefühl fast alleine zu sein an einem Touristenhotspot. Wir wandeln über die wettergegerbten Stege und sehen uns alles an, vom geschlossenen „Old Saltery Pub“ bis zum gerade eröffneten „Prince of  Whales Center“. Die größeren Whalewatchingboote werden klargemacht für die anstehende Saison, ein paar kleine Zodiaks für 8 – 12 Leute sind schon unterwegs. Nachdem wir alles gesehen haben, wollen wir weiter nach Tofino, Weil das aber ungefähr fünfeinhalb Stunden Autofahrt ohne Pause bedeutet, wird Jutta unterwegs nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau halten.

Telegraph Cove

Nach einigen Stunden Fahrt genehmigen wir uns eine kurze Pause. Am Straßenrand steht ein Schild vom „Cypress Tree Inn“. Das kommt gerade zur rechten Zeit um einen Kaffee zu trinken. Die Betreiber scheinen neu im Geschäft zu sein und wirken relativ unorganisiert. Der junge Mann, der uns bedient sagt ständig: „Absolutly!“ Fragen wir nach etwas Milch heißt es: „Sure, absolutly!“ In einer Ecke des Ladens haben sie einen kleinen Shop mit Mützen, Holzfällerhemden und ähnlichem Stuff eingerichtet. Allerdings sieht der Verkaufstresen noch nicht ganz fertig aus, trotzdem fragen wir, ob wir dort etwas stöbern dürfen. Er sagt: „Absolutly!“

Was ich so besonders liebe in Amerikas Road Houses: Es wird ständig Kaffee nachgeschenkt. Meistens geht jemand mit dem frisch gebrühten schwarzen Elixier durch den Laden, noch bevor man seinen Becher geleert hat. Wir lassen uns sehr gerne nachfüllen.  Als wir nach der Rechnung fragen sagt der Kellner, „Absolutly!“. Zufrieden gehen wir und verabschieden uns mit den Worten: „See you!“

Er antwortet: „Absolutly!“ (Was sonst!)

Coffeebreak at Cypress Tree Inn

Trotz dieser Kaffeepause schaffen wir es heute nicht bis Tofino, obwohl ich bereit wäre durchzufahren. Aber Jutta meint, dass die Etappe für mich und meinen Rücken zu lang werden könnte. Also bestimmt sie unterwegs einen Übernachtungsplatz. Mir ist es gleich, da wir nicht in Eile sind und noch keine Tour gebucht haben. So stehen wir erneut mitten im Regenwald, diesmal irgendwo zwischen Nanaimo und Tofino. Zum Glück bekomme ich Feuerholz vom Ranger und es ist noch Bier und Wein im Kühlschrank. Wir schauen in der Nacht noch einige Folgen von „Black Mirror“ an, zunächst am lodernden Lagerfeuer, denn ich muss nicht sparen mit dem Holz. Länger als zwei Stunden muss es nicht brennen, weil wir es uns dann im Auto gemütlich machen.

Movie Night

In dieser Nacht checkt Jutta noch Whale Watching Angebote für morgen und deren Bewertungen. Jamies Whaling Station scheint gut zu sein und hat freie Plätze auf dem größeren Boot um 14 Uhr. Mit dem Zodiac will Jutta wegen ihrer Seekrankheit lieber nicht fahren.

Die finale Folge in dieser Nacht ist „San Junipero“, eine meiner „absolutly“ Lieblingsfolgen aus den fünf Staffeln. Ich schaue alleine. Jutta schläft schon.

Rechtzeitig checken wir aus und haben eigentlich genug Reserven, um unser Boot in Tofino zu erreichen. Eigentlich.

Pünktlich um elf Uhr verlassen wir den Campingplatz. Die Strecke ist ähnlich attraktiv wie die von Port Hardy nach Port Alice. Vor uns befindet sich ein großer LKW und wegen der vielen Kurven und dem andauernden Auf und Ab ist es kaum möglich zu überholen. Ich fahre eine ganze Weile genervt dem Truck hinterher, denn er ist mir zu langsam. Etwas scheint allerdings merkwürdig zu sein. Unter dem Anhänger schleift ein dickes Kabel auf dem Boden. Das sieht nicht gut aus.

Also versuche ich ihn zu überholen, obwohl es riskant ist. Ich meine eine Strecke auszumachen, wo es gelingen könnte und gebe Vollgas. Mist, da kommt eine Bergkuppe und ich kann nicht genug einsehen und verlassen will ich mich auch nicht darauf, dass mir niemand entgegen kommt. Beim nächsten Versuch ist es dann eine Kurve, aber nach einigen abgebrochenen Überholmanövern gelingt es endlich und ich kann vorbeifahren. Ein paar Kilometer weiter kommt dann eine dieser regelmäßig angelegten Nothaltebuchten, die in den Bergen auf schmalen Straßen üblich ist. Ich fahre rechts raus und bleibe vorne stehen, damit der Truck hinter mir noch genug Platz zum Halten hat. Dann steige ich aus und stelle mich auf die Straße, um ihn rauszuwinken. Er sieht mich, blinkt und fährt rechts ran. Direkt hinter LEMMY kommt er zum Stehen. Ich gehe zu ihm ans Fenster, wo er schon fragend zu mir runter schaut. „There’s something wrong under your truck!“, sage ich. Er steigt aus und ich zeige ihm das Kabel unter dem Anhänger, welches auf dem Boden schleift. „Thanks Buddy!“, sagt er und ich verabschiede mich.

Es bleiben uns noch zwei Stunden bis zum Ablegen des Bootes. Die Strecke ist abwechslungsreich und immer wieder tauchen fantastische Bergpanoramen auf. Überall liegt Schnee auf den Gipfeln. Dann kommt eine verdammte Ampel, wo keine sein sollte. Wir müssen halten, weil ein Stück vom Berg gesprengt wird. Morgen soll es regnen und stürmisch werden, deshalb muss es unbedingt heute klappen mit der Whalewatching Tour.   

Wir stehen an der Ampel und haben keine Ahnung wie lange wir warten müssen, bis es nach der Sprengung weiter geht. Die Strecke muss ja auch noch geräumt und vom Schutt befreit werden von den bereitstehenden Baggern und Tiefladern.

Im Rückspiegel erkenne ich den am Stauende ankommenden LKW von vorhin. Der Fahrer steigt aus seinem Truck und ich sage zu Jutta: „Da kommt er, ich sehe ihn im Rückspiegel.“ „Wer?“, fragt Jutta. „Na der Trucker von eben!“ Er kommt zu mir ans Fenster und als er da ist, habe ich die Scheibe bereits runter gefahren. Er bedankt sich, dass ich ihn ausgebremst habe und sagt, es habe ihn wahrscheinlich vor großen Problemen bewahrt. Die Bremsleitung oder ein Kabel von der Bremskraftverstärkung schleifte über den Asphalt. So verstehe ich ihn jedenfalls. Er konnte das Kabel wieder richtig unterm Anhänger befestigen, bevor es durchgescheuert war. Hier in den Bergen ist es schon wichtig, dass die Bremsen einwandfrei funktionieren. Auf langen Talfahrten gibt es zwar immer „Runaway Lanes“, dort können die Trucks im Notfall rechts raus fahren und auf einer ansteigenden Schotterpiste ausrollen, aber wer will das schon? Wir plaudern noch etwas über unsere Pläne in Tofino und seine Tour über die Insel, dann ertönt ein Horn und es knallt heftig. Der Fels wurde gesprengt und eine große Staubwolke steigt in den Himmel, obwohl Arbeiter mit Schläuchen den Sprengbereich gewässert haben. Der Trucker wünscht uns noch eine gute Fahrt und eine großartige Weiterreise, bedankt sich erneut und verabschiedet sich dann. Wir wünschen ihm ebenfalls eine sichere Weiterfahrt und hoffen, dass es nun schnell vorangeht. Die Uhr tickt und jetzt darf nichts Unvorhergesehenes mehr passieren, dann können wir das Boot noch knapp erreichen.

Die Ampel bleibt immer noch rot und Fahrzeuge aus der entgegengesetzten Richtung kommen auf uns zu. Nach weiteren endlosen 10 Minuten springt die Ampel auf Grün, ich bin mir sicher, nochmal  stoppe ich nicht, egal was geschieht. Die Schlange setzt sich in Bewegung und ich halte mich dicht an der Stoßstange vom Vordermann. Dann kommt die Ampel immer näher. Ich rechne damit, dass sie umspringt, aber nichts dergleichen passiert. Es bleibt grün und das Navi zeigt an, dass wir 13:34 Uhr an der Anlegestelle des Bootes ankommen werden. Wir müssen uns dann nur noch schnell warm anziehen und unsere Taschen packen mit etwas Proviant und Wasser für die dreistündige Bootstour.

Tofino

Ab jetzt läuft alles wie am Schnürchen. Die Sonne scheint und wir kommen Tofino immer näher. Eine Menge Radfahrer sind links und rechts der Straße unterwegs, je näher wir kommen, desto mehr werden es. 13:40 Uhr erreichen wir Jamies Whaling Station und ich parke direkt neben dem Office. Dann stürmen wir rein. Zwei Pärchen sind noch vor uns. Ich habe ein gutes Gefühl. Sie haben bereits online ihre Tickets erworben und sind schnell fertig. Wir sind die Nächsten. „Are we just in time for the boatlaunch today at two o`clock?“, fragen wir ganz außer Atem.

„Yes sure!“, sagt die junge Lady und ich reiche ihr meine Kreditkarte. Sie zeigt uns durchs Fenster den Weg zum Boot und sagt, dass wir kurz vor zwei Uhr dort unten am Steg warten sollen. Es gibt noch eine Sicherheitsunterweisung und Rettungswesten bevor wir auf das Boot begleitet werden.

Jetzt bleiben uns noch 10 Minuten, um uns im Camper umzuziehen und einiges an Wasser und Proviant einzupacken. Wir schaffen es in sieben. Drei Minuten vor Zwei stehen wir am Treffpunkt und bekommen unsere Rettungswesten. Insgesamt sind wir mit nur 16 Gästen auf dem Boot, einem Kapitän und drei weiteren Crewmitgliedern. Perfekt.

In der Hochsaison drängen sich auf einem Boot dieser Größe deutlich mehr Personen.

Boat from Jamies Whaling Station

Jetzt geht es hinaus auf den offenen Pazifik, vorbei an Wickaninnish Island, vorbei an einsamen Stränden, an Weißkopfseeadlern hoch in den Bäumen, an winzigen Inseln mit wenigen Häusern. Es ist das Land der First Nation People, noch nie zuvor hat es sich so echt angefühlt wie hier und jetzt in diesem Augenblick. Das Boot wird schneller und wir gehen nach vorne an den Bug, der Wind peitscht uns ins Gesicht, aber wir sind bestens vorbereitet mit dicken Pullovern, Schal, Jacke, Kapuze und Mütze.

An Bord sind die Gäste international. Ich frage Jutta, wie es ihr geht und zum Glück ist alles gut, jedenfalls im Augenblick noch. Sie wird ja immer schnell seekrank. Der Kapitän erzählt über Lautsprecher Wissenswertes über Land und Leute aus der Region, über die Natur und die Tierwelt an Land und im Meer. Zwischendurch präsentiert er auch mal einen mittelprächtigen Witz. Geschmackssache, denke ich mir. Aber alles in Allem macht der Kapitän seine Sache gut und unterhaltsam.

Er hat von einem Boot einer anderen Gesellschaft einen Funkspruch erhalten, in welchen Koordinaten Wale gesichtet wurden. Obwohl es kurz zuvor noch gar nicht sicher war, ob wir wegen des Windes richtig hinausfahren können, scheint nun alles safe. Jutta findet den Wellengang immer noch sehr heftig und ist hin und hergerissen. Einerseits will sie unbedingt Wale sehen und die gibt es eher weiter draußen vor der Küste. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die hohen Wellen ihrem Magen nicht guttun werden.

Die Informationen über Walsichtungen teilen sich die Unternehmen, damit alle gleichermaßen davon profitieren können. Der Kapitän reißt das Ruder rum und gibt Gas. Der Seegang wird wilder und Jutta zieht sich zurück. In der Sicherheitsunterweisung haben sie gesagt, wenn einem unwohl wird ist es draußen am Heck am Besten auszuhalten. Man sollte auf keinem Fall unter Deck gehen und auf die Toilette schon gar nicht. Dort wird es nur immer schlimmer und man verliert gänzlich die Orientierung. Ich kann nicht sagen, wie hoch die Wellen sind, aber einige Meter dürften es schon sein und mir macht es einen Heidenspaß vorne an der Reling zu stehen und von einer Welle zur Nächsten zu springen. Mein Vertrauen in den Kapitän, das Boot und die Crew ist grenzenlos.

Raus auf den offenen Pazifik zum Whale Watching

Wir werden langsamer und kommen sogar zum Stillstand. Irgendjemand hat was entdeckt. Ich hole mein Handy zum Fotografieren aus der Tasche. Dann geht es plötzlich steil rauf mit dem Boot und viel schneller wieder runter. Es fühlt sich an wie in einer Achterbahn, als haben wir gerade in einer Sekunde einen Höhenunterschied von 10 Metern zurückgelegt. So ähnlich fühlt es sich im Flugzeug bei heftigen Turbulenzen an. Ich verliere fast mein Handy und den Halt. Die linke Hand umklammert die Reling, die rechte Hand behält die Kontrolle über das Mobilphone. Und schon wieder geht es rauf und sofort wieder runter. „Uuuuuhhhhhhh!“, schreien alle die vorne geblieben sind. Die beiden Niederländer neben mir und auch das japanische Pärchen haben ihren Spaß. Mein Handy verschwindet wieder in der Hosentasche.

Der Kapitän wendet das Boot und dabei geht es immer wieder extrem schnell rauf und runter. Dann ruft jemand und zeigt mit seiner Hand nach Nordosten: „Da ist er!“ Ein großer Grauwal taucht auf und ich sehe ihn ganz deutlich. Um den Wal zu schützen, halten wir den vorgeschriebenen Mindestabstand von 100 Metern ein. Wir sehen nur den Rücken, wenn er kurz auftaucht, gelegentlich auch den Blas, den er ausstößt. Dennoch ist es ein beeindruckendes Naturschauspiel. Fotografieren kann ich mir schenken, ohne vernünftige Kamera bekomme ich den Wal nicht abgelichtet.

Ich versuche ohne zu stürzen ans Heck zu gelangen, um nach Jutta zu sehen. Der Kapitän folgt dem Wal mit gebührendem Abstand. Jetzt tauchen sogar mehrere Wale auf, wohlmöglich ist es eine Mutter mit zwei oder drei kleinen Babys. Ich kann nicht alles verstehen, was der Kapitän erzählt, denn der Wind pfeift laut in meine Ohren. Jutta steht an der Reling am Heck und grinst mich an, als sie mich kommen sieht. „Hast du das gesehen?“, fragt sie allen Ernstes. „Ja klar, ist das nicht fantastisch?“

Wir erleben ein einmaliges Schauspiel, unsere erste Whalewatching Tour ist ein voller Erfolg und überglücklich gönnen wir uns unter Deck eine kleine Pause, um uns aufzuwärmen. Trotz Sonne hat der Wind uns ganz schön ausgekühlt. Nach einem kleinen Snack und etwas Wasser gehen wir wieder raus, um uns den Elementen auszuliefern. Die Crew dreht weiter ihre Runden, spricht mit den Gästen und schaut, ob es allen gut geht. Jamies Whaling Station rockt! Sehr empfehlenswert.

Beaver im Landeanflug

Nach drei Stunden auf See geht es zurück in den Hafen von Tofino und obwohl wir die Wale nur aus der Ferne gesehen haben, war es ein beeindruckendes Spektakel. Uns wird nicht zum ersten mal bewusst, wie wichtig es ist die Natur im Gleichgewicht zu halten. Die Erde ist so wunderschön und jedes Leben, ob klein oder groß, spielt eine bedeutende Rolle im Kreislauf unseres Planeten.

Für die nächste Übernachtung geht es zum Surf Junction Campground. Der Spot wurde uns von den Hallunken empfohlen, ist nicht so teuer und nicht weit entfernt. Eine halbe Stunde später checken wir ein und nach dem Papierkram suchen wir einen geeigneten Stellplatz für LEMMY.

Nach einer Runde um das gesamte Camp haben wir beide den selben Favoriten. Um perfekt zu stehen muss ich rückwärts eine schmale Naturrampe rauffahren, was allerdings kein Problem ist.

Surf Junction Campground

Hier sind wir zwar nicht direkt an einem einsamen See, wie bei den anderen beiden Traumplätzen zuvor, aber trotzdem ist der kleine Stellplatz klasse. Durch den dichten Wald sehen wir kaum Nachbarn, obwohl wir alle relativ eng beieinander sind. Wir genießen einige Zeit am Lagerfeuer, um den Tag Revue passieren zu lassen. Nicht nur den Tag, sondern die letzten Tage auf Vancouver Island. Ich möchte morgen noch nach Ucluelet fahren und eigentlich auch eine Offroadpiste in den Pacific Rim National Park. Dahinter steht allerdings noch ein großes Fragezeichen, denn auch Victoria ist gesetzt. Dort beginnt der lange Trans Canada Highway, den wir zu großen Teilen von der Westküste bis zur Ostküste fahren wollen. Wieder mal wird diskutiert, abgewogen und verhandelt, wie es weiter gehen soll. Größtenteils sind wir uns einig, aber ob wir in den Pacific Rim National Park fahren entscheiden wir morgen, abhängig vom Zustand der Strecke und dem anzunehmenden Zeitbedarf.

Ein aufregender und großartiger Tag endet an einem schönen Lagerfeuer kurz vor Ucluelet im kanadischen Regenwald auf Vancouver Island.

Ein windiger und regnerischer Tag beginnt mit einem erfrischenden Frühstück in der Kabine. Froh darüber, dass wir gestern bei bestem Wetter diese Bootstour machen konnten, verlassen wir heute (nach einem kurzen Stopp in Ucluelet) die Westküste der Insel und fahren nach Port Alberni. Dort werden wir nach knapp anderthalb Stunden Fahrt entscheiden müssen wie es weiter geht. Der Tank ist noch voll genug um die 200 Kilometer der anstehenden Dirt Road hin und zurück zu bewältigen. Also gehen wir es erstmal an, so haben wir es gestern verabredet. Ich brauche keine halbe Stunde, um zu erkennen, dass Jutta überhaupt keine Lust auf diese Exkursion hat. Wir bräuchten mindestens zwei Stunden, um überhaupt an den Anfang des Nationalparks zu kommen. Das Wetter ist milde ausgedrückt „beschissen“ und was uns dort erwartet wissen wir auch nicht. Die überaus löchrige Piste ist nervig. Ich drehe um und wir fahren nach Victoria. Jutta freut sich und auch ich habe meinen Frieden mit dieser Entscheidung gemacht, also ohne den Pacific Rim N. P.

Bald nimmt der Verkehr deutlich zu und es wird noch fast drei Stunden dauern bis Victoria. Wir befinden uns schon auf dem Trans–Canada-Highway BC–1S. Vorbei geht es an Nanaimo und anderen dicht besiedelten Gebieten. Immer wieder entschädigen uns wahnsinnige Ausblicke von der Küstenstraße auf das Meer für die anstrengende Fahrt, wenn die Wolken es zulassen. Jutta weiß bereits, wo wir zentral stehen können, ganz ohne Parkuhren. Unterwegs überlegen wir mal wieder in ein schönes Restaurant zu gehen. Auf Thaiküche können wir beide heute Abend, denn im Sommer 2023 wollen wir nach vier Jahren Asienabstinenz endlich mal wieder nach Bangkok fliegen.

Der Verkehr nimmt immer mehr zu und die Abstände zwischen den Ortschaften verringern sich. Jutta sorgt sich um meine Konzentration und schlägt vor nicht bis Victoria zu fahren, sondern vorher einen Übernachtungsstop einzulegen, was ich aber vehement ablehne. Im Dunkeln kommen wir schließlich an und finden die Zielstraße, nachdem wir uns durch die Hauptstadt von B.C. gewuselt haben. Wir stehen entspannt an der ruhigen Humboldstreet vor der St. Ann`s Academy and Auditorium, einer historischen Stätte.

Ein kleiner Spaziergang ist im Grunde jetzt genau das Richtige. Bei Wind und leichtem Regen spazieren wir in die Stadt und erkennen einiges wieder von unserem letzten Besuch im Sommer 2004. Aber im Moment interessiert uns nur das Thairestaurant.

Wir genießen das vorzügliche thailändische Essen im Siam Thai Restaurant und köstliches Singha Beer, zahlen dafür einen stolzen Preis und gehen entspannt zurück zum Auto. Es nieselt nur noch und auch der Wind hat nachgelassen. Geographisch befinden wir uns jetzt in etwa auf halber Strecke zwischen Vancouver und Seattle, irgendwo zwischen dem 40. und 60. Breitengrad, nur eben weiter westlich. Morgen fahren wir auf den Hausberg von Victoria und beginnen mit dem Trans-Canada-Hwy bei Kilometer 0. Den Endpunkt dieser 7821 Kilometer langen Straße auf Neufundland werden wir vermutlich nicht erreichen, aber mal sehen, wer weiß…

Mile „0“ des Trans Canada Highway

Die Nacht verläuft ruhig, obwohl wir am Rande des Zentrums stehen. Wir haben gut geschlafen und starten entspannt in den Tag. Nach dem Frühstück fahre ich zu Kilometer 0.

Startpunkt des 7821 km langen Trans Canada Hwy.

Meine nächste Aufgabe ist es, LEMMY bis um 15 Uhr auf die Fähre zu bringen. Das ist machbar, aber es muss auch alles passen damit es klappt.

Ich mache es kurz. Es läuft nicht gerade rund und jede Ampel, die mir in den Weg kommt ist rot. Die Straßen sind noch mal voller als gestern Abend. Glauben wir dem Navi, könnte es gerade so gelingen. Entsprechend fahre ich zügig, aber die vielen Kreuzungen und der dichte Verkehr verschlechtern meine Aussichten und die Hoffnung schwindet mehr und mehr. Wenn ich etwas eher hochgekommen wäre, hätte ich gar keinen Stress. Aber naja, wir haben ja schließlich Urlaub.

Wir sehen beim Runterfahren vom Berg, wie die Fähre gerade den Hafen von Nanaimo verlässt. Zehn Minuten früher hätte ich wohl noch drauf fahren können. Egal, jetzt müssen wir zwei Stunden warten bis zur nächsten Fähre. Da können wir doch gut einen Mittagsschlaf einlegen. „Was soll ich anmachen?“, frage ich. „Sherlock Holmes!“, sagt Jutta.

Ausgeruht genießen wir die Überfahrt. Ich sorge mich etwas um den Tankinhalt, sage aber noch nichts. Auf der Fähre verlassen wir schnell das Auto und gehen nach oben, um uns gute Plätze zu sichern. Wie schon auf der Hinfahrt sitzen wir in der ersten Reihe, diesmal allerdings ohne hustende Nachbarn. Dafür haben wir ein Pärchen neben uns das ständig Selfies von sich macht oder andere Reisende auffordert, Fotos von ihnen zu schießen. Sie posieren meistens auf dem Vorderdeck und wir können es nicht ignorieren. Also wird fleißig beobachtet und auch ein bisschen gelästert. Die Posen sehen sich alle sehr ähnlich und manchmal sind sie nicht besonders vorteilhaft, bei dem starken Wind da draußen. Aber sie scheinen zufrieden zu sein und das ist ja wohl die Hauptsache.

Dann nähern wir uns Vancouver und ich bin fasziniert von der Skyline. Verschwommen in grauen Wolken sehe ich die Hochhäuser der Stadt. Es erinnert mich an Manhattan in New York City. „Wir kommen, oh du Schöne!“

Vancouver

Der Tank ist ziemlich leer. Die Reserveanzeige leuchtet bereits. Weil ich es so eilig hatte, habe ich nicht mehr getankt vor dem Hafen. Meine Priorität galt der Überfahrt um 15:00 Uhr. Das hat leider nicht geklappt. Ich beichte Jutta mein Dilemma, meine besten Absichten die Fähre pünktlich zu erreichen und sie ist nachsichtig mit mir, macht mir aber auch klar, dass das nicht cool war und sie sich wünscht in Zukunft bei solchen Entscheidungen mit einbezogen zu werden. Ich gelobe Besserung und erkenne mal wieder meine Defizite. Auf der Fähre schauen wir wo die nächste Tankstelle ist. Es gibt zwei vor der Stadt, die Erste ist in Horseshoe Bay. Jutta navigiert mich nach Verlassen der Fähre durch den Ort. Es geht steil rauf und runter und wie damals in der Türkei hoffe ich, dass der Diesel bei den steilen Auf- oder Abfahrten noch angesaugt wird. Die Tankstelle, die wir zuerst ansteuern hat keinen Diesel, nur Benzin. So eine Scheiße! Jetzt müssen wir ca. 16 Kilometer fahren bis zur nächsten Tanke in West Vancouver.

Der Sprit reicht, ich tanke voll und wir stellen uns erneut auf den Capilano RV Campingplatz.

Das wir zum zweiten Mal so eine Aufregung erleben müssen wegen Dieselmangel, nach dem Erlebnis in der Mojave Wüste, hätten wir nicht gedacht. Das war schon in Kalifornien in meiner Verantwortung und heute wieder. Und es wird noch einmal so sein, irgendwann, irgendwo auf dem endlosen Trans-Canada-Hwy…

Heute sind wir nur angekommen, aber morgen will ich noch einmal ausgehen. Danach können wir weiterfahren in den Norden. Aber erst dann!

Vancouver empfängt uns unfreundlich mit Regen und dichten Wolken, wie schon die Insel gegenüber dieser einzigartigen Stadt. Aber das ist uns egal, wir lieben diese Metropole bei jedem Wetter. In Gedanken sind wir bei den Obdachlosen, bei den Untoten und den Leuten, die zwischen den Häuserschluchten leben.

Mit dem Bus fahren wir über die Lions Gate Bridge, durch den Stanley Park nach Downtown. Den Rest des Weges laufen wir bis zur Moose Bar. Wir kennen uns aus.

Night in the city

Vancouver begeistert mich bei Nacht mehr noch als am Tag. Ich bin immer schon eine Nachteule gewesen, im Gegensatz zu Jutta, Sie ist der frühe Vogel, den es morgens nicht lange im Bett hält. Aber jetzt ist die Dunkelheit hereingebrochen über eine wahnsinnige Pazifik-Metropole und wir sind im Moose angekommen. Diese Nacht wird die Erste von zwei Nächten sein, in der ich eine großartige Bar verlasse, ohne Trinkgeld zu geben.

Das Moose ist ein Ort, den ich eigentlich niemals verlassen will, schon gar nicht, wenn ich ein paar Drinks intus habe, jedenfalls nicht vor dem Morgengrauen. Die Musik ist wieder super, das Publikum bunt gemischt und die Bardamen sind sexy, aufmerksam und flott mit dem Nachschub. Es ist genau so, wie bei unserem letzten Besuch. Jutta und ich unterhalten uns gut und obwohl es schade ist, diese grandiose Stadt morgen zu verlassen, freuen wir uns auf die Weiterreise und alles was da noch so kommt. 

Zwischendurch muss ich mal auf die Toilette und Mr. Lemmy Kilmister weist mir den Weg. Von einem Plakat gegenüber unseres Tisches zeigt er mit dem Finger in Richtung des Washrooms.

This way…

Es ist dasselbe Motiv wie auf unserem Camper. Hier steht allerdings unter dem Konterfei von Lemmy: „49% Motherfucker 51% Son of a Bitch“. Am Auto liest man stattdessen: „Don‘t forget to rock‚n‘roll“. 

Auf der schwarzen Klotür steht ein Name geschrieben, mit einem weißen Kreidestift, wie von einem Kind, das sich in Schönschrift übt. LULU steht da und unter dem Namen ist ein Herz gemalt. Dazu komme ich gleich, denn aus dem Augenwinkel sehe ich ein T-Shirt über der Bar hängen, welches mir gut gefällt.

LULU – I LOVE

Zwei Gedanken habe ich im Kopf, während ich an der Pinkelrinne stehe: „LULU war wohl eine der besten Produktionen der letzten Jahre bei uns im Schauspielhaus. Und: „Ich muss unbedingt so ein T-Shirt von der Moose Bar haben.“

Nachdem ich vom Klo komme, stelle ich mich an die Bar und suche Blickkontakt zur Bedienung. In dem Moment biegt die Lady um die Ecke, die für unseren Tisch zuständig ist. Sie stellt ihr Tablett mit den leeren Gläsern ab und kommt zu mir rüber. Ich frage, ob ich mal so ein Shirt anprobieren darf und zeige mit dem Finger auf das Objekt meiner Begierde. „Na klar!“, sagt sie und gibt mir eins in M und eins in L mit. Am Tisch bei Jutta probiere ich beide an und wir stellen fest, dass Medium etwas zu eng sitzt, aber in Large passt es perfekt. Ich lasse es direkt an und bringe das andere Shirt zurück.

Ich frage, ob sie es mit auf unsere Rechnung schreibt, aber sie will sofort kassieren. Es kostet 25 $ und ich drücke ihr einen 50 Dollarschein in die Hand. Sie nimmt das Geld und ich warte auf mein Change, aber sie kümmert sich um andere Gäste am Tresen und nimmt Bestellungen auf. Als sie in meine Richtung kommt, greife ich sie mir und frage, wann ich mein Wechselgeld bekomme. Ach das, das bringt sie zu mir an den Tisch, sagt sie. Na gut, soll mir recht sein.

Unsere Biere sind fast leer und wie üblich bleibt das nicht lange unbemerkt. Wie gesagt, das Personal ist aufmerksam und flott. Die Bedienung kommt und will wissen, ob wir noch was trinken möchten. Erfreut über den schnellen Service bestellen wir noch eine Runde. Mein Change hatte sie nicht dabei. Als sie mit den vollen Gläsern zurückkommt, ist sie genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen ist, ohne Wechselgeld. Na dann eben beim nächsten Mal. Ich schicke Sandra (Hauptdarstellerin aus LULU) eine kurze Grußnachricht aus Vancouver nach Hamburg, wo sie jetzt im Schauspielhaus arbeitet. Ein Foto von der Klotür sende ich mit.

My new T-Shirt

Nun widme ich meine Gedanken der LULU Produktion. Dieses Stück wurde vom Bremer Theater fertig aus Stuttgart eingekauft, inklusive Bühnenbild und Requisiten. Inszeniert hat es in Stuttgart Armin Petras, der auch bereits bei uns in Bremen einige Regiearbeiten abgeliefert hat. LULU ist angelegt als Schauspiel – Musiktheater. Ein ROCK VAUDEVILLE, eine Monstertragödie und Mörderballade. Die Tiger Lillies haben das Thema von Frank Wedekind musikalisch verarbeitet, ebenso Metallica und Lou Reed in einem gemeinsamen Konzept-Doppelalbum. In dem Stück gibt es sehr viele Verwandlungen und Umbauten an dem wir als Backstage Crew kräftig mitgewirkt haben. Wir hatten eine Woche Bühnenzeit, um alle technischen Hürden und Umbauten zu proben. Das hat die wundervolle Franziska Benack mit uns einstudiert. Sie war in dem Fall verantwortlich für die Wiederaufnahme der Inszenierung in Bremen und hat das ganz fantastisch gemeistert. Die ganze Woche war anstrengend, herausfordernd und spannend, hat aber gleichzeitig enorm viel Spaß gemacht. Einige Schauspieler kamen aus unserem Ensemble, andere als Gäste aus der Originalbesetzung, unter anderem auch die Hauptdarstellerin Sandra Gerling als LULU.

Miles Perkin begleitete den Abend als Allroundmusiker.

Wir hatten eine Menge offener Umbauten, was bedeutet, dass wir häufig vom Publikum zu sehen sind und dem trashigen Stück entsprechend gekleidet waren. Meine Kollegin und ich hatten einen schwarzen Frack an und einen Zylinder auf dem Kopf. Die Beteiligten von der Technik und den Ankleiderinnen erging es ebenso. Ich trug dazu stets eine schwarze Dreiviertelhose und rote Doc Martens. Der aufregendste Part für mich war es immer, wenn ich auf die Bühne musste, um LULU die Schuhe zu bringen und sie ihr (vor ihr kniend) anzuziehen. Das hätte ich eigentlich nicht machen müssen, denn das wäre der Job eines Ankleiders gewesen. Aber die Rolle war so angelegt, dass es ein Mann sein sollte, der LULU in ihre Schuhe hilft. Nun hatten wir aber ausschließlich Kolleginnen dabei und keinen Mann. Von der Technik haben sich alle männlichen Kollegen geweigert und die Bühnenbildassistentin hat mich so nett gefragt, dass ich nicht ablehnen konnte, es mal bei einer Probe zu versuchen.

Als es also soweit war und Lena (unsere Inspizientin) mich über Funk zum Auftritt rief: „Requisite für die Schuhe bitte!“, dann fingen mein Herzklopfen an. Ich holte die Schuhe vom Requisitenwagen und stellte mich hinter dem Vorhang auf Position. Vorne spielte Sandra als LULU ihre Rolle und mein Stichwort war, wenn sie auf der Bühne zu schreien anfängt: „Wo sind meine SCHUHE???“

Mit pochendem Herzen trat ich dann durch den Vorhang und lief um einen Gabeltisch herum, direkt auf das Publikum zu und drehte dann links bei, um mich vor LULU hinzuknien und ihr in die Schuhe zu helfen. Sandra fand das nach der Probe sehr gut und auch die Assistentin hat auf mich eingeredet, dass ich es doch bitte immer machen soll. Ich habe mich bereit erklärt und bei der Premiere in Bremen klopfte mein Herz dann bis zum Hals. Danach ist es jedes Mal ein wenig besser geworden, aber ganz ohne Aufregung ging es nie.

Manches Mal habe ich die Druckknöpfe der Schuhe vor Aufregung nicht zubekommen. LULU zog mir immer gerne am Zopf und machte ihre Spielchen, bis ich fertig war und wieder abgehen konnte. Durchgeatmet habe ich erst, wenn ich auf dem Rückweg die Lücke im Vorhang gefunden hatte und dahinter verschwinden konnte.

„Would you like one more beer?“, fragt die Bardame, als sie an unseren Tisch kommt. Ich bestelle noch ein frisch gezapftes Bier, Jutta ordert einen Moscow Mule. Von meinem Wechselgeld keine Spur. Ich erinnere sie daran. Sie nickt mir zu.

Einmal wollte ich natürlich auch die Vorstellung von vorne sehen und habe drei Karten in der ersten Reihe besorgt. Mit Jutta und unserer Freundin Sonja sind wir dann zusammen ins Theater gefahren und waren auch backstage, um meinen beiden Kolleginnen „Hallo“ zu sagen. Sandra habe ich auf der Seitenbühne gesehen und ihr gesagt, dass ich mit Jutta und Sonja in der Vorstellung sitzen werde. „Soso!“, hat sie gesagt. „Na dann viel Spaß!“

Als es dann soweit ist und sie zu schreien anfängt: „Meine SCHUHE……., wo sind meine SCHUHE….???, da sitze ich entspannt da und frage mich, wer von meinen Kolleginnen wohl auftreten wird, um ihr in die verdammten Schuhe zu helfen. Aber die Schuhe fliegen nur durch den Vorhang, niemand tritt auf. LULU sammelt sie ein und kommt damit zu mir. Sie reicht mir das Paar Schuhe und stellt ihren linken Fuß auf mein Bein. Mir war klar, was ich zu tun hatte.

Nightlive District Vancouver

Am Ende des Stückes performt Miles Perkin grandios den Song „Do you realize“ von den Flaming Lips und ich bin begeistert vom Stück, von der Inszenierung, dem Bühnenbild und der Leistung aller Darsteller auf der Bühne. Und in diesem Augenblick, im Moose Vancouver, bin ich überglücklich über meinen geilen Job, den ich seit nunmehr 30 Jahre machen darf. Ich bin glücklich über diese Reise und im Einklang mit der ganzen Welt.

Bei der letzten LULU Vorstellung habe ich mir mit schmalem weißen Tape „I LOVE LULU“ von meiner Kollegin auf mein T-Shirt kleben lassen und am Ende gab es dann noch eine große Party im Noon. Ich bin extra mit LEMMY gekommen und habe auf dem Theaterhof vor dem Schauspielhaus geparkt, damit ich nicht mehr fahren muss. Bis morgens um 4:00 Uhr haben wir gefeiert und getanzt. Die Musik hat Dennis über sein Handy gesteuert, er ist Veranstaltungstechniker und nebenbei singt er bei Mundane, einer Metalband. Entsprechend gut und laut war die Musik. Ich habe es sehr bedauert, dass LULU nach nur zwei Jahren abgespielt wurde.

Die Bardame macht eigentlich auch einen geilen Job. Sie ist aufmerksam, kommt vorbei noch bevor die Gläser leer sind und serviert zügig Nachschub, was besonders wichtig für mich ist, wegen meiner Cenosilicaphobie. Aber mit einer Sache bin ich unzufrieden. Sie hatte reichlich Gelegenheit mir meine 25 $ Change zu bringen, aber ich nehme an, sie ist auf ein gutes twentyfive Bucks Trinkgeld aus. Vermutlich vergisst schon mal ein Gast sein Wechselgeld nach einigen Drinks. Ich nehme an, auf genau so eine Gelegenheit hat sie spekuliert. Jutta und ich haben genug für heute und sind bereit zu gehen. Ich signalisiere ihr, dass ich zahlen möchte, das geht auch ohne Worte, egal ob in Tokyo, Rio oder Kairo. „Letzte Gelegenheit, Schätzchen.“, denke ich.

Sie kommt mit der Rechnung, ohne mein Wechselgeld. Ich spreche sie darauf an. „Oh sorry, just one second!“. Sie kramt in ihrer Tasche und holt blitzschnell 25 $ hervor. Ich zahle den exakten Betrag für die Drinks mit Kreditkarte. Nicht 15 % Tipp, nicht 18 % Tipp und 25 % schon mal gar nicht…

City lights

….das erste Mal in meinem Leben verlasse ich eine Bar ohne Trinkgeld zu geben und denke: „Sie wird wissen warum.“

Vancouver by night

….und was als Nächstes geschieht….

CHAPTER II – Durch die verschneiten Rocky Mountains über den legendären Icefields Parkway in die Wüste…

…und warum man besser nicht auf den gefrorenen Lake Louise geht, wenn Schilder vor dünnem Eis warnen…

Chapter 24 – Reise in eine Parallelwelt oder EIN TRIP NACH TWIN PEAKS

und wie schmeckt eigentlich der Kaffee im Double R Diner?

Bis nach Bodega Bay sind es nur knapp über 70 Meilen und die Fahrt dauert etwas länger als zwei Stunden. Wir fahren die Route No. 1 und große Teile der Strecke verlaufen entlang des Pazifiks. Der Campingplatz unserer Wahl ist leider voll ausgebucht und wir sind etwas enttäuscht von dem Ort, an dem „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock spielt. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt. Es ist bereits nach fünf Uhr, aber ich nutze die Gunst der Stunde und fahre auf den Platz, um unseren Frischwassertank aufzufüllen. Eine Schranke gibt es nicht. Ich bekomme gut 70 Liter in den Tank, so dass wir fürs Erste wieder versorgt sind. Dann steuern wir einen Stellplatz an, an dem wir frei stehen können. Dieser Platz sagt uns so gar nicht zu, er ist trostlos, niemand sonst ist vor Ort und wir sind traurig, dass San Francisco hinter uns liegt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es uns heute nirgendwo recht sein wird. Also versuchen wir unser Glück noch auf einem anderen Campingplatz, der nicht gerade günstig ist. Aber dafür hat er sehr gute Duschen und liegt nah an der Küste. Der Platz ist sogar teurer als erwartet, aber nicht schlecht. Und weil wir keinen Bock mehr haben weiter zu fahren, bleiben wir.

In San Francisco hatten wir noch so ein schönes sommerliches Gefühl, wenn auch frühsommerlich. Aber jetzt scheinen wir in den Frühling zu fahren je weiter es nordwärts geht. Und der Frühling wird immer wieder von Neuem beginnen, wieder und wieder. Auch der Winter und Schnee wird uns einholen, wenn auch nur kurz.

Bevor es allerdings zu schneien beginnt, steigt die Temperatur auch nochmal auf 30° Celsius, was besonders mich begeistern wird.

Mit meinem Cousin Earl schmieden wir bereits Pläne, wann wir ungefähr in Washington ankommen werden. Wir einigen uns auf ein Zeitfenster von einigen Tagen, bis wir es genauer sagen können. 24 bis 48 Stunden bevor wir vor seiner Tür stehen, sollen wir auf jeden Fall Bescheid sagen. Er möchte allerdings jetzt schon wissen, was wir uns denn zum Dinner wünschen: Lachs, Hühnchen oder Rind. Ich schreibe ihm zurück, dass sie sich bloß nicht solche Mühe machen sollen, aber Hühnchen wäre toll.

Unsere Tage in Kalifornien nähern sich langsam dem Ende, Oregon werden wir relativ schnell durchqueren, damit wir genug Zeit für Twin Peaks im State Washington haben. Denn dort werden wir in eine Parallelwelt eintauchen, in die Welt von David Lynch, von Agent Cooper und vom Double R Diner, von Kirschkuchen und schwarzem Kaffee. Wir werden uns auf einen Trip begeben für eine ganze Woche und leben mit dem Spirit von Laura Palmer, dem wohlmöglich berühmtesten Mordopfer der Seriengeschichte, und ihren Freunden.

Aber eins nach dem Anderen. Vorher kommt noch Seattle, Vashon Island und unser Besuch bei Cousin Earl. Wo geht es eigentlich als Nächstes hin? Ach ja, nach Leggett, denn noch sind wir in California. Und bis Leggett erwartet uns eine fantastische vierstündige Tour, immer entlang des Pazifiks, durch Orte wie Mendocino und Fort Bragg. Dabei genießen wir sensationelle Aussichten auf zerklüftete Felsen im wild tosenden Meer, essen in tollen Locations, versuchen vorbei schwimmende Wale zu sichten und erledigen schnöde Einkäufe.

On the road No. 1

Möge diese kleine Einleitung ein Vorgeschmack sein und einstimmen auf das abschließende Chapter des 2. Aktes.

Notiz am Rande: Jetzt, während dieses Chapter entsteht (und alle noch Folgenden), arbeite ich wieder Vollzeit in meinem Job als Requisiteur am Theater.

Gerade komme ich heim von der „Istanbul“ Vorstellung und habe mich direkt an den Schreibtisch in unserem Arbeitszimmer gesetzt. Jutta schläft bereits. Ich habe ausnahmsweise ein langes Wochenende vor mir, es ist Freitagnacht und am Montag ist der 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit. Selbstverständlich läuft an diesem Wochenende das Theater weiter, an jedem Abend ist Programm. Doch zum Glück gibt es Kollegen, die die nächsten Tage übernehmen.

Ich bin dabei irgendwie einen Dreh zu finden zwischen Arbeitszimmer und meinem geliebtem Job im Theater um Zeit zum Schreiben zu finden. Denn diese Reise ist es wert zu Ende erzählt zu werden. Was mir jetzt langsam klar wird, bis Weihnachten werde ich niemals fertig werden. Aber vielleicht bis zum nächsten Sommer, wenn eine neue Reise ansteht. Aber genug davon, jetzt muss ich erstmal nach Leggett.

Bodega Bay hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, jedenfalls keinen positiven. Ich verfahre mich sogar noch als wir den teuren Campingplatz verlassen, was uns ungefähr eine halbe Stunde Zeit kostet. Das spielt aber keine Rolle, da wir es nicht eilig haben. In Jenner machen wir einen Tankstop um Diesel aufzufüllen, wofür wir 6,49 $ pro Gallone zahlen.

Tankstop in Jenner, California

Die steigenden Preise erinnern uns an den Krieg in Europa und wir fühlen mit den Menschen in der Ukraine und mit den Menschen in Russland, die Putins verdammten Krieg genauso wenig wollen. Wir denken aber nicht nur beim Tanken an diese verteufelte Situation, sondern täglich, denn wir sind in ständiger Verbindung mit Ohla und Carsten. Verdammt, wie soll ich jetzt die Kurve kriegen, um wieder auf unsere Reise zu kommen? Mir wird gerade klar, dass meine Probleme Luxusprobleme sind und dass die Menschen in den vielen Krisenregionen der Welt die wahren Probleme haben. Und für sie gibt es keine einfachen Lösungen.

Ich bleibe dabei einfach hilflos zurück. Und das ist ein scheiß Gefühl. Aber sogar das ist noch Luxus.

In Anchor Bay sehe ich im Vorbeifahren ein tolles Graffiti, das ich unbedingt fotografieren will. Eine Wand mit bunten Vögeln und Blumen veranlassen mich zu bremsen und Jutta meint, wenn wir eh schon halten, dann können wir hier auch einkaufen. Ich fotografiere schnell und dann kaufen wir einen kleinen Vorrat für einige Tage ein.

I LOVE GRAFITTI

Zwischendurch halten wir an Viewpoints, wenn die Möglichkeit besteht Wale zu sehen. Das hat aber leider bis jetzt noch nicht geklappt. Möglicherweise liegt es auch daran, dass wir nicht wirklich lange warten und beobachten, sondern ich schnell die Geduld verliere und weiter fahren möchte.

Whalewatching Point

Nach Mendocino kommen wir durch Fort Bragg und realisieren, wie auch hier der Zahn der Zeit an den Gebäuden und den Menschen genagt hat. Vor vielen Jahren sind wir hier durchgekommen und haben in einem Motel gewohnt, damals allerdings sind wir von Nord nach Süd gefahren. Ich erkenne das Motel sofort wieder und es ist um einiges abgefuckter geworden, wie eigentlich der gesamte Ort. Ich bin nicht so der Schicki Micki Typ, deshalb gefallen mir Orte wie dieser. Aber die Leute, die hier leben mögen das sicher anders sehen.

Wir kommen vorbei am PEG HOUSE mit einem extrem teuren Shop. „NEVER DON`T STOP“ steht über dem Eingang geschrieben. Wir halten uns an die Empfehlung und schauen kurz rein. Es gibt einen Biergarten, manchmal Livemusic und kleine Speisen werden serviert. Fast gegenüber geht es zu unserem Camp für die nächsten Tage, wir haben Leggett erreicht.

The New Peg House

Inmitten großer Redwood Trees haben wir die Wahl zwischen vielen freien Plätzen und ich benötige zwei Runden durch den Wald, um den Besten zu finden. „Wie wäre es hier“?, frage ich Jutta. Schon bei der ersten Runde haben wir diese Campsite favorisiert. „Der ist perfekt!“, sagt sie. „Da haben wir viel Platz und eine großartige Feuerstelle.“ Erstaunlicherweise klettert das Thermometer hier für die nächsten Tage auf über 30 ° Celsius. Das ist relativ ungewöhnlich so früh im April, weit im Norden von Kalifornien.

The Old Peg House

Nachdem wir unser Camp fertig aufgebaut haben, bekommen wir Besuch vom Host des Campingplatzes. Er heißt uns sehr freundlich willkommen und will alles über uns wissen, da wir mit unserem eigenen Fahrzeug aus Deutschland gekommen sind. Er hat seinen Hund dabei. Dem wird bei unserem Gespräch schnell langweilig und er schlüpft aus seinem Halsband, um sich von der Leine zu befreien. Dann dreht er ziemlich auf, so dass der Host sich ständig dafür entschuldigen muss, wenn sein Köter mal wieder an mir vorbei saust und dabei gerne mal in mein Bein beißt. Der Hund macht dies nur spielerisch und es tut auch nicht weh, aber trotzdem nervt es etwas und ich sage nur aus Höflichkeit: „No Problem!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit hat er seinen Hund eingefangen, angeleint und wir setzen unsere Unterhaltung fort, als er uns das Feuerholz für den Abend vorbei bringt.

Der 2. Akt wird geboren

Dieser Platz ist so fantastisch, dass wir drei Nächte bleiben. Ich beginne mein erstes Canada Chapter, als wir von Frankfurt versuchen Halifax zu erreichen, was sich ja als etwas problematisch erwiesen hat. Wir genießen die hochsommerlichen Temperaturen, ich etwas mehr als Jutta. Aber auch ihr wird klar, je weiter es nach Norden geht, desto kühler wird es werden. Also genießen wir in vollen Zügen diese herrlichen Sommertage.

Perfekter Stellplatz für drei Nächte

Morgens spazieren wir runter an den Fluss und ich gehe sogar schwimmen, in eiskaltem Wasser. Es kostet erst eine große Überwindung und eine Million Nadelstiche piesacken mich am ganzen Körper. Doch irgendwann lässt der Schmerz nach und es fühlt sich fantastisch an. Ich klettere raus aus dem Wasser und wir genießen unser mitgebrachtes Bier in der Sonne. Wir sind fast alleine hier unten am Fluss. Auf der anderen Seite vom Felsen sind noch zwei Mädchen, die mit dem Rad und Zelt unterwegs sind. Ich frage Jutta, ob sie nicht mit rein will in das kühle Nass, aber sie verneint und ich weiß, ich werde sie nicht umstimmen. Nach dem zweiten Bier bin ich komplett trocken und schwitze bereits wieder, so gehe ich noch einmal ins Wasser. Jetzt geht es viel besser und ich kann viel schneller eintauchen und friere überhaupt nicht mehr. Erstaunlich, wie schnell sich der Körper anpassen kann.

Unten am Fluss, Leggett, California

Abends sitzen wir am Lagerfeuer, hören Musik und führen schöne Gespräche, machen Pläne für die nächsten Tage und als Jutta ins Bett geht, fange ich an zu schreiben.

Nach dem Frühstück mache ich Rückenübungen auf dem stabilen Holztisch am Stellplatz. Ich merke, dass es mal wieder Zeit wird etwas zu tun, damit die Muskeln nicht komplett dicht machen.

Außer uns sind nicht viele Reisende da, ganz anders als wir es bisher erlebt haben. Vielleicht ist das hier nicht so ein begehrter Hotspot oder es ist jetzt gerade keine Saison an diesem Ort. Wir wissen es nicht, genießen einfach die Tage. Die einzigen Begegnungen sind zwei Motorradfahrer, eine Fahrradfahrerin mit Zelt, die beiden Mädels unten am Fluss und der Camping Host mit seinem Hund. Ach ja, Jutta hat auch seine Frau kennengelernt und sich nett mit ihr unterhalten.

Eiskaltes Wasser, heiße Außentemperatur

Auf jeden Fall ist es nach drei Tagen an der Zeit weiter zu fahren. Es geht nach Arcata, um dort eine Lunchpause zu machen. Arcata ist eine typisch amerikanische Kleinstadt. Mit einem kleinen Park inmitten eines rechteckigen Zentrums, wie wir es aus „Zurück in die Zukunft“ kennen. Wenn wir es jetzt nur noch etwas retuschieren, wie es in Hollywood üblich ist, dann sehen wir auch keine Junkies mehr, die sich in einem Hauseingang zudröhnen und keine Säufer, die auf der Straße vor der Alibi Bar betteln und keine jungen Ladies, die ihre Dienste anbieten.

Arcata

Wenn wir es mit den Augen Hollywoods sehen, dann ist es eine Hochglanzfilmkulisse.

Arcata

Wir fahren weiter in die „Avenue of the Giants“, in den Red Wood Tree National Park, um die letzten Tage in Kalifornien schließlich im Jedediah Smith Redwood State Park zu verbringen.

Es ist kaum zu beschreiben, wie gigantisch diese uralten Redwood Trees sind. Zum Teil werden sie hundert Meter hoch und sind 1500 Jahre alt. Sie haben einen Durchmesser, dass ich eine Pause brauche, wenn ich einmal herum laufe. Na gut, das nun nicht, aber sie sind so beeindruckend und erhaben, sie lassen mich klein und unbedeutend erscheinen. Auch LEMMY verblasst im Schatten eines Redwood Trees in Bedeutungslosigkeit. Seine Lebenserwartung auf Rädern ist lediglich ein Windhauch in der Zeitspanne eines dieser Baumriesen.

Avenue Of The Giants

Den Baum, den man mit dem Auto durchfahren kann, lasse ich jetzt in der Beschreibung aus und auch den Baumstamm, in dem eine Familie gewohnt hat, weil wir das dieses Mal nur im Vorbeifahren sehen. Es lohnt sich aber beides, denn das Haus ist wie ein kleines Museum und der Baum ist selbst mit einem Dodge Durango durchfahrbar, obwohl davon abgeraten wird, dies mit großen SUVs zu versuchen.

LEMMY in den Red Woods

Im Jedediah Redwood State Park wollen wir eine letzte Nacht in Kalifornien verbringen, bevor es nach Oregon geht. Aber es werden zwei, weil es einfach mal wieder zu geil ist. Wir sind gut ausgestattet mit Lebensmitteln und haben Feuerholz. Der Stellplatz ist perfekt inmitten des Dschungels. Um uns herum sind einige Jugendgruppen, die sichtlich ihren Spaß haben.

Jedediah Redwood State Park

Obwohl es hier keinen See oder Fluss gibt, denke ich ans Crystal Lake Camp, an Jason Voorhees und an „Freitag der 13.“ Es bleibt alles friedlich und kein mordender Psychopath geht umher. Die Jugendlichen feiern und wir sitzen am Lagerfeuer. Wir hören nur gelegentlich etwas Geschrei von den Kids aus der Ferne, sehen können wir nichts, außer dem Teil, was der Lichtkegel des Lagerfeuers hergibt. Wir sind in einem Urwald, niemand ist neben uns, niemand gegenüber. Ich mache die Außenbeleuchtung vom Auto an, damit es nicht zu dunkel ist.

LEMMY

Das Redwood Feuerholz brennt viel länger als jedes andere Holz, das ich bisher verfeuert habe. Und ich bin Pyrotechniker, mit Brennstoffen kenne ich mich aus. In dieser Nacht führen wir wieder tolle Gespräche, irgendwie fördert das beruhigende Knistern des Feuers, der leise Wind in den Bäumen und das flackernde Licht den Redefluss bei uns. Ich sitze noch eine ganze Weile am Lagerfeuer, als Jutta schon zu Bett gegangen ist.

Wie weit ist es denn noch bis oben?

Der Tag an dem wir Kalifornien verlassen werden, musste irgendwann kommen. Jetzt ist er fast da, morgen überqueren wir die Grenze nach Oregon. Aber diese Nacht sind wir noch in Kalifornien. Ich denke mal wieder zurück an lange vergessene Tage. So geht es mir oft, wenn ich alleine am Feuer sitze, Musik mich berieselt und einige Biere mich in die richtige Stimmung bringen.

Ich war in der Grundschule und habe an einem Malwettbewerb teilgenommen. Dabei konnte man eine Reise nach Kalifornien gewinnen, das war der Hauptgewinn. Der zweite Preis war ein Fahrrad und der Dritte eine Auto-Rennbahn (nicht Carerra, sondern eine Billigversion davon). Ich wollte unbedingt den ersten Platz ergattern, obwohl mir damals als Junge schon klar war: selbst wenn ich den ersten Preis gewinnen sollte, dann würde ich trotzdem nie nach Kalifornien kommen, weil meine Ma das nicht hätte händeln können. Als Alleinerziehende war sie ziemlich überfordert und auch finanziell nicht in der Lage zum Beispiel mal nach Borkum mit uns zu fahren (mit meiner Schwester und mir). Unsere Nachbarn hätten uns sogar mitgenommen. Sie hatten bemerkt, dass Urlaub für uns finanziell nicht möglich war. Ich war bis heute nicht auf Borkum, meine Ma konnte dieses Angebot unserer Nachbarn nicht annehmen.

Ich wollte als Kind Wildhüter in Afrika werden und mein Lieblingstier war der Gepard. So malte ich einen Geparden, der oben auf einer Klippe sitzt und auf den westafrikanischen Atlantik schaut. Mein Bild reichte allerdings nur für den dritten Platz, was aus meiner heutigen Sichtweise ganz gut war, denn ein Fahrrad hatte ich schon.

Nach Wochen, ich hatte den Malwettbewerb schon ganz vergessen, kam ein Mitschüler auf mich zu und sagte: „Da steht eine Rennbahn bei Bagge im Schaufenster, mit deinem Namen drauf!“

Mit dieser Erinnerung verlasse ich meinen Lieblingsbundesstaat Kalifornien und wir überqueren die Landesgrenze nach Oregon.

Eins muss ich von Beginn an sagen, Oregon ist ein großartiger Bundesstaat, der bei unserer Reise leider viel zu kurz kommt. Dieser Fleck Amerikas verdient viel mehr Zeit als wir ihm zu kommen lassen. Wir haben mittlerweile einen Zeitplan, um relativ genau vorhersagen zu können, wann wir bei Earl sind, plus/minus 24 Stunden.

Brookings (diesen Geheimtipp) sehen wir nur im Vorbeifahren, das Wetter hat sich verändert. Der Hochsommer und 30° Celsius haben Tschüss gesagt und der Frühling ist zurückgekehrt. Wir sind auf dem Weg nach New Port um dort zu übernachten, was für mich eine fast fünfstündige Autofahrt bedeutet.

Da die letzte Nacht am Lagerfeuer noch einige Scheite Redwood Holz verschlungen hat und ich einige Biere, möchte ich nicht die ganze Strecke am Stück fahren, sondern gerne eine Lunch- und Kaffeepause einlegen. Außerdem merke ich, wie mein Rücken mich mal wieder quält. Ich fürchte, dass ich es mit den Übungen auf dem Tisch in Leggett etwas übertrieben habe und davor eine zu große Streching-Pause eingelegt hatte.

Jedes Mal wenn ich die Kupplung trete, schießt mir ein Stich in die Lendenwirbelsäule. Jutta bietet an zu fahren. Doch zunächst noch lehne ich ab. „Geht schon!“, sage ich. In Pistol River machen wir eine kurze Kaffeepause, dann fahren wir noch eine knappe Stunde und sehen in Port Orford eine tolle Location für die Lunchpause. Die Sonne zeigt sich und an einem Hang ist das Red Fish Restaurant, was sehr einladend aussieht. „Wollen wir da nicht etwas Essen gehen?“, frage ich Jutta, während ich schon auf der Bremse stehe. „Auf einen leckeren Fisch hätte ich schon Bock!“, sagt Jutta. Ich wende und parke mit einem grandiosen Blick über den Pazifik. Wir entscheiden uns trotz Sonne, lieber im Restaurant und nicht auf der Terrasse zu essen, da es dort ziemlich kräftig weht. Es mögen wohl so um die 16° sein, trotzdem sitzen draußen Familien mit Kindern in T-Shirts. Wir bestellen uns beide ein üppiges Fischmenü und nach dem Essen frage ich Jutta dann doch: „Kannst du mal für zwei Stunden fahren?“

Aussicht vom Red Fish Restaurant
Red Fish Restaurant

Ich mache auf dem Beifahrersitz die Beine lang und die Augen zu. Jutta fährt und ich versuche meine Rückenmuskulatur zu entspannen. Meine Tilidin Tabletten darf ich tagsüber nicht nehmen, wenn ich noch fahren muss und auch nicht, wenn ich den Abend davor noch ein paar Bierchen hatte. Dann bekomme ich Schimpfe von Jutta.

Die Tabletten habe ich sowieso nur, weil meine Cousine Dagi aus Berlin sie nicht vertragen hat. Ihr wurden 50 Tabletten verschrieben, auch wegen heftiger Rückenschmerzen. Aber weil sie die nicht verträgt, habe ich sie gefragt, ob sie mir die nicht schicken kann. So kam ich zu fünf Blistern mit 48 Tilidin Tabletten. Die kamen danach sofort in mein Reisegepäck. Da es sich um ein Retard Arzneimittel handelt und unterhalb der festgelegten Dosisgrenze liegt, brauche ich kein Betäubungsmittelrezept mitzuführen.

Erst jetzt bei der Recherche habe ich gelesen, das Tilidin in den USA verboten ist, da dort kein erwiesener Nutzen des Medikaments vorliegt.

Jutta tritt kräftig auf die Bremse. Ich rutsche auf meinem Sitz vor und reiße die Augen auf. Ich sehe einen Campingbus mit Fahrradträger hinten am Heck auf mich zurasen. Kurz bevor wir mit der Haube anstoßen stehen wir. Ich schaue entsetzt rüber zu Jutta. „Was is?“, fragt sie allen Ernstes.

Ich schüttle den Kopf und versuche mich wieder zu entspannen. Es fällt mir schwer die Augen geschlossen zu halten. Meistens gelingt das nur für Sekunden, dann muss ich wieder gucken, ob alles in Ordnung ist. Ein bisschen abschalten kann ich trotzdem und etwas Erholung habe ich auch, selbst wenn ich meistens mit auf die Straße schaue.

Dann kommen wir wieder durch einen Ort und eine Ampel springt auf Rot. Der Wagen vor uns hält, obwohl er noch hätte drüber fahren können, aber Jutta ist ihm viel zu dicht aufgefahren und unterschätzt den Bremsweg von LEMMY deutlich.

Nur sehr knapp vor einer Kollision kommen wir zum Stehen und Jutta tut so, als sei alles in bester Ordnung. Sie behauptet die volle Kontrolle zu haben. Dem ist aber nicht so, sie war viel zu dicht hinter dem PKW vor uns und hat den Bremsweg von 3,6 Tonnen total unterschätzt. Sie fährt noch eine halbe Stunde weiter, dann übernehme ich wieder das Steuer. In New Port haben wir ziemlich mieses Wetter, aber das ist egal, wir wollen hier nur übernachten. Bei schönem Wetter hätte der Ort einiges zu bieten. Wir begnügen uns mit einem freien Stellplatz mit Blick auf den Ozean, ohne auszugehen. Irgendwie hat das auch was, einfach aus dem Fenster schauen, wenn es regnet und stürmt. Wir sitzen im Trockenen und trinken Tee, schauen auf die wild tosende See und es ist kuschelig warm im Auto.

Strand von New Port, Oregon

Zum Frühstück bleibt mir die Tilidin Lösung gegen meine Rückenschmerzen weiter verwehrt. Jutta behält die Kontrolle über die Medikamentenbox. Stattdessen werde ich ermahnt, mehr Übungen zu machen. Ich weiß, dass Jutta damit recht hat, murre aber trotzdem.

New Port, Oregon

Heute wollen wir bis Astoria fahren und Jutta übernimmt LEMMY, nachdem wir aus New Port raus sind. Meine Rückenschmerzen sind immer noch ziemlich übel und das Schalten und Kuppeln schmerzt tierisch. Aber nach einer Stunde, die Jutta gefahren ist, will ich wieder hinter das Lenkrad.

Für die Lunchpause hat Jutta einen Platz gefunden, der mich echt vom Hocker haut. „Wir können an den Strand fahren und da Pause machen. Ich koche uns was und du kannst dich schon lang machen. Und nach dem Essen machen wir einen kurzen Mittagsschlaf!“

In Pacific City fahren wir auf den Strand, so wie zuvor am Pismo Beach in Kalifornien. Nur hier müssen wir nichts bezahlen. Wir können einfach so auf den Sand an den Pazifik fahren und uns hinstellen, wo wir wollen. Außer uns ist nur ein einziger Silverado Pickup hier, der Strand ist meilenlang.

Einsamer Silverado am Strand

Schwer begeistert fahre ich durch einige Straßen mit netten Häusern auf den Sandstrand. Gerade noch auf Asphalt und links und rechts kleine Einfamilienhäuser mit hübschen Gärten davor, dann endet der Teer unter den Rädern und der harte, nasse gelbe Sand wird von den AT Reifen aufgemischt.

Ich stelle mich so, dass ich aus dem Bett auf das Meer schauen kann. Wir spüren den Wind in der Kabine, hören die Wellen und schmecken die salzige Luft. Näher und intensiver wie wir den Pazifik gerade erleben, geht es nicht, außer wenn wir reinspringen.

Kurze Pause am Strand in Pacific City, Oregon

Jutta bereitet meine Spezialität zu: Grilled Cheese Sandwich. Nach dem Lunch gönnen wir uns ein kleines Schläfchen und hören „Die drei Fragezeichen und der grüne Geist“. Ich werde wach noch bevor die Folge zu Ende ist und habe eine gute Idee, wie ich finde. Aber Jutta sieht das anders und mag meine Idee überhaupt nicht.

„Hey!“, starte ich voll motiviert die Konversation, als ich merke, dass Jutta aufgewacht ist. „Ich habe eine voll gute Idee!“ In diesem Augenblick ist sie noch empfänglich für meine Begeisterung. Das wird sich leider in wenigen Sekunden ins Gegenteil umkehren. „Wie wäre es, wenn du mal hier am Strand ausprobierst, wie es sich anfühlt mit Allrad zu fahren, mal mit der Untersetzung und einmal ohne alles, also mit Zweiradantrieb?“ Wie gesagt, der Strand ist leer, kein Mensch ist hier, außer ein Typ in seinem Silverado Pickup.

„Nee, keine Lust!“, höre ich von Jutta. Ich kann nicht glauben, was ich da als Antwort bekomme. Ich versuche es ihr etwas schmackhafter zu machen. „Es ist fantastisch auf Sand zu Fahren. Niemand ist hier und wir haben Platz ohne Ende, der Strand gehört uns!“

LEMMY im größten Sandkasten der Welt

Ich versuche zu argumentieren: „Aber es ist doch wichtig, dass du das Auto kennenlernst, dass du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man mit Allrad fährt. Wie der Unterschied ist, wenn dann die Untersetzung eingeschaltet wird und wie sich beispielsweise der Kurvenradius ändert. Hier kannst du es im Sand sehen, wenn du eine Runde fährst ohne Allrad, dann mit Allrad und danach mit Untersetzung. Der Radius wird jedes Mal anders sein!“

Nö, keinen Bock! Das haben wir doch schon beim Offroadtraining in Langenaltheim gemacht!“ Ich halte dagegen: „Das stimmt nicht ganz, denn nur ich habe es in Langenaltheim gemacht. Du hast nur zugeschaut.“

Ich gebe mich noch nicht geschlagen und argumentiere weiter: „Aber was ist denn, wenn wir mal darauf angewiesen sind, dass du das Auto fährst, weil ich ein gebrochenes Bein habe oder krank bin und nicht fahren kann?“

„Dann fahre ich das Auto und dann mache ich das schon.“

Ich versuche noch zu erklären, dass es enorm wichtig ist in bestimmten Situationen richtig zu reagieren. Das es manchmal fatal enden kann, wenn man auf die Bremse tritt oder im falschen Moment kuppelt, weil dann die Drehzahl abfällt. Ich will jetzt keinen Exkurs abhalten übers Offroad fahren, das habe ich ja schon in vorherigen Chaptern getan. Aber ich muss für mich realisieren, dass „Offroadfahren“ für Jutta immer Stress bedeutet.

In gewissen Situationen ist es wichtig in Echtzeit exakt richtig zu reagieren, aber all das, was ich da gerade rede, kommt nirgends mehr an. Ich rede gegen eine Wand, die nicht mehr hört was ich sage. Ich predige noch von Fahrpraxis und Erfahrung, aber all das verpufft im Nirgendwo.

Ich weiß gar nicht mehr genau wo es war, da keimte ein Fünkchen Hoffnung in mir auf, als Jutta bereitwillig eine Offroadpiste gefahren ist. War es in Colorado, Utah, New Mexico oder Arizona? Ich weiß es nicht mehr. Da hatte ich jedenfalls das Gefühl, dass sie Spaß am Fahren hat, dass sie bereit ist auch Verantwortung zu übernehmen, wenn ich mal nicht fahren kann. Aber das war nur ein Strohfeuer. Es loderte kurz hell auf und ich war darüber sehr glücklich, aber genauso schnell ist es erloschen. Hier und jetzt komme ich zu der Erkenntnis, dass ich mich darüber nicht mehr Ärgern möchte und das Kapitel „Jutta & Offroad“ gestorben ist. Schon auf der Piste, die sie gefahren ist war es absehbar. Denn nach einiger Zeit und immer anspruchsvoller werdender Strecke, war sie sehr angestrengt und ich musste wieder fahren. In Zukunft werden wir beide damit leben müssen, dass sie natürlich fährt, wenn ich nicht fahren kann. Aber auch damit, dass sie wenig Chancen hat in heiklen und entscheidenden Momenten richtig zu reagieren, weil ihr einfach die Praxis fehlt. Aber ich bin ein Abenteurer, ein „Sensation Seeker“ und liebe das Risiko und kann eventuell von der Beifahrerseite manche Defizite ausgleichen, sollte es einen Ernstfall geben.

Ich fahre einen Kreis, ohne Allrad. Danach schalte ich den Allradantrieb ein und fahre wieder einen Kreis. Der Radius hat sich erweitert. Dann schalte ich die Untersetzung rein, fahre einen dritten Kreis und der ist noch weiter nach Außen gedriftet. Ich schalte wieder zurück in den Zweiradmodus und verlasse den Strand. Dann erzähle ich Jutta, wie sehr mich das frustriert, was ich hier erlebt habe und dass ich das mit dem Oregon Chapter abschließend verarbeiten werde. Ich hoffe, dass mir das hiermit gelungen ist. „DAS HOFFE ICH AUCH!“ (Jutta)

Merkwürdige Strandkreise…

Ich schaue mir die drei Kreise an, die ich gedreht habe. Jeder hat einen anderen Umfang und ich wundere mich, warum Jutta sich verweigert hat, diese kleine Übung zu machen.

Der Strand und ein moderner, einsamer Pfahlbau aus Beton bleiben im Rückspiegel hinter uns zurück und der Wind weht uns ins verregnete Astoria.

Blick auf den Pazifik

Astoria erinnert mich sofort an eine trostlose Filmkulisse aus „The Deer Hunter“, als wir unter der großen Brücke durchfahren. Die Mainstreet wirkt etwas schäbig, so wie der kleine Arbeiterort im Film, bevor die Jungs nach Vietnam müssen. Ich fühle mich in die 70er Jahre zurückversetzt, keine Ahnung woran das gerade liegt, aber das Gefühl ist einfach da und ich glaube mich in der Vergangenheit wiederzufinden. Wir parken unter der Brücke und da die Inferno Lounge geschlossen hat, in die ich eigentlich gehen wollte, machen wir uns auf den Weg in die Workers Tavern.

Workers Tavern

Dort ist leider gerade Bingo Nacht und darauf haben wir so gar keinen Bock. Aber gegenüber sehen wir die Triangle Bar, also versuchen wir es dort. Die Stimmung ist ausgelassen und die übermütigen Stammgäste werden bereits von der Barkeeperin gemaßregelt. Ich sehe sofort die Musicbox und den Billardtisch. Im Augenblick läuft noch Scheißmucke aus den Boxen, die an der Wand hängen. Aber das wird sich in einigen Minuten ändern, dann wird Metal Music aus den Boxen erschallen. Jutta wirft einen Blick auf die kleine dürftige Speisekarte und entdeckt, dass es hier Chili gibt, sonst nichts. Also bestellen wir zwei Portionen Chili. Aufgrund mangelnder Alternativen isst Jutta heute ausnahmsweise nicht vegetarisch. Dazu gibt es ein paar Cracker, die wir über unsere Schalen zerbröseln und zum Trinken gibt es frisch gezapftes Bier.

Astoria-Megler Bride, von Oregon nach Washington

In ganz Astoria ist das Overnight Parking verboten, so steht es im Internet. Also fragen wir bei der Barkeeperin, ob wir hinter der Bar über Nacht stehen dürfen. Irgendwie macht es den Anschein, dass sie sich damit schwer tut, aber abschlagen will sie es uns auch nicht. So sagt sie dann, dass es ok ist, wenn wir dort drüben stehen und weist mir durch die Hintertür einen Parkplatz zu. Ich parke um, obwohl der Platz auf dem ich zuvor stand auch genauso gut gewesen wäre, da bin ich mir sicher. Die betrunkenen Gäste haben sich zurückgezogen. Jutta und ich spielen Billard und aus den Boxen kommt endlich vernünftige Musik. Ich habe 5 $ investiert. Nach einer langen Nacht ziehen wir uns zurück ins Auto und gehen schlafen.

Triangle Tavern
Billard in der Triangle Bar

Es scheint, dass der Frühling auf dem Vormarsch ist. Und für uns geht es immer weiter nach Norden.

Bevor wir allerdings hier verschwinden, besuchen wir noch die Astoria Column. Das ist eine ziemlich hohe Säule, mit der der Lewis und Clark Expedition ein Denkmal gesetzt wurde.

Astoria Column

Diese begann in Louisiana am 14. Mai 1804 und etwa zwei Jahre später, am 23. September 1806 endete sie dort auch wieder. Lewis und Clark bekamen von Präsident Jefferson den Auftrag die erste amerikanische Überlandexpedition bis zur Pazifikküste durchzuführen. Eines der wichtigsten Ziele war es, einen schiffbaren Weg zu finden. Mit einem 18 m langen Kielboot und zwei kleineren Begleitbooten startete die 33-Mann-starke Expeditionstruppe. Über den Mississippi, den Missouri und anderen Flüssen kamen sie schließlich auf dem Columbia River in Astoria und damit auch an der Pazifikküste an. Unterwegs studierten sie Tiere, Pflanzen und die Geologie der Region. Sie fertigten Karten an und trafen auf die First Nation People. Wer mehr darüber wissen möchte, dem sei das Buch „Der weite Weg nach Westen“, die Tagebücher der Lewis und Clark Expedition ans Herz gelegt und natürlich Wikipedia.

Eines der „Lewis & Clark Expedition“ Boote

Wir müssen eine sich steil windende Straße hochfahren, auf Astorias Hausberg. Die 360° Aussicht von hier ist atemberaubend schön und wir haben Glück, dass die Sonne scheint. Die Säule ist bemalt mit Motiven der damaligen Expedition und man kann auf einer Wendeltreppe bis nach oben steigen. Aber das scheint mir ähnlich beschwerlich, wie die Expedition von Lewis und Clark damals.

Der Columbia River windet sich gen Osten….

Ich steige also nicht die steile Wendeltreppe des Turms nach oben, denn auch von hier ist der Rundumblick fantastisch. Wir sehen wie sich der Columbia River weit in das Land schlängelt, immer weiter nach Osten. Schauen über die gewaltige Brücke, die Oregon und Washington verbindet. Denn noch bevor wir das andere Ufer erreichen, haben wir den nächsten Bundesstaat auf dieser Reise betreten. Eine Nachbildung eines der Boote ist zu sehen und verschiedene Informationstafeln bieten Auskunft über Route und andere wissenswerte Aspekte dieser Expedition. Obwohl die Sonne scheint, macht uns der kühle Wind hier oben zu schaffen und wir beschließen wieder runter zu fahren und dort noch etwas an der Waterfront zu bummeln.

Astoria – Megler Brücke von Oregon nach Washington

Ich parke LEMMY neben einem Restaurant auf einer Plattform über dem Columbia River. Eigentlich dürfen hier nur Gäste des Restaurants parken, aber wir könnten uns ja auf dem Rückweg noch überlegen dort einzukehren. Ich verlasse mich darauf keinen Ärger zu bekommen. Bei einem Blick zurück zum Auto realisiere ich erst, wie wackelig dieser von morschen Pfählen getragene Parkplatz tatsächlich aussieht und ich hoffe mit 3,6 Tonnen nicht zu schwer zu sein. Ein entsprechendes Schild mit einem Gewichtslimit habe ich beim Drauffahren nicht gesehen. Ich hoffe einfach, dass es gut gehen wird und die Konstruktion nicht zusammenbricht.

Columbia River, gegenüber die schneebedeckten Berge von Washington State

Unser Weg führt uns an alten Lagerhallen vorbei. Schienen zeugen noch heute davon, dass hier einiges an Waren umgeschlagen wurde. John Jacob Astor (nach dem der Ort benannt wurde) hat es hier mit einem florierenden Pelzhandel zu Reichtum gebracht. Weiter geht unser Weg zur Inferno Lounge. Die will ich wenigstens von außen sehen und auch diese Bar ist direkt über dem Wasser auf Pfählen gebaut, mit einer tollen Aussicht über den River und auf die gegenüberliegenden schneebedeckten Berge. Hier hätte man einen coolen Abend verbringen können, mit ein paar netten Moscow Mules für Jutta und ein paar Bieren für mich, vielleicht auch einem White Russian und Blick auf die vorbeifahrenden Schiffe. Aber wir sind mit Earl und Pam zum Dinner verabredet. Es ist nur noch eine Zwischenübernachtung bei einem großen Campingausstatter eingeplant, wo Übernachtungen auf dem Parkplatz erlaubt sind, bei Cabelas in Lacey.

Inferno Lounge

Vor Kurzem haben wir mit Earl fest verabredet wann wir da sein werden. Damit auch nichts dazwischen kommt, wollen wir heute schon relativ dicht an Vashon Island ranfahren. Dort lebt er mit seiner Frau. Ohne diesen festen Termin hätte ich gut noch ein oder zwei Tage in Astoria verbringen können und ich denke, wenn wir diese Tour in einigen Jahren von Alaska bis Feuerland runter fahren, dann müssen wir mindestens drei Tage in Astoria einplanen.

Wir müssen noch in einen Computerladen, weil die Maus vom Laptop nicht mehr funktioniert und zum Schreiben brauche ich eine Maus. Damit ist es einfach angenehmer. Die hatten wir in der Türkei erst gekauft, lange gehalten hat sie also nicht. Gleich in der Nähe der Inferno Lounge finden wir das Geschäft und der Verkäufer hat eine ergonomisch geformte PC Maus parat. Jutta kauft noch eine 12 Volt Ladebuchse. Aus der Werkstatt des Ladens hat es die gleiche geniale Aussicht über den Columbia River, wie aus der Inferno Lounge. Wie soll man da arbeiten? Ich würde ständig aus dem Fenster schauen, aber vermutlich nutzt sich irgendwann sogar die spektakulärste Aussicht ab.

Im Grunde ist es eine gute Fügung, dass wir in den Computerladen mussten, denn er befindet sich hinter einem alten Trödelladen, den wir selbstverständlich auch noch besuchen. Mir haben es alte Blechschilder angetan und die Auswahl ist so groß, dass ich Probleme habe mich zu entscheiden. Jutta genehmigt mir zwei Schilder, weil sie eine gute Qualität zu haben scheinen. Ich handle drei Schilder aus. Ich sehe sie schon an meiner Garage, neben den (immer weiter vom Sonnenlicht verblassenden) Schildern hängen. Es gibt noch so einiges zu entdecken, doch aufgrund von Platzmangel und Überladung im Auto, kaufen wir nicht noch mehr ein.

Das Parkdeck auf Pfählen steht noch unversehrt da, als wir zurückkommen und es ist kein Knöllchen am Auto zu finden. Ich verstaue meine neu erworbenen Blechschilder unten in einer Schublade, so dass sie nicht weiter stören.

Jetzt geht es weiter nach Washington, auf die andere Seite der beeindruckenden Brücke über den Columbia River. Jutta hat sogar noch ein Highlight aus dem Hut gezaubert. Was zwar einen kleinen Umweg bedeutet, den wir aber gerne in Kauf nehmen. Es gibt ein altes Schiffswrack am Ufer zu bestaunen, die „Plainview AGEH-1“.

Plainview AGEH-1

Zuerst fahren wir unter der Brücke, die uns nach Norden bringen wird hindurch, um dann etwas später einen Loop zu nehmen und wieder auf der 101 die Astoria-Megler Bridge zu überqueren. Am Ende der Brücke verlassen wir kurz die 101 und fahren rechts auf den Lewis and Clark Trail Hwy., um zum Wrack zu kommen. Nach einigen Minuten sind wir dann auch schon da und ich kann etwas abseits der Straße halten. Ein kleines Stück müssen wir noch laufen und dann das: „No Trespass!“ steht auf einem roten Warnschild.

„Ich muss aber trotzdem durch, nützt ja nix…“

Ich ignoriere den Hinweis und finde schnell heraus, warum das Schild dort steht. Um zur Plainview AGEH-1 zu gelangen muss ich mich durch dichtes Unterholz schlagen und einen feuchten und extrem rutschigen Hang hinunterquälen. Zum Glück gibt es überall Geäst um mich festzuhalten. Jutta wartet oben auf mich und begnügt sich später mit meinen Fotos. Endlich unten angekommen, wate ich durch matschigen Morast und über grüne moosbewachsene Steine. Ohne zu stürzen komme ich nah an das Boot heran. Aber leider ist es unmöglich dort hinauf zu kommen, ohne nass zu werden. „Wo bleibst du denn?“, höre ich Jutta rufen. Durch das dichte Unterholz ist sie nicht mehr zu sehen. „Ich komme gleich, noch einen Augenblick. Hier ist es alles so rutschig und ich komme nur langsam voran.“ Mit ein paar netten Schnappschüssen mache ich mich vorsichtig auf den Rückweg.

USS Plainview AGEH-1

Die USS Plainview war in den 60er Jahren das größte Tragflächenboot der Welt. Es wurde auch als Forschungsschiff der United States Navy eingesetzt. Seit dem 10. April 2019 liegt sie hier verlassen im Wattenmeer gegenüber von Astoria, umgeben von schneebedeckten Bergen. Kritiker merken an, dass Schadstoffe aus dem Boot auslaufen könnten und die Umwelt bedrohen.

„Bin gleich da!“, rufe ich Jutta zu. „Hast du da irgendwo einen langen Ast oder sowas, den du mir reichen kannst, um mich hochzuziehen?“ „Ich gucke mal.“, sagt sie, als wir langsam wieder in Sichtweite gekommen sind.

Sie findet einen langen Stock und reicht mir ein Ende runter, so dass sie mich daran ganz gut hochziehen kann. „Das Boot war ganz schön beeindruckend, leider bin ich nicht an Bord gekommen.“

Columbia River, Washington State

Wieder am Auto, wende ich und fahre zurück Richtung Brücke, lasse sie allerdings links liegen und weiter geht es auf die 101 zu einem kleinen Kaff namens South Bend WA. Dort machen wir einen kurzen Stopp an der „World Largest Oyster“. Danach geht es ohne Unterbrechung zu unserem anvisierten Übernachtungsplatz bei Cabelas in Lacey. Unterwegs haben wir einen PKW vor uns, wo ein verrückter Hund immer von einem zum anderen Fenster rennt. In den Linkskurven guckt er links aus dem offenen Fenster und in den Rechtskurven schaut er rechts raus und lässt die Ohren im Wind wehen. Die Zunge hängt ihm aus der Schnauze und er scheint zu grinsen. Wir lachen uns kaputt und dann biegt der Wagen vor uns ab.

The Wörld Largest Oyster

Am Ziel angekommen parken wir LEMMY weiter hinten bei den Trucks. Der Parkplatz ist riesig und als wir gerade überlegen, ob wir heute oder morgenfrüh in den Laden gehen, fängt es heftig an zu schneien.

Damit ist es klar, heute bleiben wir zuhause.

Kurzer Wintereinbruch

Bei einem Becher Tee schreibe ich Earl nochmal, dass wir schon fast da sind und sie morgen am frühen Abend mit uns rechnen können. Wir wollen die Fähre von Ruston nach Vashon Island so gegen fünf Uhr nehmen und werden ca. eine Stunde später bei ihm sein.

Dann beobachten wir das wilde Schneetreiben aus der guten Stube und ich durchstöbere das Internet nach Konzerten in der Grungemetropole Seattle. Nach kurzem Jubel über ein Deftones Konzert mit dem Support Gojira aus Frankreich in ein paar Tagen, folgt sehr schnell frustrierende Ernüchterung. Ausverkauft! Ich schaue auf verschiedenen Ticketportalen und kann nicht fassen, was ich da sehe. Es werden Karten angeboten, für utopische Preise von mehreren hundert Dollar pro Ticket. Dabei ist dreihundert noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich suche nach anderen Konzerten im April und werde fündig. Die fantastischen Viagra Boys sind in Town. Ich habe sie bereits mehrmals live gesehen, aber auch diese Show ist ausverkauft. Es gibt Karten zu denselben überteuerten Preisen und dabei weiß ich nicht mal, ob ich gültige Karten erwerbe oder eventuell auf einen Betrüger reinfalle. Ich lasse Frust ab und erzähle Jutta was ich davon halte, dass hier alles ausverkauft ist und von dieser Preispolitik. Corrosion Of Conformity spielt in Seattle, ausverkauft. Ministry spielt in Seattle, ausverkauft.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, schimpfe ich verärgert über die Situation. Ich hatte mir tatsächlich Chancen ausgerechnet auf das ein oder andere Konzert in dieser Westküstenmetropole. Das war wohl ein bisschen naiv gedacht von mir. So kurzfristig ist es eben nicht möglich, wenn man in so einer musikverrückten Stadt ist. Mir dämmert, dass vermutlich das Deftones Konzert vor ein oder zwei Jahren wegen dem verkackten Virus ausgefallen ist und die Tickets ihre Gültigkeit behalten haben. Und jetzt sind natürlich alle verrückt nach Livemusik. Ausgehungert. Genauso wie ich es bin. Frustriert kündige ich an, dass wir trotzdem zu den Veranstaltungsorten fahren und an der Tür versuchen noch Karten zu ergattern, von Leuten, die ihre Tickets verkaufen wollen. Das erlebe ich fast immer, egal ob in Bremen oder in Hamburg. Irgendjemand bietet immer ein oder zwei Karten an. Mein ungebändigter Frust trifft Jutta, obwohl sie überhaupt nichts für die Situation kann. Sie nimmt es mir nicht übel und lässt mich lamentieren, bis ich mich irgendwann abgeregt habe.

Draußen wird es dunkel und die Laternen auf dem Parkplatz gehen an. Wir schauen aus dem Fenster und beobachten wie die dicken Schneeflocken im Lichtkegel tanzen. Hier fällt uns nur ein PKW auf, in dem jemand zu leben scheint. Dann ziehen wir die Fenster zu und schauen einen Film, bevor wir zu Bett gehen.

Heute schlafen wir lange aus und genehmigen uns ein ausgiebiges Frühstück. Unser Programm für diesen Tag ist überschaubar. Wir wollen ganz gemütlich durch Cabelas bummeln und schauen was es hier so alles gibt. Danach haben wir dann nur noch die Verabredung mit Cousin Earl und Pam zum Dinner. Aber zuerst riskieren wir mal einen Blick aus dem Fenster. Ich öffne das Rollo und werde von der Sonne geblendet. Es schneit noch immer oder auch schon wieder und draußen ist alles weiß. Wüsste ich es nicht besser, könnte man annehmen es sei Dezember, statt Anfang April. Gestern war noch Frühling als wir in Astoria gestartet sind, heute haben wir einen kurzen Wintereinbruch.

Polar Bear

Jutta freut sich schon beim Frühstück auf unsere Shoppingtour. Sie liebt Läden mit Campingstuff, aber dieser Store hat weit mehr zu bieten als nur Campingausrüstung. Wir stapfen durch den Schnee zum Haupteingang und staunen nicht schlecht, als wir die Dimensionen des Ladens sehen. Über einem künstlich angelegten Hügel mit diversen ausgestopften Wildtieren hängt ein Kleinflugzeug unter der Decke. Unsere Strategie durch diesen Einkaufsdschungel ist, systematisch den Hügel zu umrunden und dabei jeden Gang mitzunehmen. Hier gibt es einfach alles, was mit Outdoor Aktivitäten zu tun hat, sei es Fishing, Hunting und Camping. Es gibt Boote, Angeln, Armbrüste und alles was man zum Bogenschießen benötigt. Eine Abteilung hat Zelte in jeder erdenklichen Größe und alles zum Thema Outdoor Cooking. Es gibt Kleidung für jeden Bedarf, Literatur vom Überleben in der Natur bis hin zu Kochbüchern. Diese Aufzählung könnte ich noch lange weiterführen, fasse es aber mit einem Wort zusammen. Hier gibt es „ALLES“!

Cabelas, The Famous Outfitter

Jutta schaut nach einem Fernglas, weil unseres etwas klein ist und von minderer Qualität. Außerdem suchen wir noch einen handlichen Kocher für draußen. Den kleinen Campingkocher aus Griechenland können wir nicht benutzen, weil es keine passenden Gaskartuschen dafür in Amerika gibt. Und unsere Kartuschen durften wegen der Gefahrgut-Bestimmungen von Seabridge nicht mit an Bord des Containerschiffes. Leider finden wir nicht das was wir suchen, denn ich habe ganz konkrete Vorstellungen von der Größe des Kochers, vom Gewicht und das er kompakt ist. Schließlich muss ich ihn in der Ladeluke verstauen. Was die Ferngläser angeht ist die Auswahl fast zu groß, so dass Jutta sich nicht entscheiden kann. Dann checken wir noch die Flanellhemden, aber das Einzige das mir gefällt, gibt es nicht in Large, sondern nur in XL und XXL. Trotzdem macht es Spaß durch dieses Riesensortiment zu bummeln. Hätten wir ein größeres Fahrzeug mit mehr Stauraum und Zuladung, würden wir vermutlich mit einem vollen Einkaufwagen diesen famosen Outfitter verlassen, wie Cabelas sich selbst beschreibt. Da dies aber nicht der Fall ist, verlassen wir den Laden mit überschaubaren Einkäufen und machen noch einen Mittagsschlaf, bevor wir Lacey in Richtung Fähre verlassen, nach Ruston.

Warten auf die Fähre von Point Defiance nach Tahlequa, Vashon Island

Die Fähre geht von Point Defiance nach Tahlequah. Sie fährt mehrmals am Tag und nur die Hinfahrt kostet etwas. Will man Vashon Island verlassen muss man nicht erneut bezahlen. Im Grunde kauft man immer ein Return Ticket. Auch wenn man die Insel auf der anderen, der nördlichen Seite verlässt, so wie wir es morgen vorhaben. Einige Autos stehen schon vor uns, wir reihen uns ein in die Schlange der Wartenden. Nach wenigen Minuten sehen wir die Fähre schon kommen. Es lohnt sich nicht bei der kurzen Überfahrt das Auto zu verlassen, also bleiben wir sitzen.

Von Tahlequah sind es nur noch 20 Minuten zu fahren bis zu Cousin Earl. Wir sind perfekt im Zeitplan und werden pünktlich um sechs Uhr dort sein. Ein bisschen aufgeregt bin ich jetzt schon. Werden wir einen netten Abend haben und uns gut verstehen?

Angekommen auf Vashon Island fahren wir über eine kurze, schmale Landverbindung rüber auf die kleinere Schwesterinsel, nach Maury Island. Jutta navigiert mich mit ihrem Handy zu Earls Adresse. Als wir in die Einfahrt biegen, kommen er und Pam uns schon aus dem Haus entgegen. Ich halte kurz und wir begrüßen uns sehr herzlich, als würden wir uns schon lange kennen. Ich erkläre kurz, dass ich noch einen Stellplatz auf seinem Grundstück suchen möchte, wo wir in Waage stehen. Nach wenigen Minuten bin ich einigermaßen zufrieden und denke, für eine Nacht wird es schon gehen. Dann gehen wir gemeinsam rein.

Das Haus ist ziemlich groß und die Wohnküche sieht einladend aus. Es riecht bereits sehr lecker nach gegrilltem Hühnchen aus dem Ofen. Durch die hohen Fenster zeigt Pam uns den Garten. Gelegentlich kommen Hirsche und Rehe zu Besuch, berichtet sie uns. Immer wieder wird uns das Gästezimmer angeboten, aber wir machen klar, dass wir unbedingt im Auto die Nacht verbringen wollen, so wie wir es die gesamte bisherige Zeit der Reise gemacht haben. Ich nehme an, das Gebot der Höflichkeit treibt sie immer wieder dazu uns Bett und Bad anzubieten. Nach der ersten persönlichen Kennenlernphase, durch Facebook kenne ich Earl ja bereits seit einer Weile, geht es dann zu Tisch.

Sie servieren uns Kartoffelpüree, Hühnchen aus dem Ofen, grüne Bohnen und einen Weißwein zum Dinner. Wir überreichen eine Flasche teuren Rotwein und hoffen darauf, dass es ein guter Wein ist. Dabei fällt mir eine „Columbo“ Folge ein, sie heißt „Wein ist dicker als Blut“ und es geht um einen Weinliebhaber, der einen Mord begeht. Um dem Mörder auf die Schliche zu kommen versucht Columbo soviel wie möglich in zwei Stunden über Wein zu lernen. Dazu besucht er einen Weinexperten und fragt ihn unter anderem, woran man einen guten Wein erkennt. Der Experte antwortet kurz und knapp: „Am Preis!“

Es sieht alles ganz vorzüglich aus und das Essen schmeckt köstlich. Sogar der Weißwein schmeckt mir, obwohl ich eigentlich nur trockenen oder halbtrockenen roten Wein trinke. Meine Nervosität hat sich verzogen und wir unterhalten uns prächtig, obwohl ich nicht alles verstehe, denn Pam spricht leise und ziemlich schnell. Earl verstehe ich etwas besser, er spricht zwar auch leise, aber deutlicher. Mein Defizit fällt kaum auf, denke ich zumindest. Wenn ich mal etwas nicht genau verstehe, nicke ich lächelnd zustimmend. Pam erzählt gerne von der Familie und Earl von seiner Ahnenforschung. Wir werden befragt, welche Orte auf dieser Reise uns am meisten beeindruckt haben und das ist wirklich schwer zu beantworten. Ich versuche zu erklären, dass immer der Ort, an dem wir gerade sind besonders ist. Denn das ist der Grund Orte zu besuchen, weil sie anziehend sind, weil sie etwas haben, was andere Orte nicht bieten und weil wir dort hoffen neues, interessantes oder aufregendes zu entdecken. Dann füge ich noch dazu, dass ich die Städte und das Nachtleben liebe. In den USA sind das besonders New York, Los Angeles, New Orleans und San Francisco, aber auch die wilde Natur, in der Jutta sich wohler fühlt als in den Metropolen, liebe ich sehr.

Nach dem Dessert zeigt Earl uns sein Buch „A History Of The GODT Family“ von 1549–1992. Er ist viel gereist und hat dabei eine Menge Leute getroffen und interviewt. Früher hat er als Collegeprofessor gearbeitet, jetzt ist er in Pension. Er sagt, es gäbe viele Ärzte in unserer Familie und zeigt mir in dem Buch die Seite auf der ich stehe, meine Schwester und mein Vater und sein Bruder, von dem ich meinen Vornamen geerbt habe. Earl erzählt viele Einzelheiten aus unserer Familie, von einem berühmten Bischof in Schleswig und davon, dass wir damals als mordende und plündernde Wikinger um die Welt gezogen sind. Jetzt wird mir auch klar, woher mein Fernweh stammt. Zum Glück ist das Plündern und Morden über die Jahrhunderte aus unserer DNA verschwunden, der Entdeckergeist jedoch nicht.

Earls Ahnenforschung

Wir wechseln rüber in das Wohnzimmer auf die Couch und Earl nimmt Platz in seinem Lieblingssessel. Ich frage, ob er nicht ein Bier mit mir trinken möchte. Er bejaht und ich husche schnell raus ins Auto und nehme zwei Dosen aus dem Kühlschrank. Eine Dose Pabst Blue Ribbon reiche ich ihm, die andere öffne ich für mich. Jetzt reden wir kurz über ihre anstehende Reise nach Hawaii. Sie wollen Pams Schwester besuchen, die dort lebt und Geburtstag feiert. Wir reden über unsere Pläne für die nächsten Tage und ich klage mein Leid, dass alle Konzerte in Seattle ausverkauft sind. Dann erzähle ich von einem Museum, welches ich besuchen will, aber den Namen vergessen habe. Ich weiß nur noch, dass es um Popkultur geht und eine ziemlich schrille Architektur hat. Earl ist sofort klar wovon ich spreche und sagt nur „MoPOP“. In dem Augenblick fällt es mir auch wieder ein.

Wir sprechen noch ein weiteres Bier lang über alles Mögliche. Zum Beispiel müssen sie sich keine Gedanken um Einbrecher machen. Das kommt hier fast nie vor, die Flucht von der Insel ist eben nicht so einfach. So geht die Zeit ziemlich schnell dahin und Jutta und ich verständigen uns unauffällig, ob wir uns nicht langsam zurückziehen sollten.

„Sehen wir uns im Juli in Dänemark?“, wollen sie noch wissen. Dort ist wieder ein GODTFAMILY – Treffen. Sie fliegen zum wiederholten Mal nach Europa und auch nach Dänemark, wo viele Godts leben und schon einige Familientreffen stattgefunden haben. Sehr wahrscheinlich nicht, sagen wir, denn LEMMY wird dann noch mitten auf dem Atlantik im Bauch eines riesigen Containerschiffes sein und wir landen nur wenige Tage vor dem Termin in Deutschland. Aber wenn sie wollen, können sie uns sehr gerne besuchen bevor sie wieder in die Staaten fliegen, bieten wir an. Sie wollen von Dänemark noch in die Niederlande fahren um Freunde zu treffen und fliegen von Amsterdam zurück nach Seattle. Da liegt Bremen doch fast auf dem Weg. Das wollen wir so machen, verabreden wir.

Nach einem fantastischen und kurzweiligen Abend verabschieden wir uns. Earl quält sich noch bis vor die Tür, trotz seines schmerzenden kaputten Knies. Pam fragt wann wir frühstücken wollen. „Ist 9:30 Uhr ok?“, antworte ich. Strahlend wie es ihre Art ist, sagt sie: „Yes of course!“

The Living Room

Vor dem Schlafengehen reden Jutta und ich noch über den Abend und sind uns einig. Pam und Earl sind beide ganz besonders liebenswürdig und wir haben die Zwei in dieser kurzen Zeit ins Herz geschlossen. Außerdem habe ich einen neuen Cousin dazugewonnen.

Beim Frühstück quatschen wir, als ob wir uns ewig kennen würden. Wir fühlen uns wohl und herzlich aufgenommen. Für Pam und Earl ist es bereits das zweite Frühstück an diesem Morgen, denn sie stehen immer sehr früh auf. Nach reichlich Kaffee, frisch gepresstem Orangensaft und Toast mit Rührei, Wurst, Käse und selbstgemachter Marmelade naht langsam der Abschied. Earl liebt seinen morgendlichen Kaffee, ähnlich wie ich mein abendliches Bier, stellen wir noch fest. Dann kommen wir unweigerlich auf Twin Peaks zu sprechen, dieser Fernsehserie aus den 90er Jahren von David Lynch. Dort werden wir eine ganze Woche hängen bleiben, nachdem wir Seattle den Rücken gekehrt haben. Aber das wissen wir jetzt noch nicht.

Wir drücken und herzen uns zum Abschied, freuen uns auf ein Wiedersehen in Deutschland im Juli und dann sagen wir: „Bye bye Pam und Earl, bye bye Vashon Island. Seattle wir kommen!“

Pam, me and Cousin Earl

Vom North End Ferry Terminal geht es direkt nach Fauntleroy in Seattle. In der Stadt angekommen geht es direkt weiter zum MoPOP. Glücklicherweise ist direkt gegenüber ein bezahlbarer Parkplatz. Wir veranschlagen 3 Stunden für das Museum of Pop Culture. Von oben sieht es ziemlich futuristisch aus, so als hätte Christo ein paar Tischdecken über große Objekte geworfen, diese dann versteift und in verschiedenen Farben lackiert. Jetzt wo wir davor stehen sieht es aus, als wäre die Fassade aus einzelnen Metallplatten zusammengesetzt. Die Formen sind geschwungen, wie auch beim Guggenheim Museum in Bilbao. Kein Wunder, der Architekt vom MoPOP ist derselbe. Kein geringerer als Frank Gehry zeichnet sich für dieses Meisterwerk verantwortlich. Die einzelnen Abschnitte des Museums haben unterschiedliche Farben und es wurde mit vielen verschiedenen Materialien beim Bau gearbeitet.

Museum Of Pop Culture, Seattle

Manche Bewohner Seattles halten das MoPOP für das hässlichste Gebäude der Stadt. Mir gefällt‘s. Ein lebensgroßer Chris Cornell empfängt uns mit der Gitarre in der einen Hand, die andere ragt grüßend in die Luft. Wir gehen zum Haupteingang und lösen die Tickets.

Chris Cornell vor dem MoPOP

Als erstes gehen wir eine Treppe hoch, in die Nirvana Ausstellung. Ein gigantischer Gitarrenbaum wächst in den Himmel, wird nach oben hin immer ausladender und ist wohl so um die 12 Meter hoch.

MoPOP Seattle

Ich bin ein großer Nirvana Fan und hatte das Glück, die Band live zu erleben. Sie waren am 27.08.1991 beim Überschall Festival im Bremer Aladin als Support von Sonic Youth. Damals haben sie ordentlich Krach gemacht. Die aktuelle LP war „Bleach“ von 1989, „Nevermind“ kam erst im September ´91 in die Läden. Aber einen kleinen Vorgeschmack auf diese legendäre Platte haben wir auf dem Konzert schon bekommen. Sonic Youth war dermaßen laut, dass ich echt weiter nach hinten flüchten musste, was mir zuvor auf Konzerten noch nie passiert ist. Das Aladin war proppenvoll und ich nehme an, dass die meisten Besucher hauptsächlich wegen Nirvana gekommen sind.

Nirvana Exhibition

Jetzt bin ich schon etwas aufgeregt diese Ausstellung zu sehen und freue mich. Wir bekommen schon einen guten Einblick in die viel zu kurze Band History, aber auch in die morbide Gedankenwelt Kurt Cobains. Es gibt Originalbriefe und Bilder unter Glas zu sehen, selbst gemalte T-Shirts und natürlich reichlich Gitarren, Konzertplakate und Fotos. Traurigkeit überkommt mich ein wenig, wenn ich daran denke, dass so ein junger und begabter Mensch mit 27 Jahren sein Leben freiwillig beendet. Wie verzweifelt muss man sein, um so einen Schritt zu gehen? Leider haben wir es auch schon erlebt, einen Freund von uns nach vielen persönlichen Niederschlägen auf diesem Weg zu verlieren.

MoPOP, Seattle

Jetzt ist Kurt im „Club 27“, mit Janis Joplin, Jimi Hendrix, Amy Winehouse, Jim Morrison und einigen anderen Künstlern, denen Ruhm alleine nicht gereicht hat. Berühmt zu sein und Geld zu haben reicht nicht zum glücklich sein. Es mag einiges im Leben leichter machen, Türen öffnen, aber Glück kann man sich nicht kaufen, Gesundheit auch nicht, Ärzte vielleicht schon, aber das was das Leben lebenswert macht, ist nicht mit Ruhm, Geld und Macht zu erreichen. Wo liegt das Geheimnis vom Glück? Vom glücklich sein? Ich weiß es auch nicht, aber was ich weiß ist, das mich das Reisen glücklich macht, das es meinen Horizont erweitert und das ich niemals aufhöre zu lernen und bereit bin über den Tellerrand zu schauen.

Kurt Cobain & Nirvana Exhibition MoPOP

Wehmütig verlassen wir die Räume von Nirvana und Kurt Cobain.

MoPOP Seattle

Jimi Hendrix hat nur einen kleinen Raum bekommen, den wir natürlich auch nicht links liegen lassen, wie z. B. die Hip Hop Abteilung. Bei Jimi bin ich allerdings viel schneller fertig, weil diese Musik einen anderen Stellenwert für mich hat als Metalmusic und seine verschiedenen Genres. Jutta verweilt hier deutlich länger.

Bei Hendrix ist alles viel bunter und freundlicher, aber natürlich auch psychedelischer als bei Nirvana.

Jimi Hendrix Exhibition

Als nächstes wollen wir in die Horror- und in die Sciencefiction Sektion wechseln und kommen von der Musik zum Film. Diese beiden Ausstellungen finde ich besonders großartig, da ich Filme ja so liebe, besonders das Horrorgenre und alle Varianten davon. Sciencefiction geht ja oft einher mit Horrorelementen, wie zum Beispiel Alien von Ridley Scott. Hier ist es düster und sämtliche Filmbösewichter sind vertreten. Jason Voorhees und Michael Myers aus Freitag der 13. und Halloween stehen lebensgroß vor uns. Die 100 Horrorfilme, die man gesehen haben sollte, bevor man stirbt, laufen in kurzen Sequenzen in Endlosschleife. Requisiten, Mordwerkzeuge, original Kostüme und Sets aus verschiedenen Filmen werden hier perfekt in Szene gesetzt.

Wer kennt den Film?

Kinder haben hier unten im Keller nichts verloren, die sind oben bei Harry Potter und Game Of Thrones besser aufgehoben. Auf einer Tafel wird erklärt, wie man einen Aliencode dekodieren kann. Woanders erfahren wir alles Wissenswerte über Psychos, Vampire, Werwölfe, Aliens, Mutanten und Tiermonster und die bedeutendsten Filmtitel zu den einzelnen Genres. Ich bin ganz fasziniert von all dem hier, Jutta ist schon etwas weiter vorne, aber ich hole schon noch auf.

Horrorfilm Abteilung

Das Licht ändert sich langsam, von schummrig und blutig rot wird es heller, gelber und ich sehe Jutta etwas weiter vorne in der Sciencefiction-Abteilung.

Film Museum MoPOP in Seattle

Hier habe ich das Gefühl an Bord eines Space Shuttles zu sein. Wir gehen gemeinsam durch diese Sektion, in der ich mit Jutta Schritt halten kann. Ich nehme sogar Platz im Cockpit eines Raumschiffes und kann verschiedene Anweisungen per Knopfdruck geben, als sei ich der Pilot.

I’m on my way…., to another wörld

In einem Schaukasten hängen die abgefahrensten Schusswaffen, keine herkömmlichen Pistolen, sondern nur abgespacestes Zeug. Bei einer knochenähnlichen Knarre habe ich die Assoziation „eXistenZ“, ein Film von David Cronenberg. Eine andere sieht noch verrückter aus, eine Mischung aus Spritze, OP Besteck und Laser.

Is this gun looking at me?

Schwer begeistert verlassen wir den Untergrund und die faszinierenden Filmwelten, um uns wieder der Musik zuzuwenden. Jetzt geht es bis ganz nach oben zu Pearl Jam.

Going in a new wörld…

Diese legendäre Band um Eddie Vedder bekommt die räumlich größte Ausstellungsfläche. Ein Pfeil unter einer runden Leuchte mit der Aufschrift PEARL JAM – HOME AND AWAY weißt uns den Weg. Inmitten dieser Leuchtreklame ragt die Space Needle, ein Überbleibsel der Weltausstellung von 1964, über dem MoPOP Building in die Luft. Wir lassen die Space Needle dieses Jahr aus, da wir bereits einmal dort oben standen und den Blick genossen haben.

Pearl Jam Exhibition

Verteilt in der ganzen Ausstellung tauchen immer wieder lebensgroße Plastikfiguren auf, die wohl die Musiker darstellen sollen. Sie sehen aus wie von Playmobil, aber mit ein bisschen Fantasie könnte man eventuell Pearl Jam darin wiedererkennen. An den Wänden hängen unzählige goldene Schallplatten und Konzertplakate. In den Schaukästen sehen wir schrille Klamotten, Instrumente, noch mehr Plakate und allerlei anderer Stuff, der Fanherzen höher schlagen lässt.

MoPOP Seattle, Washington

Wir hatten auch schon das Glück Pearl Jam live zu erleben. Das war in den frühen 90er Jahren, als ich noch regelmäßig auf dem Roskilde Festival in Dänemark Gast war. Später wurde es mir zu kommerziell und der Mainstream verdrängte den Grunge, den Metal und die harten Bands immer mehr. Aber bevor es dazu kam, sahen wir Pearl Jam auf der Orange Stage, auf der größten Bühne des Festivals. Eddie Vedder sprang bei diesem Gig von der Bühne ins tobende Publikum und als er wieder zurück auf die Bühne wollte, erkannte ein Ordner ihn nicht als den Sänger der Band, was für viel Spaß bei uns und den anderen Zuschauern sorgte. Irgendwann begriff der Ordner dann was los ist und Eddie konnte die Show weiter spielen. Das war damals ganz witzig, aber es gab auch andere Zeiten. Am 30. Juni 2000 erlebten die Band und die Festivalbesucher einen regelrechten Albtraum, als 9 Menschen bei der Pearl Jam Show starben. Sie spielten wieder auf der Orange Stage und es kam zu einem solchen Gedränge vor der Bühne, dass einige Leute stürzten und starben in der Menschenmasse, die unablässig nach vorne drückte. Pearl Jam brach das Konzert ab. Die Bandmitglieder verarbeiten heute noch dieses Unglück und trafen nach der Tragödie die Hinterbliebenen der Opfer. 2002 komponierten sie einen Song, der das tragische Ereignis zum Thema hat, Titel „Love Boat Captain“.

Pearl Jam Ausstellung in Seattle, im MoPOP

Die Veranstalter waren selbstverständlich auch in der Verantwortung dafür Sorge zu tragen, dass so etwas niemals wieder geschehen kann. Es wurden Wellenbrecher aufgebaut, um die Menschenmassen auszubremsen. Es gibt inzwischen mehrere abgegrenzte Sicherheitsbereiche vor der Bühne und das Personal wurde besonders geschult.

Die Band wollte eigentlich nie wieder auf Festivals spielen, überlegte es sich aber zum Glück anders und spielte 2006 erstmals wieder live Open Air in Reading und Leeds. Dort ermahnten sie das Publikum zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme, was sich bis heute zu einem Ritual auf jedem Konzert von Pearl Jam etabliert hat. In Gedenken an die neun Verstorbenen auf dem Roskilde Festival im Jahr 2000 sollte doch dieses Motto immer und überall gelten.

Pearl Jam Ausstellung

Abschließend möchte ich noch erwähnen dass diese großartige Band sich für soziale Gerechtigkeit und verschiedene „Non Profit Organisations“ um den gesamten Globus einsetzt. All das und noch viel mehr kann man hier im MoPOP erfahren und jedem begeisterten Rockfan sei es ans Herz gelegt diese Erfahrung in Seattle zu machen, sollte man denn in der Stadt sein.

Pearl Jam

Absolut beeindruckt verlassen wir Frank Gehrys skurriles Gebäude und seine Ausstellungsräume, um uns auf den Weg zu machen. Auf den Weg in eine andere Welt, in die Welt von „TWIN PEAKS“.

MoPOP, Seattle (Frank Gehry)

Wir fahren nach North Bend, ca. 30 Meilen Richtung Osten. Dort wollen wir ins Double R Diner zum Kaffeetrinken und Kirschkuchen essen. Wir werden nicht wirklich in Twin Peaks sein, sondern in Snowqualmie und North Bend und verschiedene Drehorte zu dieser Kultserie von David Lynch besuchen. Der erste Drehort, den wir besuchen wollen, ist Twede’s Café, das RR Diner aus der Serie. Nach etwas über einer halben Stunde Fahrt kommen wir an und die Magie wirkt bereits jetzt schon. Ich parke direkt an der Seite vom Diner und kann es kaum fassen wieder hier zu sein.

Für die Leute die Twin Peaks nicht gesehen haben oder die, die mit der Serie nichts anfangen konnten/können oder sie einfach nicht mögen, möchte ich sagen: Leute da müsst ihr jetzt durch!

The Double R Diner

Ich liebe diese Serie über die Maßen, ich liebe Davids Lynchs Filme und seine Art Filme zu machen. Ich liebe das ganze Twin Peaks Universum, was weit mehr umfasst als nur die 30 Folgen der ersten beiden Staffeln. Ich habe das geheime Tagebuch der Laura Palmer gelesen, in dem Dinge stehen, die wir damals beim TV schauen nur erahnten. Ich mag den Twin Peaks Film, den man auf keinen Fall vor der Serie sehen sollte, weil er zu viel preisgibt. Mittlerweile gibt es sogar eine dritte Staffel, 27 Jahre nachdem die TV Serie ausgestrahlt wurde. Diese habe ich allerdings immer noch nicht gesehen. Ich liebe die Anfangsmelodie und die Eröffnungssequenz und bekomme sofort Lust auf Kaffee und Kirschkuchen, sobald die ersten Töne aus den Boxen kommen. Ich habe das Gefühl jeden Einzelnen aus Twin Peaks zu kennen und leide, lebe, liebe und hasse mit ihnen gemeinsam.

Angekommen in einer Parallelwelt

Ich hoffe, dass ihr trotzdem dieses Chapter zu Ende lest und vielleicht sogar ein Teil meiner Faszination überspringt und ihr der Serie eine Chance gebt und sie schaut. Wie genau sich dieses finale Kapitel des 2. Aktes entwickelt, weiß ich selber noch nicht. Es könnte sein, dass die Grenzen hin und wieder verschwimmen und ich statt North Bend, Twin Peaks schreibe, dass ich in realen Situationen plötzlich in die Materie der Serie eintauche und den Bezug zur Wirklichkeit verliere. Es ist aber genauso gut möglich, dass nichts dergleichen passiert und es ein ganz normales Chapter wird. Wir werden sehen, wohin diese Reise führt….

….“Diane, ich habe von einem Diner mit gutem Kaffee und leckerem Kuchen gehört in diesem kleinen Ort, wie hieß er doch gleich…, ach ja, Twin Peaks!“ „Wir sind jetzt da und gehen rein.“

Double R Diner in Twin Peaks

Der Tresen inmitten des lang gestreckten Diners ist umgeben von Hockern mit rot bezogenen Lederpolstern. Links an der Wand sind alle Plätze belegt, also setzen wir uns an die rechte Seite mit den großen Fenstern zur Straße in eine freie Sitzecke. Wir sitzen uns gegenüber auf gepolsterten Holzbänken, die ebenfalls mit Leder bezogen sind. Norma und Shelly sind heute leider nicht da, so bestellen wir bei einer Bedienung, die wir nicht kennen:„Black Coffee please and one piece of your famous cherry pie!“, sage ich. „Would you like some vanila ice with your pie?“ „Why not?“, entgegne ich und sie notiert die Bestellung auf ihrem Block. „I would like the same, please!“, sagt Jutta freudestrahlend, als der Blick der Bedienung zu ihr rüberwandert.

Eigentlich trinke ich meinen Coffee „flat white“, was heißt, mit viel Milch, fast weiß. Aber nicht hier. Nicht heute. Agent Cooper trinkt seinen Kaffee schwarz. Er zelebriert es Kaffee zu trinken. Seit er hier ist in Twin Peaks, um den Mord an Laura Palmer aufzuklären und als FBI Agent die hiesige Polizei zu unterstützen. Coop trinkt viel Kaffee, sehr viel. Er scheut auch nicht davor zurück, die Kellnerin des Great Northern Hotels, die ihm morgens beim ersten Frühstück im Hotel den Kaffee serviert, zurückzubeordern, um in ihrem Beisein den frisch gebrühten Kaffee zu kosten. Ein Schluck, ein breites Lächeln und die Kellnerin darf gehen. Bei einer anderen Gelegenheit fragt Pete, der die Leiche von Laura Palmer am Fluss gefunden hat, Agent Coop, wie er seinen Kaffee mag und Cooper antwortet: „So schwarz wie eine mondlose Nacht um Mitternacht!“ Pete entgegnet: „Ganz schön schwarz.“

Say „NO“ to Ghostwood!

Unsere Bestellung wird auf einem großen Tablett serviert und zwischen uns auf den Tisch gestellt. Es sieht alles ganz köstlich aus. Die Kirschen purzeln fast aus dem Kuchen und das Eis kommt aus einer Spritztüte auf den Teller, obenauf eine kandierte Frucht. Hier und heute trinke ich meinen Kaffee ebenso schwarz wie Kyle Maclachlan als Agent Cooper. Ich rieche an meinem Kaffeebecher und das volle Aroma frisch gebrühten Kaffees strömt in meine Nase. Der erste Schluck wird vorsichtig gekostet, da der Kaffee noch ziemlich heiß ist. Es schmeckt wie es riecht, köstlich und aromatisch.

Jetzt kommt der Cherrypie an die Reihe, der früher auf dem ganzen Kontinent verschickt wurde und nicht nur dort, bis Japan haben damals in den 90er Jahren Fans den Kuchen bestellt.. Ein großes Stück wird auf der Gabel platziert und dann einmal durch das Vanilleeis gezogen. Der Kuchen ist noch warm und mit dem kalten Eis ist das eine wahre Wonne, als alles zusammen kommt im Mund, auf Zunge und Gaumen. Eine grandiose Geschmacksexplosion. Hierauf folgt nun ein großer Schluck Kaffee und abwechselnd geht es so weiter, bis der Kuchen und das Eis verdrückt sind. Die aufmerksame Bedienung kommt mit der Kaffeekanne vorbei, um bei Bedarf nachzuschenken. „Oh yes please, thank you so much!“ Wir sind angekommen in Twin Peaks.

The legendary cherry pie and black coffey

Auf dem Weg in den Washroom komme ich an einer roten Wand vorbei, an der die ganzen gerahmten Fotos aus dem Twin Peaks Universum hängen. Auch ein gezeichnetes Phantombild von Bob hängt dazwischen, mit der Überschrift: „Have you seen this man?“ Zu Bob komme ich später noch, jetzt wollen wir uns erst mal den Übernachtungsplatz für heute anschauen. Das wird ein Parkplatz bei Safeway sein. Bevor wir los fahren, lassen wir unsere Becher ein zweites Mal nachfüllen und genießen den Kaffee.

Fotowand im Diner

Der Safeway Parkplatz ist perfekt geeignet für eine oder auch mehrere Übernachtungen. Daneben sind noch Restaurants und andere Shops und wir haben viele Möglichkeiten uns irgendwo hinzustellen, ohne jemanden zu stören. Sogar die hohen Berge sehen wir von hier aus hinter den Shops. Nachdem wir uns verschiedene Optionen angeschaut und für gut befunden haben, fahren wir allerdings wieder los, denn der Tag ist noch nicht zu Ende. Wir haben keine Bedenken hier später einen tollen Nachtplatz zu finden. Nun wollen wir uns in Snoqualmie den dicken Baumstamm aus der Anfangssequenz, dem Vorspann aus jeder Twin Peaks Folge ansehen. Bäume und ein Sägewerk spielen eine zentrale Rolle in dieser überirdischen Serie. Wir sind tatsächlich bereits das zweite Mal in dieser Gegend und auch das Double R Diner hatten wir viele Jahre zuvor besucht.

Ich versuche mich in diesem Chapter hauptsächlich auf diesen Trip zu konzentrieren, aber als wir bei dem Baumstamm ankommen, stellen wir einen riesigen Unterschied fest. Er ist enorm gealtert und viel morscher und löchriger geworden. Leider ist er auch von Gittern umgeben, so dass man ihn nicht mehr berühren kann. Der gigantische Stamm liegt auf einem Wagon auf Schienen und eiserne Gitter schützen ihn vor den Serienjunkies, die sich ein Stück abbrechen wollen. Bei unserem letzten Besuch war diese Schutzmaßname noch nicht nötig und wir konnten den Stamm anfassen und die wahnsinnigen Dimensionen dieses Baumriesen hautnah erleben.

Der Stamm altert so wie wir, nur viel langsamer…

Die Züge auf den Abstellgleisen schauen wir uns als nächstes an. Hier finden wir den Wagon, in dem Laura Palmer und Ronette Pulaski sich für perverse Sexpraktiken verkauft haben. Das alles wirkt intensiv auf uns ein und wir sind uns einig: Hier werden wir eine ganze Zeit lang brauchen, um in Ruhe zu sehen was wir sehen wollen.

Das es eine ganze Woche wird, ist uns noch nicht klar und dass ich hier tatsächlich leben könnte, wird mir auch erst später bewusst werden. Für heute haben wir mehr als genug Input bekommen und versuchen die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Wir fahren zurück zum Safeway Parkplatz und lassen den ganzen Tag Revue passieren. Es gibt noch ein leckeres Abendessen und was zu trinken und die nächsten Schritte werden geplant. Dann gehen wir schlafen.

Safeway Parkplatz in North Bend

Der nächste Morgen beginnt grandios mit einem fantastischen Blick auf die Twin Peaks, die Zwillingsberge hinter der Einkaufszeile. Wir machen einen schnellen Einkauf, nachdem wir ausgeschlafen haben und versorgen uns für die nächsten Tage. Dann gönnen wir uns ein entspanntes Frühstück, mit viel Zeit, reichlich Kaffee und frisch gepresstem Orangensaft. Als Erstes steuern wir das Great Northern Hotel an und den Wasserfall, die Snoqualmie Falls. Es ist Mitte April und das Wetter meint es gut mit uns. Ich parke auf der anderen Straßenseite vom Hotel und wir überqueren die Straße über eine Fußgängerbrücke und gehen dann eine Treppe runter zu der Plattform mit dem besten Blick auf die Snoqualmie Falls. Wir machen eine Menge Fotos.

Twin Peaks Fall and the great Northern Hotel

Hier sind nicht nur Twin Peaks Fans. Auf jeden Fall ist dieser Anblick auf den Wasserfall und das Hotel unbeschreiblich schön und so vertraut aus der Serie. Wir reißen uns irgendwann los von diesem magischen Ort, um ins Hotel zu schauen, wo Ben Horn und seine Tochter Audrey ihr Unwesen treiben, wo Cooper residiert und ein guter Kaffee serviert wird. Sheriff Truman sagt über das Hotel: „Clean rooms and a reasonable price!“ Das mag in der Serie zutreffen, in der Realität ist die Salish Lodge (wie das Hotel im Real Life heißt) eher im obersten Preissegment angesiedelt. Wir freuen uns trotzdem, dass es im Shop auch noch fast 30 Jahre nach dem Serienerfolg T-Shirts, Beercooler und allerlei anderen Twin Peaks Fan Stuff zu kaufen gibt.

Snoqualmie Waterfall and the Salish Lodge

Ich persönlich glaube, diese Serie ist unsterblich und hat zurecht den Kultstatus. By the way, das Frühstück liegt schon eine Weile hinter uns und es wäre mal langsam an der Zeit einen schönen schwarzen Kaffee zu trinken. Warum nicht im Double R Diner, vielleicht sogar mit einem Cherrypie und einer kleinen Portion Vanille Eis?

Backside from Twedes Cafe

Wir atmen Twin Peaks Luft, fahren durch die Douglasienwälder und suchen Big Ed’s Tankstelle. Die gibt es leider nicht mehr, nicht mal mehr die alten Zapfsäulen davor, wie vor einigen Jahren noch. Jetzt ist hier ein Blumenladen mit einem Ballonshop und ich frage mich: „Wer braucht denn so was in Twin Peaks?“

Jetzt hilft nur noch Kaffee und Kuchen. Ich fahre ins Diner und wir bestellen dasselbe wie gestern. Ich erkundige mich nach der handgezeichneten Twin Peaks Map, die ich damals für fünf Dollar kaufen konnte. Leider gibt es die nicht mehr, die Nachfrage hat wohl doch nachgelassen. Meine Karte, die ich vor vielen Jahren erworben habe, klebt im Fotoalbum. Der Chef im Diner sagt uns, wo wir eine Onlinekarte erwerben können. In einem Laden ein paar Meter weiter sollen wir uns nach Sally erkundigen, die hat dann einen Downloadcode für uns, für fünf Dollar. Glücklich darüber trinken wir unseren tiefschwarzen Kaffee, essen Kirschkuchen mit Vanilleeis und lassen zweimal nachschenken. Die schönen blauen Kaffeebecher, die wir damals gekauft haben, gibt es leider nicht mehr, nur noch die hässlichen braunen Bookhouse Boys Becher. Aber die gefallen uns überhaupt nicht, weil die irgendwie wie Eisbecher aussehen. Wir haben unsere beiden blauen Becher noch, aber der TWIN PEAKS Aufdruck ist durch etliche Spülmaschinendurchgänge nicht mehr zu entziffern. Egal, wir kaufen keine neuen Becher und ziehen weiter, um die Onlinekarte zu erwerben. „Wie hieß noch gleich der Laden, wo Sally arbeitet?“, frage ich nachdem wir Twedes Cafe verlassen haben. „Keine Ahnung!“, sagt Jutta. „Fuck!“

Twede’s Cafe oder auch Double R Diner

Wir haben beide vergessen welchen Namen der Laden hat, aber es sollte ein Geschäft nur einen Block weiter sein, oder? Wir sind beide nicht mehr sicher und jeder von uns dachte, der andere wird schon genau zugehört haben. Wir fragen in zwei Läden nach Sally und nach „Online Twin Peaks Maps“, aber niemand kann uns helfen. Nochmal wollen wir nicht nachfragen im Double R und sind uns sicher auch so im Internet alle Infos zu finden. Es wäre nur schön gewesen, die alte, gezeichnete Karte noch ein weiteres Mal zu erwerben. Sogar wenn es nur online möglich wäre, dann hätte ich sie mir eben einfach ausgedruckt. Wir finden sie als Bild im Internet, allerdings nur in einer sehr miesen Qualität, aber zum Navigieren soll es reichen.

Heute wollen wir nicht noch einmal auf dem Parkplatz übernachten, obwohl wir dort eine ruhige Nacht hatten. Jutta hat einen Platz auserkoren, der nicht weit weg ist. Der ortsnahe Campingplatz ist leider voll, aber der Tall Chief Campground hat noch Kapazitäten. Weit zu fahren ist es nicht und schließlich wollen wir auch den Spirit von Bob in den Wäldern aufnehmen.

Auf dem Weg raus aus Twin Peaks kommen wir am Roadhouse vorbei. Die Fassade ist blau gestrichen. Früher war sie weiß, das hat mir besser gefallen. Ich parke neben dem Gebäude und laufe einmal drum herum um Fotos zu machen. Der dicke Kneipenwirt beobachtet mich argwöhnisch von innen durch die Fenster. Damals hatte ich hier einen Ceasar Salad bestellt. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen.

The Road House

Wir fahren in den Wald, durch die Douglasien, die Agent Cooper von Anfang an so fasziniert haben. Und wir fahren noch weiter hinein in den Wald, in dem der Geist von Bob umgeht. In den Wald, wo die dunkle Hütte steht und wo Seltsames geschieht. Und es wird Seltsames geschehen.

Road House

Auf diesem Camp kann man nicht reservieren, das steht auf der Homepage. First come, first serve. Ich kann einfach einen freien Platz auswählen. Es geht sehr schnell beim Check In, wo auch mal wieder LEMMY bewundert wird. Und nach einer Runde haben wir uns entschieden. Der Stellplatz ist toll, die Nachbarn sind zwar zu sehen, aber nicht so nah, dass es nervt. Vor uns liegt ein kleiner Weg mit einer Treppe hinunter zum Swimmingpool, den Duschen und einem Kaminzimmer mit einem Billardtisch und Internetempfang. Hier gefällt es uns total gut und wir wollen zwei Nächte bleiben.

Wörld’s Best Beer

Schon in der ersten Nacht am Lagerfeuer weht der Wind durch die Bäume und ich spüre das Wispern Bobs durch den Wald. Er flüstert unverständliche Worte, die der Wind zu mir rüber trägt. Ich spüre seine Anwesenheit, seine Aggression und versuche mich dagegen zur Wehr zu setzen. In der Ferne vernehmen wir den Ruf einer Eule. „Die Eulen sind nicht was sie scheinen!“

Tall Chief Camp

Ich sammle um unser Camp ein wenig loses Holz, das auf dem Boden liegt. Das gekaufte Bündel geht langsam zu Ende und wird nur für heute noch reichen. Unsere Nachbarin, sie scheint alleine zu sein, sieht mich beim Holzsammeln und bietet mir ihre beiden geschnürten Bündel an. Sie sagt, sie zünde sich selber nie ein Lagerfeuer an und habe das Holz schon ganz lange liegen. Ich bin begeistert und bedanke mich sehr herzlich bei ihr. Sie will es mir sogar schenken und weigert sich, auch nur einen Dollar von mir zu nehmen. Ich frage, ob ich ihr helfen kann die schweren Bündel rüber zu tragen. Sie liegen hinter ihrem Camper, das habe ich schon gesehen. Da sagt sie nicht nein und ich hole mir ihren Holzvorrat. Jutta hat es von drinnen mitbekommen, dass ich mit der Nachbarin einen kleinen Plausch halte und kommt dazu. Wir reden über alles Mögliche, unsere Reise natürlich auch und dass wir große Twin Peaks Fans sind. Sie kommt uns irgendwie ein bisschen schräg vor und scheint öfter hier auf dem Platz zu sein, wahrscheinlich als Dauercamperin. Sie fragt uns, ob wir von außen in ihren Wohnwagen gucken können. Sie hat gerade die Scheiben von innen foliert. Wir verneinen, sogar wenn sie Licht an hat, können wir nicht durch ihre Fenster sehen. Sie wirkt beruhigt und wir plaudern noch über dies und das und dann verabschiedet sie sich mit den Worten. „See you!“

Jutta und ich trinken noch etwas am Lagerfeuer und finden beide unsere Nachbarin ein wenig merkwürdig, gehen dann aber schnell zu anderen Themen über. Morgen wollen wir zwei Brücken besuchen und uns Trumans Sheriffs Departement ansehen. Bei den Brücken bin ich mir nicht ganz sicher, über welche von den beiden Ronette Pulaski aus dem Wald plötzlich wieder aufgetaucht ist. Vielleicht wird es mir klar, wenn ich vor Ort bin, wir werden sehen. Der Wind haucht uns von hinten kalt in den Nacken, wir rücken näher an das wärmende Feuer und genießen die etwas unheimliche Atmosphäre in diesem alten Wald mit den hohen Douglastannen. Der Ruf einer weit entfernten Eule dringt durch das Dickicht zu uns. Hier und da knistert es im Unterholz, wir sind nicht alleine…

Bob is close to me…

Die Nacht bricht herein und ich lege etwas Holz nach. Es ist still um uns herum. Bis auf das Rauschen des Waldes und gelegentliches Knacken aus der Dunkelheit hören wir nichts. Wir flüstern selber, obwohl es dazu eigentlich keine Veranlassung gibt, denn wir haben genügend Abstand zu unserer schrägen Nachbarin und noch mehr zu allen anderen. Scheinbar werden wir unbewusst ruhiger im Einklang mit der Natur. „Ich hole mir noch ein Bier.“, flüstere ich Jutta zu, „Willst du auch noch was?“ „Einen kleinen Schluck Wein noch!“, sagt sie. „Alles klar, bringe ich mit.“ Auf leisen Sohlen mache ich mich auf den Weg und versuche dabei so wenig Geräusche wir möglich zu machen. Dann trinken wir gemütlich unsere Drinks, lauschen dem Wald und der Eule, während das Feuer immer weiter runter brennt. Manchmal zucken wir zusammen, wenn es irgendwo hinter uns knackt und wir schauen uns verschreckt an. Das ist ein ganz besonderer Moment hier in den Wäldern von Washington, von Twin Peaks. Irgendwie einzigartig und schwer zu erklären. Der Geist von Bob umgibt uns, ist greifbar nah. Ich sehe seine grinsende Fratze vor mir, direkt hinter dem Lagerfeuer, als schwebe sie wabernd hinter dem Rauch. Mir fällt die Bleistiftzeichnung aus dem Double R ein, die Phantomzeichnung an der roten Fotowand. Auf dem Bild grinst er nicht. Ein Windhauch, raschelnde Blätter und die grässliche Fratze wird weggeweht als hätte sie nie existiert. Sie löst sich auf und außer Rauch bleibt nichts zurück.

„Ich geh schon mal rein!“, flüstert Jutta mir zu. Ich lege noch ein Scheit Holz nach und frage:„Gibst du mir noch ein Bier raus?“

Alleine ist es noch unheimlicher, aber ich liebe den Nervenkitzel und hoffe nur, dass Bob nicht über mich kommen wird. Er ist heimtückisch und schleicht sich von hinten an. Er ist nicht aus Fleisch und Blut, er ist ein Geist und nimmt sich deinen Körper als Wirt. Ich trinke einen großen Schluck Mut aus der Dose und fühle mich für jede Situation gerüstet.

Meine Boombox bleibt heute Nacht aus, ich will die Musik des Waldes hören, das Atmen der Bäume. Meine Gedanken wandern frei umher, manchmal bin ich im „Red Room“, ein anderes Mal im Roadhouse mit meinen ganzen Freunden bei einem Bier und Julee Cruise haucht in ihr Mikro. Dann wache ich aus meinen Traumwelten auf und finde mich wieder hier am Lagerfeuer. Mir wird kalt und ich habe gar nicht bemerkt wie weit das Feuer schon runter gebrannt ist. Soll ich noch was nachlegen und mir ein Bier holen oder ins Bett gehen? Ich denke: „Scheiß drauf, wenn wir schon mal hier sind…!“ und hole mir noch ein Bier. Dann platziere ich zwei große Scheite auf der Glut.

„Hey du Schlafmütze! Wann willst du denn aufstehen?“, werde ich wachgerüttelt. „Wie spät ist es denn?“, frage ich zurück. „Kurz vor zehn schon.“

Ich quäle mich etwas verkatert aus dem Bett und mache mich im Bad mit eiskaltem Wasser frisch. Der Kaffee blubbert köstlich auf der Flamme und der Duft gerösteter Bohnen belebt mich zusätzlich.

„Hast du geschaut, wie wir am besten fahren?“, frage ich aus dem Bad. „Ja klar, die Packard Saw Mill ist auch beim Sheriffs Office in der Nähe, das sehen wir heute ebenfalls.“, sagt Jutta. „Wie lange hast du denn gestern Nacht noch draußen gesessen?“ will sie wissen. „Hab nicht auf die Uhr geguckt, bis ich müde war eben.“

Wir trinken unseren Kaffee unter freiem Himmel bzw. unter einem Blätterdach. Er ist heiß und schwarz. Dazu gibt es ein kleines Müsli, das soll reichen für die frühen Morgenstunden. Ziel heute Vormittag ist die Brücke über den South Fork Snoqualmie River. Jutta navigiert mich mit ihrem Handy ohne Umwege zur Brücke und ich habe das Gefühl niemals weg gewesen zu sein. Alles fühlt sich vertraut an und wenn sie mir sagt wie ich fahren soll, weiß ich es meist vorher schon.

Old Bridge

Die rostige Eisenbrücke führt nirgendwo mehr hin, sie ist ein Relikt aus alten Zeiten und nur ein Hobbyfotograf ist außer uns hier hoch gestiegen. Ich mache Fotos mit meinem Handy und Grüße den Fotografen. Er hat eine große Kamera mit Stativ aufgebaut und auf die wolkenverhangenen, schneebedeckten Berge ausgerichtet. Er grüßt zurück und sagt mir, dass er auf die Sonne hinter den Bergen wartet, denn dann sei das ein unglaubliches Motiv. Das mag schon sein, denke ich mir. Aber nur mit meinem Handy ausgestattet und ohne Stativ brauche ich darauf nicht zu warten. Ich mache trotzdem einige Bilder und dann fotografiere ich Jutta, über die Brücke laufend, wie damals Ronette Pulaski drüber gelaufen ist. Allerdings hatte Ronette nur ein zerrissenes Nachthemd an. Ich begnüge mich mit den Bildern einer angezogenen Jutta, schließlich ist es recht kühl heute morgen.

Brücke ins Nirgendwo

Weiter geht es zum Department von Sheriff Truman. Den Weg kenne ich nicht und bin auf Juttas Hilfe angewiesen. Es ist auch ziemlich versteckt und etwas abgelegen. Dort ist jetzt eine kleine Rennstrecke und man kann Kurse buchen, bei „DIRT FISH“, wie diese junge Firma heißt. Das verfallene Packard Sägewerk sehen wir schon aus einiger Entfernung und dann kommt ein wahnsinniges Highlight. Als ich bei Dirt Fish auf den Parkplatz fahre, steht dort ein blauer Ford Bronco, der Wagen von Sheriff Truman. An der Frontscheibe hängen innen zwei Zettel, die uns als Twin Peaks Fans direkt ansprechen. Wir sind eingeladen Fotos zu machen vom Auto, aber gerne auch im Office. Es wird erwartet, dass niemand auf die Rennstrecke läuft, da die Fahrer nicht so gerne bremsen wollen für Serienjunkies. Auch sollte man nicht auf das Auto des Sheriffs klettern und sich zurückhaltend und respektvoll verhalten, eine absolute Selbstverständlichkeit. Wir finden es erstaunlich, dass sie mit zwei Zetteln am Auto darauf hinweisen müssen.

Sheriff Trumans Ford Bonco

Rennen laufen im Moment gerade nicht, wir lassen LEMMY neben dem Bronco zurück und gehen auf das Eingangsportal des Sheriffdepartments zu. Es sieht von außen aus wie in der Serie, nur die Farben sind greller geworden und die Türen und Fenster sind verspiegelt. Orange und schwarz dominiert den Eingangsbereich. Über der Tür steht in großen Buchstaben „Dirt Fish“.

Das alte Sheriffs Department

Ich öffne Jutta die Tür und wir gehen rein. So wie wir (gefühlte tausendmal) im Fernseher beobachtet haben, wie irgendjemand sonst aus Twin Peaks durch diese Tür gegangen ist. Gleich links ist der Platz von Lucy Moran, der Sekretärin des Sheriffs. Sie sitzt hinter einem halboffenen Schiebeglas und telefoniert häufig und hält immer reichlich Kaffee und Donuts für Truman, Deputy Andy, Chief Deputy Hawk und Agent Cooper bereit. Lucy ist heute nicht am Telefon, aber eine andere entzückende junge Dame aus dem Dirt Fish Team sitzt auf ihrem Platz. Die Schiebefenster sind nicht mehr da. Wir gehen erst mal möglichst unauffällig rein und schauen uns um. Weiter hinten ist ein Verkaufsraum, wo sonst eigentlich die Räume des Departments wären. Diese Aufnahmen sind dann wohl in irgendeinem Fernsehstudie entstanden und nicht hier. Jemand anderes vom Team läuft durch den Laden und schaut rüber und mir rutscht sowas Blödes raus wie in etwa: „Is Sheriff Truman here today?“ Er hat mich offensichtlich nicht richtig verstanden und fragt: „Excuse me?“ Ich sage schnell: „Oh nothing, it was only a bloody joke!“ Freundlich nickend geht er weiter und mir ist das ziemlich unangenehm. Denn als mir die Frage rausgerutscht ist, war mir schon klar, dass vermutlich fast jeder Twin Peaks Tourist mit einer bescheuerten Anspielung auf die Serie hier reinplatzt. Trotz dieses Fauxpas will ich unbedingt ein Foto von Lucys Arbeitsplatz machen und frage die nette Lady die jetzt dort sitzt, ob ich mal kurz fotografieren darf. Lächelnd sagt sie zu und fragt mich, ob sie den Telefonhörer ans Ohr halten soll? Ich bin begeistert und mache schnell ein paar Bilder.

Lucy Moran 2.0

Dann kaufen wir noch einen DIRT FISH Aufkleber für LEMMY und verabschieden uns. Draußen mache ich ein paar Schnappschüsse von der Packard Saw Mill. Leider steht nur noch einer der beiden hohen Schornsteine. Weiter geht es zur zweiten Brücke über dem Snoqualmie River. Mit jeder Fahrt durch Twin Peaks fühle ich mich heimischer und fange an mich in den Ort zu verlieben. Eine Ampel regelt den Verkehr über die Brücke, denn die Spur ist sehr schmal und sobald sich ein Fahrzeug von einer Seite nähert, springt die Ampel auf der anderen Seite auf Rot. Ich fahre einmal drüber und parke dahinter am Straßenrand. Dann gehe ich ein Stück zurück und mache aus verschiedenen Perspektiven Fotos. Ich bin mir im Augenblick ziemlich sicher, dass Ronette Pulaski über diese Brücke gekommen ist, völlig verstört und orientierungslos.

Packard Sägewerk

Wir haben Lust auf Kaffee bekommen, es ist bereits Nachmittag. „Wollen wir vielleicht ins Double R Diner fahren?“ Dort soll es einen verdammt guten Kaffee geben.

Nach drei Bechern des schwarzen Elixiers und etwas Kuchen wollen wir zurück in unser Camp fahren. Ich möchte mal wieder etwas weiterschreiben. In dieser Stadt und der ganzen Atmosphäre drumherum fühle ich mich pudelwohl, entspannt und kreativ. Das will ich ausnutzen.

Die zweite Brücke über den Snoqualmie River

Den Weg kenne ich und kurz nachdem wir am Roadhouse vorbeigefahren sind, geht es wieder hinein in den Wald. Der PKW unserer Nachbarin ist nicht da, aber ihr Wohnwagen steht unverändert auf seinem Platz. Ich schreibe zuerst draußen, mache auch noch ein Lagerfeuer an und schreibe weiter, bis es mir zu dunkel und zu kalt wird. Dann setze ich die Arbeit in der Kabine fort. Jutta geht irgendwann schlafen und ich schreibe noch ein paar Stunden in die Nacht hinein. Es läuft gut und ich komme in den Flow. Bevor ich diese Sitzung beende, gibt es noch einen kleinen White Russian und ein letztes Bier, dann fahre ich den Laptop runter. Die Uhr auf dem Screen zeigt 6:29 Uhr an. Jetzt mache ich mich bettfertig.

Nachtschicht beendet

Ans Auschecken heute ist nicht zu denken. Nicht nach der Nachtschicht und niemals bis elf Uhr. Jutta hängt noch eine weitere Nacht auf dem Tall Chief Campingplatz dran. Heute ist chillen angesagt. Nachdem ich ausgeschlafen und reichlich schwarzen Kaffee konsumiert habe, gehe ich mit Tablet, Handy und Laptop ins Kaminzimmer mit Internetempfang, um nötige Updates zu machen. Steckdosen sind hier vorhanden und ich habe für alle Geräte Ladekabel und Adapter mit dabei. Um die Wartezeit zu überbrücken, schreibe ich einfach weiter. Das Zimmer ist rustikal eingerichtet, ein Billardtisch steht vor dem Kamin und draußen ist ein Swimmingpool. Da niemand im Pool schwimmt, wird er wohl nicht beheizt sein, nehme ich an. Hier im Kaminzimmer bin ich alleine. Draußen sitzt jemand auf einer Bank vor dem Fenster und ist mit seinem Smartphone beschäftigt. Der wird wohl auch wegen des freien Wlans dort sein. Als alle Updates auf den Geräten fertig sind, machen wir einen kurzen Mittagsschlaf und gönnen uns den Rest des Tages eine Pause. Es sind keine weiteren Aktivitäten geplant, außer lesen, spielen, faulenzen und zum gemütlichen Abschluss einen Film schauen. Aber der Wald und Bobs Präsenz ist ständig spürbar und verfolgt uns bis in unsere Träume…

Kaminzimmer

….mitten in der Nacht schrecke ich hoch, weil jemand an die Tür klopft. Jutta hört es nicht und schläft tief und fest weiter. Wer zum Teufel macht denn sowas? Wer klopft mitten in der Nacht an die Türe? Vielleicht die Nachbarin aus dem Wohnwagen? Ihr Auto war den ganzen Tag nicht da, ist sie jetzt etwa zurückgekommen und hat Probleme? Ich klettere leise und vorsichtig aus dem Bett ohne Jutta zu wecken und drehe am Türknauf. Die Dreipunktverriegelung zieht sich zurück und ich kann die Tür öffnen. Dann sehe ich in eine grinsende Fratze und große weit aufgerissene, rollende Augen. Lange graue Haare hängen wirr vor dem Gesicht. Bob steht vor der Tür und hält eine Axt drohend in der rechten erhobenen Hand. Er fletscht die Zähne und Speichel rinnt aus seinem Mund. Ich zucke schockiert zurück, dann klopft mir jemand von hinten auf die Schulter. Jutta steht mit irrem Blick hinter mir und sagt: „Willst du unseren Gast nicht herein bitten?“ …

Dann wache ich schweißgebadet auf und vermute das alles nur ein Traum war. Ich orientiere mich kurz in der Dunkelheit und höre Jutta leise aber gleichmäßig atmen. Nur ein verdammter Traum, weiter nichts. Nur ein Albtraum. Unruhig schlafe ich wieder ein.

Morgens beim Kaffee frage ich Jutta, ob sie gut geschlafen hat. Sie antwortet: „Etwas unruhig, aber auch nicht schlecht. Und wie war deine Nacht?“ „Ganz gut!“, sage ich. Wir frühstücken und packen zusammen, denn bis elf Uhr müssen wir auschecken. Das Auto unserer Nachbarin ist immer noch nicht wieder da.

Routiniert und zügig läuft der Prozess des Zusammenpackens ab, so oft schon haben wir auf dieser Reise irgendwo unsere Sachen gepackt. Die Handgriffe sitzen und jeder weiß was zu tun ist. Fast pünktlich um elf Uhr melden wir uns bei der Rezeption ab. Wir wollten noch duschen in der Sanitäreirichtung vom Campground und ich brauche etwas länger als Jutta. Genervte Blicke treffen mich, weil ich fünf Minuten zu spät aus den Waschräumen komme, aber ohne Problem verlassen wir den Tall Chief Campground.

Wir wollen die Straße aus der Anfangssequenz der Serie suchen, an der das Twin Peaks Schild steht. Leider steht es schon seit Jahren nicht mehr dort, das hat Jutta bereits recherchiert. Einmal sei es geklaut und einmal überfahren worden, sagen die Leute. Nun bringen sich die Fans teilweise eigene Schilder mit, um den Filmvorspann nachzustellen.

Szene aus der Anfangssequenz von Twin Peaks

Auf den Weg machen wir uns trotzdem und suchen die Straße und die exakte Stelle, an der das Schild gestanden hat. Einige Anhaltspunkte haben wir, zum Beispiel den Straßennamen und wir wissen auch, dass die Aufnahme vor einer Linkskurve, dicht am Fluss entstanden ist und die Zwillingsberge dahinter zu sehen sind. Dann sehen wir noch ein paar Strommasten und Bäume in der Filmsequenz auf dem Mobilphone. Leider ist die SE Reinig Rd. ziemlich lang und die Spurensuche entwickelt sich zu einem Detektivspiel. Aber ich bekomme immer mehr Spaß dabei und unser Ehrgeiz wächst, die genaue Stelle zu finden. Aufgeben kommt nicht in Frage. Wir haben den ganzen Tag Zeit. Denn außer, dass wir heute Abend in eine Bar gehen wollen, haben wir nichts weiter auf dem Zettel. Koordinaten haben wir nicht gefunden im Internet und eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, denn das wäre zu einfach. Hin und wieder halten wir an und vergleichen die eingefrorene Videosequenz auf dem Handy mit der realen Umgebung und dann bin ich mir sicher: Das ist es! Genau hier muss die Kamera für die Filmaufnahme gestanden haben. Ich mache ein Foto und versuche eine identische Kopie des Filmausschnittes von vor 27 Jahren zu schießen und es gelingt mir ziemlich gut. Wir sehen die Linkskurve und die Berge in dichten Wolken dahinter. Sogar die Strommasten sind noch da, nur das Ortsschild fehlt. Überglücklich und zufrieden fahren wir weiter. Wir müssen noch tanken, der Diesel ist sogar wieder etwas bezahlbarer geworden. Dann machen wir noch einige Einkäufe im Safeway und hängen einen kleinen Mittagsschlaf hinten dran. Ich esse heute gegrilltes Hühnchen aus der Wärmetheke vom Safeway, Jutta wählt was vegetarisches aus der asiatischen Auslage.

Parkplatz beim Safeway Supermarket

Nach dem späten Mittagschlaf trinken wir noch einen Kaffee und dann steht der Abend vor der Tür. Wir gehen ins Pour House Bar & Grill. Dort werden wir einen super Abend haben und eine tolle Begegnung mit einem großartigen Menschen, mit Kimble.

Es geht vorbei am Diner, dann nur kurz links abbiegen und schon sind wir da. Wir passieren das Motel, in dem wir damals gewohnt haben und stellen fest, dass die Bar gegenüber, in der wir vor unendlichen Zeiten Billard gespielt haben, nicht mehr existiert. Ich muss kurz daran denken, wie es damals war, als wir in diese Billardbar gekommen sind. Wie gesagt, sie war direkt gegenüber von unserem Motel und wir wollten noch was trinken gehen bei unserem ersten Twin Peaks Besuch.

Als wir die Bar betreten haben war wenig los, nur ein wohlbeleibter Geschäftsmann saß am Tresen. Er hatte einen maßgeschneiderten Anzug an und aus der Musicbox kam guter Rock’n’Roll. Der Billardtisch war frei und auch am Tresen war reichlich Platz, so dass wir erstmal dorthin gingen. Wir nickten dem Businessman zu und der Barkeeper kam zu uns rüber. Ich bestellte zwei Pabst Blue Ribbon und er fragte tatsächlich nach unseren Ausweisen. Wir waren beide über 30 Jahre alt und fühlten uns sehr geschmeichelt. Nachdem wir unsere Reisepässe präsentiert hatten und der Barkeeper sich vergewissern konnte, dass wir in einem trinkfähigem Alter sind, war er bereit uns etwas auszuschenken. Der dicke Geschäftsmann am Tresen neben uns hat das natürlich alles mitbekommen. Er lachte als er sah, wie wir uns freuten und wollte dann die erste Runde übernehmen, da wir ja offensichtlich alt genug waren, um Bier in einer Bar zu trinken. Danach entwickelte sich eine angenehme Unterhaltung und wir plauderten eine Weile, bevor wir unsere Zeit dann dem Billardtisch und der Musicbox widmeten.

Jetzt parke ich ganz hinten auf dem Parkplatz vom Poor House Bar & Grill. Wir wollen fragen, ob wir die Nacht über bleiben dürfen. Es wäre auch nicht wirklich weit vom Safeway hierher zu laufen, aber so ist es komfortabler und wir müssen nicht mitten in der Nacht zu Fuß und wahrscheinlich angetrunken zurückmarschieren. Es ist nicht sicher des Nachts in den Wäldern und auf den Straßen von Twin Peaks. Böse Geister sollen unterwegs sein, wenn rechtschaffende Leute friedlich schlafen.

Parkplatz vom Poor House Bar & Grill

Wir gehen rein und der Laden ist relativ voll. Die Stimmung ist ausgelassen und sogar die Musik ist richtig gut. Als erstes gehen wir an die Bar um zu fragen, ob wir die Nacht hinter dem Haus stehen bleiben dürfen. Wir kennen das bereits und wie üblich heißt es: „Da muss ich erstmal fragen!“ Die Barfrau geht zu einem der Stehtische mitten in der Bar und fragt den Barbesitzer. Er schaut rüber zu uns, während sie mit ihm spricht, nickt dann und sie kommt zurück, um uns die positive Botschaft zu verkünden. Ich bestelle zwei Pabst Blue Ribbon und wir gehen eine halbe Etage höher zu den beiden Billardtischen.

Pour House Bar & Grill

Von hier können wir die gesamte Bar überblicken und aus dem Fenster sehen wir die überaus präsenten Berge, die dem Ort Twin Peaks den Namen geben. Der hintere Tisch ist belegt, aber der Vordere ist frei. Ich frage Jutta, ob sie mit mir spielen will und sie sagt ja. Auf riesigen Flat Screens laufen stumm verschiedene Sportprograme. Wir spielen Billard und trinken ein paar Bier dabei. Zwischendurch bestellen wir etwas Fingerfood und spielen dann weiter. Gäste kommen und gehen. Die Stimmung ist hervorragend und an der Musik gibt es nichts zu meckern, obwohl ich noch nicht einen Dollar investiert habe. Jutta spielt heute richtig gut, sie locht verlässlich und hat so natürlich richtig Spaß. Sie gewinnt sogar auch mal eine Runde. Nebenan sitzt ein Pärchen bei Bier und Burgern. Der Typ schaut uns beim Spielen zu, seine Freundin sitzt mit dem Rücken zu uns. Wir haben bereits etliche Partien hinter uns und Jutta verliert langsam die Lust. „Komm schon, eins noch!“, sage ich. „Du bist doch super in Form heute!“ „Na gut, danach ist aber echt Schluss!“

Pour House Bar & Grill

Ich gewinne das letzte Spiel und kann Jutta nicht mehr rumbekommen noch weiterzumachen. Wir setzen uns oben an die Seite an eine Art Tresen, stellen die Biergläser vor uns ab und schauen von dort auf das Treiben unten an der Bar. Kurz darauf tickt mich jemand von hinten an und ich drehe mich um. „Hi, ich habe euch beim Billard zugeschaut und mich gefragt, ob du mit mir eine Runde spielen willst!“ Ich gucke Jutta an und sie nickt zustimmend. Froh über eine weitere Runde und sage ich: „ Yes, of course, why not?“

„My name is Kimble.“, sagt er dann und ich stelle mich ebenfalls vor. Er ist mir auf Anhieb sympatisch. Wir verständigen uns über das Reglement, denn das ist sehr unterschiedlich auf der großen weiten Welt. Wir spielen die in Europa geläufigen Eight Ball Regeln, halten uns aber nicht konsequent daran. Aus Asien kenne ich die englische Version, dass bei einem Foul der Gegner „two shots“ hat. Das bedeutet, er kann (nach einem verschossenen Ball nochmal stoßen. Er kennt es so, dass jeder Stoß angesagt wird und wir bei einem Foul „Ball in Hand“ anwenden. Ich möchte nach seinen Regeln spielen, da wir in Amerika sind und Gäste hier, aber davon will er nichts wissen. Kimble besteht darauf nach meinen Regeln zu verfahren. Er bezahlt die Tischgebühr von einem Dollar. So ist es international üblich, wenn ein neuer Spieler an den Tisch kommt und den Gewinner der vorherigen Partie herausfordert.

Dann geht es los. Von Anfang an sind wir auf einer Wellenlänge und haben Spaß am Tisch. Nebenbei unterhalten wir uns prächtig, obwohl mein Englisch immer noch zu wünschen übrig lässt. Ich gewinne das erste Spiel und er kramt nach einem Dollar für die nächste Partie. Seine Freundin sitzt an ihrem Tisch und schaut zu. Jutta sieht von ihrem Platz aus zu. Ich frage, ob alles ok ist für sie und Jutta bestätigt. Ich bestelle mir ein neues Bier und frage Kimble, ob er auch noch eins möchte, aber er verneint. Wir spielen die zweite Runde und er spielt gut, aber ich habe scheinbar einen Lauf, mir gelingt fast alles. Ich bin entspannt und es ist mir egal, ob ich gewinne oder verliere.

Das ist oft der Schlüssel beim Billard. Man verliert, weil man sich Druck macht und zuviel denkt. Ich denke heute nicht nach über das was ich tue. Ich spiele und genieße die gute Zeit, die wir haben. Kimble macht einen grandiosen Stoß, er locht die Zielkugel über Bande und eine weitere Kugel, spielt also eine Kombination. Dann will er mir den „Ball in Hand“ geben, weil er das nicht vorher korrekt angesagt hat, es also für ihn ein Foul ist. Ich teile ihm mit, dass das auf keinen Fall in Frage kommt, denn er hat einen grandiosen Stoß abgeliefert. Er verliert die zweite Runde trotzdem und wirft erneut einen Dollar in den Schlitz.

Jetzt erfahre ich noch einiges mehr über Kimble und seine Freundin. Sie haben ihre Steuern für das ganze Jahr bezahlen können. Deshalb sind sie heute hier, um das mit einem Burger und etwas Bier zu feiern. Ich verstehe leider nicht jedes Wort, das er sagt, aber der Sinn kommt einigermaßen verständlich rüber. Ich kenne das Steuersystem in den USA nicht. Aber vielleicht ist er selbstständig und musste einen Haufen Geld an das Finanzamt zahlen. Ich frage nicht nach, aber mir dämmert es immer mehr, dass Kimble heute eine große Last von der Schulter genommen wurde, weil er Steuerschulden begleichen konnte. Er hat sich mit seiner Freundin einen Burger, ein paar Bier und einige Runden Billard geleistet.

Kimble verliert auch diese Runde und will sich verabschieden. Ich sage: „Lass uns doch noch weiter spielen, es macht doch so einen Spaß! Jetzt kommt er raus damit, dass er kein Geld mehr hat.

Spookie Night in Twin Peaks

Obwohl ich anbiete den Tisch und die nächsten Drinks zu bezahlen, lehnt er ab. Seine Freundin langweile sich schon und sie möchten lieber gehen, bringt er als Vorwand. Ich bin sicher er würde gerne noch bleiben und weiter Billard spielen, aber es ist ihm unangenehm das er pleite ist.

Mir wird klar, dass ich ihn nicht umstimmen werde und bedauere, dass ich nicht früher begriffen habe, in welcher finanziellen Lage er sich befindet. Dann hätte ich vorher am Tisch verloren und unaufgefordert Biernachschub für alle geholt. Jetzt müssen wir uns verabschieden und ich werde Kimble noch sehr, sehr lange in meiner Erinnerung behalten und immer mit Freude und etwas Wehmut an einen unvergesslichen Abend in Twin Peaks zurückdenken. Ich hoffe darauf ihn eines Tages wiederzusehen. Vielleicht sogar genau hier in Twin Peaks, im Poor House Bar & Grill.

Ich fühle mich gerade nicht besonders gut, weil ich die Situation mit Kimble falsch eingeschätzt und auch noch Jutta lange Zeit vernachlässigt habe. Sie empfindet das aber nicht so und war froh, dass ich noch jemanden zum Billardduell hatte und in der Bar gab es auch genug für sie zu sehen. Ich hole mir ein Bier, Jutta will noch ein Ginger Ale. Schweigend trinken wir aus und jeder hängt seinen Gedanken nach. Dann gehen wir raus auf die Straße, um zum Parkplatz zu gehen. Es hat geregnet und der Vollmond blickt durch ein winziges Wolkenloch am schwarzen Himmel auf die Erde hinab. Nur wenige Sterne sind am Nachthimmel zu erkennen. Der Anblick ist magisch und ich zücke mein Handy um diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Ich bin überzeugt davon, so etwas gibt es nur hier, hier in Twin Peaks. Wir gehen einmal ums Haus herum, auf den Parkplatz zu LEMMY und während Jutta im Bad ist, hole ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank….

Night in Twin Peaks

„…Hannah Montana does the african savannah….“

Jutta ist längst wach, als ich langsam zu mir komme. Ich habe Brand und Bock auf ein deftiges Frühstück. Ohne vorher Kaffee zu kochen fahren wir die zwei Minuten zum Diner, um dort zu frühstücken. Wir bestellen ein „American Breakfast“mit Hash Browns, Scrambled Eggs, Toast, Butter & Jam. In dem Moment, als das Essen serviert wird, bereuen wir bereits, dass wir uns nicht eine Portion zum Teilen bestellt haben. Die Teller sind riesig und die Portionen überaus üppig. Aber wir haben Zeit heute, Kaffee wird ständig nachgeschenkt und auch Wasser aus der Karaffe kommt nicht zu kurz und ist umsonst. Trotzdem müssen wir am Ende noch eine große Portion Hash Browns im Doggy Bag mitnehmen. Nach dem Frühstück werden wir noch überrascht von einen langsam vorbeifahrendem Zug, direkt hinter dem Diner, wo wir heute geparkt haben. Spokane – Portland – Seattle steht dort an den Wagons. Mit diesen Eindrücken fahren wir wieder in den Wald mit den Douglasien und werden uns wundern, was uns dort erwartet.

American Breakfast im Double R Diner

Wir lassen das Roadhouse hinter uns und fahren immer weiter in den Wald hinein. An der Rezeption vom Tall Chief Camp fragen wir, ob unser Stellplatz vom letzten Mal noch frei ist. „Unfortunatly not!“ , bekommen wir zu hören. Wir sollen uns einfach einen freien Platz aussuchen, wie beim ersten Mal. Also gut, kein Problem. Wir entscheiden uns wieder sehr schnell, nach einer Runde sind wir uns einig, wo wir LEMMY abstellen wollen. Unser Platz vom letzten Besuch ist mit einem Schild blockiert, „RESERVED“, steht darauf. Der PKW unserer alten Nachbarin, die mir ihr ganzes Feuerholz geschenkt hat, steht auch wieder vor ihrem Wohnwagen. Wir haben jetzt einen Stellplatz etwas weiter hinten im Wald. Hier gefällt es uns sogar noch besser als auf dem Platz, wo wir davor gestanden haben. Wir befinden uns noch weiter abseits und die Nachbarn sind viel weiter entfernt, als vor zwei Tagen. Dann geschieht etwas sehr Seltsames, was wir bis heute nicht erklären können.

Tall Chief Campground

Unsere alte Nachbarin kommt angelaufen, ruft und teilt uns mit, dass sie doch für uns den Platz neben sich freigehalten hat. Ich stehe gerade unter der Dusche im Camper und bekomme alles nur so am Rande mit. Jutta ist es, die mit ihr kommuniziert. Ich spüre aber total ihre Verunsicherung. Die Nachbarin fordert uns auf, dass wir uns wieder neben sie stellen. Ich melde mich hinter dem Duschvorhang und rufe Jutta zu: „Wir wollen lieber hier bleiben, weil der Platz total super ist und wir LEMMY bereits ausgerichtet haben.“ Mir gefällt der Platz tatsächlich besser als der vorherige. Unsere alte Nachbarin bettelt fast. Wir sollen uns wieder neben sie stellen, sie habe ihn ja schließlich für uns reserviert. Aber mir ist das alles zu suspekt. Ich rufe Jutta aus der Dusche zu, dass wir um jeden Preis hier stehen bleiben werden. Mir ist vollkommen klar: Ich stoße sie damit vor den Kopf. Aber ich habe einfach zu viele unbeantwortete Fragen. Wieso hat sie den Platz für uns freigehalten? Sie konnte nicht wissen, dass wir überhaupt wieder kommen werden. Reservierungen werden auf diesem Campingplatz gar nicht gemacht. Trotzdem steht dort auf dem Stellplatz, wo wir vor zwei Tagen waren ein „RESERVED“ Schild. Aber beim Check In hat uns niemand gesagt, dass es für uns eine Buchung gibt. Sie kennt nicht mal unseren Namen.

Nachdem sie mir ihr Feuerholz geschenkt hat war sie verschwunden. Naja vielleicht nicht verschwunden, aber sie war nicht mehr da. Sie war mit ihrem PKW weggefahren und taucht dann plötzlich wieder auf, als wir zurückkehren? Hat einen Platz für uns reserviert, obwohl sie uns nicht kennt und nicht wusste, dass wir noch einmal wieder kommen werden? Wir bleiben auf unserem Stellplatz, sehen die merkwürdige Nachbarin (vielleicht eine Enkelin der Log Lady?) nicht wieder und wissen bis heute nicht, wie das Ganze zu erklären ist.

Irgendwie ist mir sowieso, als ob hier in Twin Peaks Zeit und Raum verschwimmen. Mal denke ich wir sind zwei Tage im Wald und dann kommt es mir vor, als sei ich für Wochen von der Bildfläche verschwunden. Was geht hier vor? Ich komme nicht dahinter. Ich versuche unsere Tagesroutine durchzuziehen. Mal sehen was uns heute bevor steht….

Best Coffee in Town

„…hannah montana does the african savannah…..“

Wir bleiben im Wald und halten uns dicht am Lagerfeuer. Kontakte mit anderen Insulanern werden vermieden. Alles hier ist unheimlich und wir wollen das Land demnächst verlassen. Eine unruhige Nacht steht uns bevor. Bob wird uns auflauern, wir versuchen uns zu schützen so gut es geht. Ich höre ihn kommen, durch den Wald, im Wind. Er kommt immer näher. Das Feuer wird uns schützen, das ist meine einzige Hoffnung. Ich höre das Knacken der Äste, höre wie sie brechen, wenn er drauftritt und kommt, um uns zu holen. Er kommt näher, immer näher und die Eulen sind nicht was sie scheinen. Sie rufen ihren Eulenruf, um uns zu warnen, aber es ist zu spät….

Wir haben keine Ahnung, was da letzte Nacht los war und wie das mit unserer Nachbarin zuging. Wir können nur spekulieren. Lange Zeit noch haben wir gerätselt und uns den Kopf zerbrochen, wie das alles sein konnte. Aber zu einem schlüssigen Ergebnis sind wir nie gekommen. Eines allerdings weiß ich: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir je begreifen können.

Wir verlassen den Tall Chief Campground und fahren auf den Snoqualmie Pass in den Schnee, weit nach oben. Dort oben soll Bob uns nicht finden…

…ich mache keine Fotos. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, LEMMY auf den glatten und verschneiten Straßen zu steuern und Bob zu entkommen. Wir wollen nach Kanada, dort soll es sicherer sein. Mein Herz blutet, denn eigentlich könnte ich in Twin Peaks leben. Ich mag dieses Flair, die rauhe Natur und diesen Zusammenhalt der Gemeinschaft und das ganze Kleinstadtleben. Aber unsere Zeit hier neigt sich dem Ende.

Mysterious Twin Peaks

Wir nehmen auf dem Weg raus aus der Stadt einen letzten Black Coffee im Double R. Da gibt es aber leider noch eine kleine negative Anmerkung, nach all dem Twin Peaks Fan – Ding. Das neue, junge Team im Diner macht einen guten Job und auch der Kaffee und der Kirschkuchen ist ganz fantastisch. Aber es steckt keine „Twin Peaks – Leidenschaft“ mehr in dem Cafe, kein Herzblut. Das neue Team führt einen Laden, aber sie verfehlen ihren Auftrag, wenn es darum geht den Kult am Leben zu erhalten.

Buy bye Twin Peaks

Ich genieße trotzdem die letzte „damn fine cup of coffee“ im Double R Diner. „But tomorrow I´ll have my coffee flat white again….“

Wir verlassen Twin Peaks, aber eins sage ich euch: „Twin Peaks & Rock ‚N‘ Roll will never die!“

„….fire walk with me….“

….und was als Nächstes geschieht….

...GOING TO CANADA, INTO THE WILD…

…und wie wir in Vancouver in eine Kolonie der lebenden Toten geraten…

Chapter 23 – San Francisco, viel mehr als Golden Gate Bridge und Hippie Kult

…und wie wir uns in die Straßen von San Francisco verlieben…

Unser Ziel ist San Francisco, allerdings fahren wir nicht den direkten Weg. Wir wollen uns Zeit lassen und noch Einiges unterwegs mitnehmen. Unter Anderem wollen wir in das wunderschöne kalifornische Weinanbaugebiet um Santa Barbara fahren und die Gegend erkunden, wo „SIDEWAYS“ gedreht wurde. Das ist ein Film, den wir beide gleichermaßen lieben, aber dazu später mehr.

Zuerst wollen wir zu den Miracle Hot Springs an den Kern River fahren. Das sind etwas über 280 Meilen und ca. fünf Autostunden ohne Pausen. Aber dafür geht es noch eine ganze Weile durch die Wüste und dann später über die California State Route 178. Dies ist eine traumhafte Strecke durch die Berge, vorbei am Isabella Lake und immer mal wieder am Kern River entlang. Inmitten hoher Schluchten links und rechts, entschädigt uns das mit tollen Ausblicken für den langen Fahrtag.

Nach einigen Stunden Fahrt wird es deutlich kühler und uns wird klar, die Wüste liegt mittlerweile weit hinter uns. Vor uns liegt der Kern River und Jutta weiß einen Stellplatz der nichts kostet, der schön gelegen ist und wo es Hot Springs gibt, die noch nicht finanziell von irgendeinem Investor ausgebeutet werden.

Miracle Hot Springs

Am späten Nachmittag müssen wir noch eine kurvige Bergstraße rauf fahren und dann sind wir da. Es gibt einen Campingplatz, der jedoch Ende März noch nicht geöffnet ist. Kurz dahinter sehen wir einige andere Camper, die am Uferhang des Flusses verteilt stehen. Direkt vor uns steht ein großer gelber Schulbus, der zum Reisemobil umgebaut wurde. Ich finde hinter ihm ist noch genug Platz, so dass ich LEMMY direkt dahinter abstelle. Dann sehe ich einen Kopf im gelben Bus von unten auftauchen. Unsere Ankunft ist nicht unbemerkt geblieben und vermutlich habe ich da gerade jemanden aus seinen Träumen gerissen. Ich denke mir nichts weiter dabei, rangiere zu Ende, so dass ich einigermaßen in Waage stehe. Für eine Nacht ist das gut so, befinden Jutta und ich. Diverse Schilder weisen darauf hin, das Overnight Parking verboten ist. Wir nehmen allerdings an, dass es geduldet wird, solange der benachbarte Campingplatz geschlossen ist.

Es ist noch nicht zu spät für Kaffee und etwas Gebäck haben wir auch noch im Gepäck. Jutta freut sich über die Temperatur von knapp 20° Celsius. Für mich könnte es gerne wärmer sein, aber da die Sonne scheint, bin ich zufrieden. Ein großer Motor springt an und ich sehe wie der gelbe Bus sich in Bewegung setzt. Ich nehme an, eine imaginäre Grenze übertreten zu haben und in die Privatsphäre eines Anderen eingedrungen zu sein. Das war nicht meine Absicht. Ich fühle mich ein wenig unwohl dabei, jemandem zu dicht auf die Pelle gerückt zu sein, aber ich dachte, hier ist mehr als genug Space für beide Fahrzeuge. So sind die Befindlichkeiten halt bei Jedem anders und mein Unwohlsein hält sich in Grenzen und ist mit dem frischen Kaffee schnell vergessen. Wir genießen den Ausblick über den Fluss und durch die wilde Berglandschaft von unserem Stellplatz aus und freuen uns, so einen tollen Übernachtungsplatz gefunden zu haben, an dem wir frei stehen können.

Ganz in der Nähe gibt es einen anderen Campingplatz, der auch jetzt schon geöffnet ist. Jutta ist nicht wirklich glücklich damit, hier entgegen der Verbotsschilder über Nacht zu stehen, obwohl wir bei weitem nicht die Einzigen sind. So verabreden wir, morgen nach dem Frühstück und einem Bad in den Miracle Hot Springs weiter zu fahren.

Morgenkaffee am Kern River

Die Nacht verläuft ruhig und unbehelligt von irgendwelchen Rangern starten wir in den Tag. Den Morgenkaffee und unser Müsli genießen wir am Fluss und kurz darauf spazieren wir nur wenige 100 Meter zu den Hot Springs. Eine Badehose habe ich mir bereits angezogen, noch eine Flasche Wasser und ein Handtuch über der Schulter, mehr brauche ich nicht.

Nach wenigen Gehminuten sehen wir bereits die kleinen Pools. Die meisten sind bereits besetzt, zum Teil von zwei bis drei Leuten, die wohl zusammen gehören. Aber in einem ist noch niemand. Den beabsichtige ich für mich zu beanspruchen. Jutta will nicht in das heiße Wasser, weil sie Kreislaufprobleme befürchtet. Ich schlüpfe nur schnell aus den Latschen, T-Shirt und Hose aus und nichts wie rein in das heiße Vergnügen.

Ungefähr 38° Badetemperatur

Die anderen Badegäste sprechen alle spanisch und scheinen in einer größeren Gruppe oder Familie hier zu sein. Sie begrüßen uns sehr freundlich und während Jutta es sich auf einem Felsvorsprung bequem macht, steige ich in diesen Jungbrunnen. Es fühlt sich großartig an und ich beginne sofort zu schwitzen und der Schweiß rinnt mir von der Stirn. Schwitzen ist doch was Gutes, denke ich, aber nach einigen Minuten ist mir nach einer Abkühlung. Warum also nicht mal eben in den Fluss wechseln? Ich muss nur kurz über den Rand meines Pools steigen. Dann vorsichtig, ohne abzurutschen, auf der anderen Seite einen Meter weiter runter klettern, um in das erfrischende Nass des Kern River zu gelangen.

Abwechselnd heiß und kalt, mal Wanne mal Fluss

„Wow, fühlt sich das gut an!“, sage ich zu Jutta. Eben noch so um die 38° warmes Wasser, jetzt eine sehr frische, aber angenehme Abkühlung. Diesen Vorgang wiederhole ich drei oder viermal, bis mir dann tatsächlich richtig schwindelig wird. „Jetzt ist es aber Zeit, dass Du da raus kommst.“, meint Jutta und ich gehorche.

Langsam und vorsichtig steige ich aus dem heißen Wasser, trockne mich ab und mache eine kurze Pause bis mir nicht mehr schwindelig ist. Dann machen wir uns auf den Weg zum Auto. Eine andere Gruppe kommt uns entgegen, sie sprechen ebenfalls spanisch. Die Miracle Hot Springs scheinen beliebt zu sein bei den Hispanics. Es werden freundliche Grüße ausgetauscht und ein paar Worte gewechselt, dann geht jeder seines Weges.

Jutta ist der Meinung ich sollte mich besser eine halbe Stunde hinlegen nach dem Wechselbad und ich finde, dass ist eine super Idee. So wurde es auch schon auf meinen orthopädischen Rehas gemacht, von denen ich Einige hinter mir habe, wegen mehrerer Bandscheibenvorfälle und eines üblen Motorradunfalls. Nach der heißen Packung oder dem Entspannungsbad war da auch immer eine Ruhepause im Anschluss verordnet.

Nach der kleinen Pause und dem anregenden Morgenprogramm geht es dann los. Wir fahren nicht mal eine Stunde und erreichen den Kern River Campingplatz. Er ist sehr weitläufig und mit viel grüner Wiese an beiden Seiten des Flusses. Das Einchecken erledigt Jutta online, da die Rezeption noch unbesetzt ist. Mehr gibt es hier nicht zu sagen. Wir machen ein kleines Barbecue am Abend, relaxen und freuen uns auf den Pismo Beach und den Pazifik.

Am nächsten Morgen werden wir an der Dump Station beim Ablassen des Grauwassers von einem anderen Camper angesprochen. Er ist sehr an unserem Fahrzeug interessiert und wie üblich erzählen wir bereitwillig alles, was er wissen will. Er kommt aus Montana und betreibt dort eine große Pferderanch. Als wir auf unsere Route zu sprechen kommen, gibt er uns den Tipp, unbedingt über Brookings zu fahren, dort sei es traumhaft. Brookings liegt direkt an der Westküste hinter der Landesgrenze von Kalifornien nach Oregon. Wir bedanken uns herzlich für diesen Insidertipp und machen uns auf den ca. dreieinhalbstündigen Weg an den Pismo Beach. Dort dürfen wir direkt auf den Strand fahren, um zu campen. Das wollte ich immer schon mal machen. In Florida am Daytona Beach haben wir es versäumt, hier können wir es endlich nachholen.

Pismo Beach, Oceana

Vier Stunden später kommen wir an. Bakersfield und San Luise Obispo liegt hinter uns. Es ist fast egal, wo in Kalifornien man unterwegs ist. Überall gibt es etwas zu sehen und die Strecken, die wir fahren sind nie eintönig oder langweilig. Im Gegenteil, die Abwechslung ist überwältigend und aus gutem Grund ist Kalifornien mein Lieblings-US-Bundesstaat. Wir fahren durch Wüsten, über hohe Bergpässe, durch Canyons, vorbei an reißenden Flüssen oder großartigen Seen. Dann sehen wir wieder endlose Flächen Weideland und auch die ersten Weinanbaugebiete in einer grünen Hügellandschaft werden durchquert.

Und dann ist er wieder da, der pazifische Ozean. Mein Lieblingsweltmeer taucht auf hinter einer Bergkuppe. Kurz darauf stehen wir an einem kleinen Kassenhäuschen, wo wir die Parkgebühr für den Strand bezahlen und damit die Erlaubnis erwerben, hier zu übernachten.

Stellplatz am Strand

Jutta hat etwas Bedenken, weil der Strand für ATVs freigegeben ist und eine richtige kleine Rennstrecke hat. Sie fürchtet es könnte den ganzen Tag sehr laut sein und dass die Kids unkontrolliert zwischen den Campern umherbrettern. Nun, wir werden es jetzt heraus finden.

Zunächst macht alles einen sehr gesitteten Eindruck und wir fahren erstmal etwa 2 Kilometer über den Strand, bis der Abschnitt beginnt, auf dem die Caravans, die Camper und auch Renncrews stehen. Ich will mir einen Eindruck verschaffen und fahre einmal den gesamten Strandabschnitt ab, soweit es eben erlaubt ist. Dabei schauen wir schon, wo wir auf dem Rückweg stehen wollen. Ich sehe eine große Lücke und schlage vor, dort gleich das Lager aufzuschlagen. Jutta ist einverstanden.

Soviel ist hier gar nicht los. Einige Kinder, ich würde sagen alle Altersstufen von 6 – 16 Jahren sind vertreten, fahren mit kleinen Motorrädern, mit Quads oder selbstgebauten Strandbuggys. Die Rennstrecke sind im Grunde zwei Geraden, eine nah an der Wasserkante, dann kommt eine Kurve und zurück geht es bis vor den Dünen. Die sind (Gott sei Dank) aus Naturschutzgründen abgesperrt. An den Dünen geht es dann in die entgegengesetzte Richtung, bis zur zweiten Kurve, die wieder an den Ozean führt.

Genau dazwischen sind die Rennteams und auch wir, die Camper. So laut ist es überhaupt nicht, das Rauschen des Meeres ist viel dominanter als die schwachen Motoren der kleinen Rennkisten. Ich wende, schwer begeister hier fahren zu können, und fahre zurück zu der ausgewählten Stelle, an der wir für zwei Tage bleiben wollen. Auf dem Rückweg nutze ich die ganze Breite des Strandes und fahre über den festen Sand nah am Pazifik und dann wieder hoch zum weichen Sand vor den Dünen. Auf Sand fahren macht mir richtig viel Spaß und ich könnte gut noch zwei Stunden so weiter machen, aber Jutta möchte gerne ankommen.

Im Hintergrund, festgefahrener Caravan

Wir finden die große Lücke und platzieren LEMMY quer zum Meer, so dass wir eine klasse Aussicht haben. Hinter uns steht ein Caravan ziemlich schräg im Sand. Der hat sich wohl festgefahren und es ist niemand in Sicht, der Anstalten macht, den Wohnwagen dort wieder raus zuziehen. Ich denke, vielleicht sind sie unterwegs, um ein größeres Auto zu holen. Aber eigentlich gibt es doch hier genug Leute, die helfen könnten und würden, da bin ich mir sicher. Ich selber würde nicht zögern, sollte man mich um Hilfe bitten. Na egal, wir breiten uns aus und machen einen ausgiebigen Strandspaziergang, bevor die Sonne hinter dem Meer verschwindet.

Teil der Rennstrecke

Am Abend planen wir, vor einer Landkarte sitzend, grob die nächsten Tage. Jutta hat bei „iOverlander“ einen freien Stellplatz gefunden, der als Ausgangspunkt dienen soll für den nächsten Tag, an dem wir Santa Barbara erreichen wollen. Der Arroyo Hondo Vista Point liegt direkt an der legendären Route 1, die später in die 101 mündet. Das ist die Straße, die an der ganze US Westküste entlang führt und oft in weiten Teilen dicht am Ozean verläuft. Häufig geht es dabei auch rauf und runter durch die Berge, vorbei an steilen Klippen und rauen Felsen, die aus dem Meer ragen.

Spaziergang am Pismo Beach

Dabei werden uns immer wieder unglaubliche Ausblicke über das tobende Meer geboten, das wissen wir noch von unserer letzten California Tour.

Wir werden also bis zu diesem Vista Point fahren, dort die Nacht über stehen und am nächsten Tag einen Ausflug durch die südkalifornischen Weingebiete machen, durch das Santa Barbara Wine County. Den Abend und die Nacht verbringen wir dann in Santa Barbara.

Arroyo Hondo Vista Point

Der oscarprämierte Roadmovie „Sideways“ wurde zu großen Teilen in dieser Region gedreht und wir wollen uns einige der Drehorte ansehen und in die wundervolle Landschaft eintauchen. Dazu wird es sicher auch einen guten Wein geben und eine Lunchpause an einem der Weingüter. Der Rundkurs wird uns durch Santa Inez führen, durch Los Olivos, Buellton und Solvang. Letztgenannter Ort wurde 1911 von dänischen Einwanderern erbaut.

Im Film geht es übrigens um zwei Freunde, Miles und Jack. Miles ist Englischlehrer und ein erfolgloser Schriftsteller, der nicht mit der Trennung von seiner Frau klar kommt. Jack ist ein angehender Bräutigam, der noch mal so richtig die Sau raus lassen will, bevor er sich ewig bindet. Sie wollen gemeinsam eine Weintour machen und dabei den Junggesellenabschied feiern. Im Film wird eine Menge Wein getrunken und auch das eine und andere Abenteuer gibt es unterwegs zu bestehen. Miles ist der kultivierte Weinkenner, der versucht Jack in die Kunst des Wine Tasting einzuführen. Doch Jack ist eher daran interessiert betrunken zu werden und Spaß zu haben.

Der Film ist unglaublich gut und alle Jahre wieder schauen wir ihn uns an. Dazu gibt es selbstverständlich eine Flasche guten Wein, Käse und Cracker. Besonders herausragend wird der Film durch die Spielkunst von Paul Giamatti, der Miles als tragisch-komischen Verlierer verkörpert und Thomas Haden Church, als dessen Freund Jack, der unbefangen und das Lebenfeiernd agiert. Ich meine mal gelesen zu haben, dass der Verkauf von Pinot Noir nach dem Filmstart 2004 enorm gestiegen ist.

Soweit, so gut. Die Route für morgen und übermorgen steht. In Santa Barbara hat Jutta auch bereits einen Parkplatz gefunden, der sehr zentral gelegen und trotzdem kostenlos ist.

Der Zeit am Strand vergeht wie im Flug. Wir machen lange Spaziergänge, lesen und leben in den Tag hinein. Davon, dass hier eine Rennbahn um uns herum führt, ist kaum etwas zu spüren. Es sind nur wenige Kids unterwegs mit ihren motorisierten Mopeds und kleinen Quads oder Buggys. Und wenn sie an uns vorbei fahren, dann mit viel Abstand und meistens sehr vereinzelt. Im Sommer und an den Wochenenden wird vermutlich mehr los sein. Aber jetzt am Ende des dritten Monats ist es ruhig hier. Hin und wieder sehen wir Vater und Sohn, wie sie an den Rennmaschinen schrauben.

Einen großen Truck mit allerhand technischem Equipment, mit Fahnen und mit einer Imbissbude gibt es auch zwischen den ganzen Trailern, falls einem das Öl ausgeht oder der kleine Hunger kommt.

Einmal außen herum ist als Rennstrecke gekennzeichnet

Auschecken muss man erst bis 18:00. Das finden wir voll super, so können wir lange schlafen und ganz gemütlich in den Tag der Weiterreise starten. Bevor es allerdings weiter geht zum Arroyo Hondo Vista Point, lasse ich es mir nicht nehmen, noch einmal die gesamte Strecke über den Beach zu fahren, erst nach Süden soweit es erlaubt ist und dann zurück zum Exit Point. Dabei nutze ich wieder die ganze Breite, um den Untergrund zu fühlen, den harten und den weichen Sand, den trockenen und den feuchten Boden. Ich hoffe wir werden wieder einmal die Gelegenheit haben am Strand zu fahren und im Idealfall auch dort zu übernachten. Ich gucke in den Rückspiegel und denke mir beim Abbiegen auf die asphaltierte Straße: „Oceano und Pismo Beach, 10 von 10 Punkten. Check!“

Am frühen Nachmittag sind wir dann nach relativ kurzer Fahrt auch schon am Ziel. Die Strecke führt uns dabei schon mitten durch das Santa Barbara Wine County und die Ausblicke, die wir jetzt schon haben, machen Lust auf mehr. Das letzte Stück verläuft dicht am Pazifik, wo wir jetzt auch schon einen Platz für die Nacht gefunden haben. Andere Camper sind bereits hier und auch wieder einige Menschen, die in ihren Autos leben, stehen hier auf dem Parkplatz. Ein großer langgezogener Erdwall trennt die Parkbucht von der Route No. 1, so dass man gut und geschützt stehen kann. Mit Rückendeckung zur Straße auf der einen Seite und mit dem Pazifik auf der anderen Seite. Vor mir steht ein kleiner Kombi und im Inneren hockt ein junger Kerl. Das kann doch wohl nicht sein, dass so ein junger Mensch schon im Auto leben muss, oder?

Ich stelle unsere Stühle raus, damit wir noch den Sonnenuntergang bewundern können und er klettert aus dem Auto und kocht sich einen Kaffee auf seinem kleinen Gaskocher. Kurzer Blickkontakt, Begrüßung und schon sind wir mitten im Gespräch. Er kommt aus Washington und schwärmt mir vom Mount Rainier National Park vor. Es stellt sich heraus, dass er selber auf Reisen ist, aber dass sein Budget nicht allzu viel hergibt. So übernachtet er im Auto und stellt sich auf Parkplätze, die nichts kosten. Er erklärt, dass es ihm nichts ausmacht so zu reisen, ist doch besser als gar nicht rumzukommen. Viel Komfort brauche er nicht, erzählt er mir. Je weniger Geld er unterwegs ausgibt, desto länger könne er reisen. Was er ansonsten für weitere Zukunftspläne hat, dazu kommen wir nicht mehr, denn er will auch etwas über uns und unsere Reise wissen.

Ich berichte ihm kurz und knapp von den letzten Monaten und von der geplanten Route hoch nach Kanada und zurück an die Ostküste über den Trans Canada Highway. Er ist schwer begeistert, besonders von LEMMY. So etwas gibt es in Amerika selten zu sehen. Ich sage ihm noch wie gerne ich den Mt. Rainier sehen würde, aber auch das ich befürchte, dass der April noch nicht der richtige Monat sei, um den National Park um diesen Berg zu erkunden. Er bestätigt meine Bedenken und ergänzt, dass die Sommermonate sicherlich die bessere Reisezeit dafür ist. Dann trinkt er noch seinen frisch gebrühten Kaffee, packt seine Sachen und verabschiedet sich. Er steigt in seinen kleinen Kombi und fährt weiter, runter in den Süden. Ich bewundere seinen Tatendrang und seinen Mut, alleine aufzubrechen, mit wenig Geld in der Tasche und das Abenteuer zu suchen. Glücklich über diese kleine erfreuliche Begegnung am Straßenrand mache ich fertig, was ich vor dem Gespräch angefangen habe: die Stühle aufstellen. Dann frage ich Jutta, ob sie uns nicht auch noch einen Kaffee kochen mag.

Arroyo Hondo Vista Point

Als es bereits dunkel ist, die Sonne sich rot glühend hinterm Horizont verabschiedet hat, da klopft es bei mir an der Fensterscheibe. Jutta und ich sitzen gerade am Tisch in der Kabine und wir unterhalten uns über das Abendprogramm morgen in Santa Barbara. Ich würde gerne mal wieder Billard spielen und hätte große Lust in eine Open Mic Bar zu gehen. Das haben wir schon einmal gemacht und dabei eine fantastische Zeit gehabt. Ich erinnere Jutta daran, dass nicht viel gefehlt hat und sie selber auf der Bühne einen Song performt hätte. Zwei weitere Biere oder ein starker Cocktail hätte vermutlich gereicht, aber dazu kam es leider nicht mehr. Wer weiß, vielleicht war es auch ganz gut so.

Ich wende mich irritiert zum Fenster und öffne es weit, damit ich sehe wer dort angeklopft hat. Leider ist die Sonne schon komplett untergegangen und der Mond ist nicht besonders hell. „Hallo!“, vernehme ich eine Stimme aus der Dunkelheit. „Ich habe euer Kennzeichen gesehen und wollte nur mal Hallo sagen.“ Einen Augenblick“, sage ich, „ich mache nur kurz die Außenbeleuchtung an.“

Dann setze ich mich wieder auf meinen Platz am Fenster und Jutta kommt zu mir rüber, damit wir beide sehen, wer da so spät bei uns anklopft. Es ist Jan aus Deutschland, der mit einem 29 Fuß langen Leihcamper unterwegs ist. Er hat seine Frau und seinen kleinen Sohn dabei. Und auch seine Mutter, die gerade zu Besuch ist und die kleine Familie einen Teil der Reise begleitet. Sie sind insgesamt drei Monateunterwegs und kommen aktuell aus San Francisco. Sie sind auf dem Weg nach Los Angeles, weil die Reise dort zu Ende geht. Jan erzählt sehr viel von dem, was er so alles erlebt hat auf dieser Reise, wie riesig und luxuriös sein Campmobil ist und von seiner jungen Familie. Er will uns ein paar Stellplatztipps für San Francisco mitgeben, aber Jutta weiß bereits über alles Bescheid. Wir haben eine sehr nette Unterhaltung und nach einer guten Dreiviertelstunde will er mal wieder rüber zu seiner Familie. Wir verabreden, morgen noch bei ihm vorbeizuschauen bevor wir weiter fahren, denn auch sie kommen selten vor elf Uhr morgens vom Hof.

Um halb zehn wache ich auf, Jutta ist längst wach, liegt aber auch noch im Bett und liest. „Guten Morgen“, sage ich, „gibt es bald Kaffee?“

„Ja gleich!“, sagt sie, „ich habe schon eine Idee, wo wir nach Santa Barbara Station machen können. An der Morro Bay, das ist ein guter Platz für ein oder zwei Übernachtungen. Außerdem ist es von dort nicht mehr weit bis San Francisco.“

„OK.“, sage ich, „aber ich will auch noch in Santa Cruz vorbeischauen, wenigstens kurz über den Rummelplatz. Du weißt schon, da musste ich in der Türkei so dran denken, als wir in Dogobayazit waren.“

Nach einem köstlichem Frühstück mit leckerem Orangensaft, gekochten Eiern und zwei Bechern Kaffee machen wir uns abwechselnd im Bad fertig, um dann rüber zu gehen zu Jan und seiner Familie in ihrem Leihcamper.

Diese Mal sind wir es die klopfen und wie es scheint werden wir schon erwartet.

Wir lernen Jans Frau und Sohn kennen und kurz danach erscheint seine Mutter und wieder verquatschen wir uns für über eine halbe Stunde. Jan präsentiert uns noch stolz seinen Fernseher, der auf Knopfdruck aus einer Konsole hoch fährt und sogleich wieder in der Versenkung verschwindet. Slideouts sind auch in dieser Fahrzeugklasse mittlerweile die Regel und lederne Sofas gehören zur Standardausstattung. Mit diesem Mobil kann man problemlos mit vier Personen reisen, ohne jeglichen Komfort zu vermissen. Nur in Städten wird es unbequemer, wegen der Größe des Fahrzeugs und in der Natur, wenn man die ausgetretenen Pfade und den Asphalt verlässt. Aber für ein paar Wochen mit mehreren Personen ist so ein Mobil perfekt und super komfortabel. Wir wollen langsam los und verabschieden uns. Jetzt geht es wieder auf die Straße und durch das wundervolle Santa Barbara Wine County.

Wir fahren die 101 zurück bis nach Buellton und beginnen mit unserer Besichtigungstour. Der erste Stop ist beim Days Inn Windmill Hotel, was jetzt nach dem Film benannt ist, Sideways Inn. Hier haben Miles und Jack genächtigt. Das Hotel besteht aus mehreren Gebäuden. Alles ist in stylischem schwarz/weiß gehalten, auch die schöne Windmühle, die als perfekter Eingang in die Lobby führt.

The Sideways Inn

Rein gehen wir allerdings nicht, es ist ein sehr hochpreisiges Hotel und ich mache nur von außen ein paar diskrete Fotos.

Ehemals „The Days Inn Windmill Hotel“

Der nächste kurze Halt ist am Steakhouse The Hitching Post II. Dort haben Miles und Jack gegessen und Miles verknallt sich in Maya (Virginia Madsen), die sie dort das erste Mal treffen.

Weiter geht es nach Solvang, wo viele Häuser uns an Dänemark erinnern. Ich sagte es bereits, 1911 wurde dieser Ort von dänischen Einwanderern gegründet. Dementsprechend gibt es hier einen Mix aus dänischer und amerikanischer Küche und Miles and Jack frühstücken hier im Solvang Restaurant.

Wir halten nicht an allen Filmsets und ich will auch nicht mit zu vielen Filmdetails langweilen, nur noch kurz soviel: An der Kalyra Winery in Santa Maria treffen die Beiden auf Stephanie (Sandra Oh) und Jack hat nur eines mit ihr im Sinn, sie ins Bett zu kriegen. Ab hier wird der Film richtig turbulent und wohlmöglich ist die erste Weinflasche beim Schauen bereits zur Hälfte geleert. Wer Wein mag und Filme liebt, der kommt an Sideways nicht vorbei.

Unsere Reise geht weiter durch Santa Inez nach Los Olivos. Dort wollen wir unsere Lunchpause machen.

Hier ist mächtig was los, das sehen wir schon beim Einfahren in den Ort. Kein Wunder, das Wetter ist prächtig, die Sonne scheint und es ist Wochenende. Auf einer Wiese neben einem Restaurant ist ein großer Parkplatz. Dort stellen wir LEMMY ab und dann gehen wir zu Fuß weiter. Wir suchen das Los Olivos Café & Wine Merchant. Dieses Restaurant wurde bereits vom Wine Spectator mit dem „Award of Excellence“ für das „Best Restaurant for Wine“ ausgezeichnet.

Lunchpause in Los Olivos

Im Film treffen sich hier Miles, Jack, Maya und Stephanie zum Abendessen und Miles betrinkt sich ordentlich und macht keinen Hehl daraus, was er von Merlot hält.

Wir finden das Restaurant und werden gebeten in ca. einer Stunde wiederzukommen, weil alle Tische belegt sind. Unser Name wird notiert und damit haben wir eine Reservierung und etwas Zeit gewonnen, um durch den Ort zu schlendern.

Am Straßenrand steht ein Relikt aus uralten Zeiten, ein rostiger Pickup, der so langsam vor sich hin gammelt. Auf der Ladefläche hatte er in seinen guten Tagen Bierfässer geladen und drei Zapfhähne zeugen noch heute davon, dass er damals das flüssige Gold direkt an der Straße unter die Menschen brachte.

Relikt aus alten Zeiten

Wir bummeln noch etwas weiter und gucken in die kleinen Shops und Boutiquen, finden aber nichts von Interesse. In den Restaurants, Weinstuben und auf den Terrassen sind alle Plätze ausnahmslos belegt. Teilweise stehen die Leute in Schlangen davor, um auf einen Tisch zu warten. Wir haben unseren Tisch sicher und machen uns langsam auf den Weg zurück ins Los Olivos Café & Wine Merchant.

Uralte Bierkutsche

An der Tür sagen wir nur unseren Namen, kurzer Blick auf die Liste und schon begleitet uns ein Kellner zu unserem Tisch mitten in der guten Stube. Wir bestellen beide den House Wine, der ist mit 9 $ pro Glas teuer genug, nach oben gibt es fast kein Limit mit den Preisen. Jutta nimmt zum Lunch die Roasted Local Vegetables und ich wähle den Baked Brie, die Spezialität des Hauses.

Roasted Local Vegetables

roasted garlic, smoked Mozzarella, tapenade 17 $

Baked Brie

hazelnuts, cinnamon puff pastry, arugula, port syrup 18 $

A favourite since we opened our doors in 1995!

Das Essen ist vorzüglich, der Wein könnte für mich kälter serviert werden, aber ich bin kein Weinkenner. Ich mag nur alle meine Getränke kalt. Nebenan werden auch alle selbst produzierten Weine verkauft und eine ganze Regalwand ist mit hunderten von Flaschen bestückt. Die Gäste kommen und gehen und auch wir trödeln nicht und räumen den Tisch für andere wartende Gäste, nachdem wir unsere Gläser geleert haben.

Agave

Weiter geht es durch das Santa Inez Valley und die sattgrünen Hügel erinnern ein wenig an Hobbingen aus „Der Herr der Ringe. Zudem werden uns immer wieder traumhafte Aussichten auf die kalifornischen Berge offenbart und hinter jeder Kurve oder der nächsten Bergkuppe bekommen wir tolle Motive zu sehen. Wir genießen einfach mal die Fahrt und ich halte nicht an zum Fotografieren. Diese Eindrücke nehmen wir als Erinnerung mit.

Weiter geht es über die 154 mitten durch die Cachuma Lake Recreation Area Richtung Santa Barbara. Dort wollen wir einen netten Abend verbringen und Jutta weiß bereits einen Stellplatz mitten im Zentrum auf einem Park’n Ride Parkplatz, hier heißt das Commuter Parking Lot. So wie wir das Schild verstehen, ist es ok hier am Wochenende über Nacht zu stehen.

Am späten Nachmittag kommen wir an und es sind genügend freie Plätze vorhanden, allerdings leben hier auch wieder einige Menschen in verschiedenen Verhältnissen auf diesem Parkplatz. Jutta spricht einen der „Bewohner“ an, der ganz hinten in einem Zelt lebt. Er kommt gerade in unsere Richtung und sie fragt, ob es ok ist, dass wir hier übernachten. Er ist nur schwer zu verstehen, sagt aber auch, dass es kein Problem ist. Nachdem er mitbekommen hat, wo wir herkommen, schimpft er noch lautstark über Putin und wir stimmen ihm zu. Dann wandert er weiter über den Platz und sammelt Müll auf.

Wir sehen zwei sehr alte Wohnmobile, einen PKW mit zugehängten Fenstern und eine Ecke mit allerlei Gerümpel, wo jemand auf einem alten Sessel sitzt, kopfüber, abgetaucht, den Kopf fast auf dem Boden zwischen den Füßen. Dieses Trauerspiel sehen wir nicht zum ersten Mal und ich schreibe es den verdammten Drogen zu. Dieser Mann ist gefangen in seiner eigenen kleinen Welt, ständig auf der Jagd nach dem Kick.

Es ist immer wieder deprimierend so etwas hautnah zu sehen und wir werden uns nie daran gewöhnen, aber wir haben resigniert. Wir können ihm nicht helfen, geschweige denn allen Anderen denen wir begegnen. Aber wir nehmen uns vor, im Verlauf unserer Reise eine Möglichkeit zu suchen, wo wir etwas spenden können, was den Menschen auf der Straße hilft. Es mag egoistisch klingen, aber mit der Aussicht kann ich diese Eindrücke besser verarbeiten und schließlich wieder an etwas Anderes denken.

Nachdem wir uns etwas frisch gemacht, die staubigen Tagesklamotten abgelegt und saubere Sachen angezogen haben, spazieren wir in den Nightlife-District von Santa Barbara. Zu Essen gibt es nur was Kleines auf die Hand von einem der zahlreichen Foodtrucks. Mittlerweile ist es dunkel geworden und die Straßen sind belebt von den Nachtschwärmern. Eine Bar folgt auf die Andere, zwischendurch Restaurants, Steakhäuser, Microbreweries, Karaokebars und Kneipen mit Livemusik. Nicht ganz einfach eine Entscheidung zu treffen, wo wir zuerst einkehren wollen.

Dann erkenne ich im Vorbeischlendern eine Bar wieder. Es ist aber nicht die, nach der ich eigentlich Ausschau halte, in der wir mal den „Metal Monday“ erlebt haben und die einzigen Gäste waren. Der Barkeeper hat noch einige von seinen Freunden angerufen und eingeladen zu kommen, damit wir nicht so einsam am Tresen sitzen, aber niemand kam. So hatten wir mit ihm eine ganz nette Unterhaltung und er hat uns erzählt wie fürchterlich das amerikanische Gesundheitssystem ist und das es Einen ruinieren kann, wenn man schwer erkrankt oder an einer chronischen Krankheit leidet, während Iron Maiden im Hintergrund läuft.

Naja, das war 2011. Jetzt ist es Ende März 2022 und die Bar, die ich wieder erkenne hat einen ebenfalls langen Tresen und rot bezogene Billardtische direkt am Fenster. „Wollen wir hier anfangen, mit einem kalten Bier und ein paar Runden Billard?“, frage ich Jutta. „Ja klar, warum nicht?“, sagt sie.

Ein paar Runden Eight Ball

Wir spielen Billard, genießen unsere Drinks und die Musik aus den kleinen JBL Boxen. Nach einigen Runden ist es meistens Jutta, die die Lust verliert. Ich könnte die ganze Nacht um den Tisch laufen und Kugeln versenken. Meine glorreichsten Spiele liegen allerdings schon lange hinter mir. Früher habe ich regelmäßig mit meinem Kollegen Uli, dem Rüstmeister aus dem Theater, Billard gespielt. Wir spielten immer „Best of 19“. Das heißt, wer zuerst 10 Spiele gewonnen hat, der ist der Sieger und der neue Weltherrscher.

Pool Billard Bar in Santa Barbara

An einem Abend standen wir also wieder am Tisch in unserer Billardhalle in Bremen-Kattenturm und ich gewann das erste Spiel. Danach verlor ich nicht nur zwei oder drei Spiele, nein, es waren ganze neun Runden und ich hatte keine Erklärung, wie es dazu kommen konnte. Uli hat mich demoralisiert, hat mich gegen die Wand geklatscht und ich hatte nur noch eine Chance, durfte kein Spiel mehr verlieren. Es stand 9:1 für ihn.

Mir fiel ein Film ein, ein Billardfilm: „Haie der Großstadt“ mit Paul Newman. Er spielt den jungen Poolbillard Profi Eddie Felson, genannt Fast Eddie. Sein großes und ehrgeiziges Ziel ist es gegen den Veteranen Minnesota Fats zu spielen, was ihm auch gelingt, in einer 40 stündigen Sitzung. Er verliert allerdings und ich erinnere mich, das Minnesota Fats häufig im Washroom verschwunden ist, um sich frisch zu machen. Eddie Felson hadert stattdessen mit sich selbst, trinkt Whisky und verliert ein ums andere Spiel.

Ich sagte zu Uli: „Ich bin mal kurz weg, bin gleich wieder da!“ Dann verschwand ich im Washroom und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht, dreimal, viermal. Dann trocknete ich mich ab und ging entschlossen an den Tisch zurück. Ich gewann das nächste Spiel und meine Zuversicht kam zurück. Es stand 9:2, dann 9:3 und Uli wurde unsicher. Er machte Fehler, die er zuvor nie gemacht hatte. Er verschoss einfache Bälle und wurde immer nervöser. Ich hatte den Spieß umgedreht, mein Selbstvertrauen war zurück und nun demoralisierte ich ihn. Ich traf und versenkte eine Kugel nach der Anderen. Bald stand es 9:6 und ich gewann auch die nächsten drei Runden bis zum 9:9. Vor dem letzten Spiel ging ich dann noch mal in den Washroom und machte mich frisch. Ich sammelte mich und mobilisierte alle meine mentalen Kräfte, dann ging ich an den Tisch zurück.

Das finale Spiel konnte ich dann auch für mich entscheiden und damit ist dieser Billardabend einer von meinen zwei glorreichen Momenten in dieser Billardhalle.

Der andere herausragende Augenblick für mich war ebenfalls mit meinem Kumpel Uli und ist schnell erzählt. Wir spielten wieder „Best of 19“ und ich war mit dem Anstoß an der Reihe. Ich visierte die gelbe Kugel ganz vorne im Pulk an und zog den Queue lang durch. Dann stieß ich mit voller Kraft die weiße Kugel an und sie sprengte den Pulk auf. Eine Volle fällt ins Loch und ich kann mein Spiel fortsetzen. Ich mache es kurz. Ich loche eine Kugel nach der anderen, Uli kommt gar nicht an den Tisch, bis nur noch die Acht auf dem grünen Tuch liegt (und natürlich Ulis Kugeln, der ja noch keine Gelegenheit hatte Eine zu versenken). Sie liegt nicht weit vom linken Eckloch entfernt und ich habe freie Bahn, um die schwarze Acht zu versenken.

Steffi von der Bar kommt und fragt, ob wir noch ein Bier wollen. Ich erkläre ihr kurz, dass ich gerade dabei bin ein perfektes Spiel zu absolvieren, mein Allererstes überhaupt. Ich muss nur noch die verdammte Acht in dieses mittlerweile klitzekleine Eckloch bekommen. Sie entschuldigt sich für die Unterbrechung, schaut aber weiter zu. Das ist kein schwerer Ball, der da vor mir liegt. Aber ich bin aufgeregt und nervös, weil ich wohlmöglich niemals wieder so eine Gelegenheit bekommen werde. Uli schaut gebannt zu, Steffi schaut auch und ich versuche mich zu konzentrieren, in dem Bewusstsein eine einzigartige und einmalige Chance zu haben. Ich visiere die weiße Kugel an, weiß genau wo ich sie mit der Queuespitze treffen will. Dann fixiere ich die schwarze Acht, dann die linke Ecke wo ich einlochen will, wieder die Acht und der Stoß kommt. Ich verfehle knapp, aber ich verfehle. Ich würde am liebsten schreien und den Queue auf den Boden schmeißen, stattdessen sage ich: „Scheiße!“ und „Bring uns doch noch zwei Bier Steffi!“

Jutta und ich ziehen weiter in eine andere Kneipe. Da steht ein Schild vor der Tür: Karaoke Night.

Da gehen wir rein, denn wir haben beide Lust auf Karaoke. Wir wollen allerdings nur zuhören. Die Stimmung ist ausgelassen und wir begeben uns nach hinten an den Tresen, bis an die Tanzfläche kurz vor der Bühne. Ein Moderator kündigt jeweils den nächsten Interpreten und den Song an, der performt werden soll. Ich bleibe beim gezapften Bier, Jutta steigt um auf Moscow Mule mit Gin.

Local Beer, immer erste Wahl!

So vergeht die Zeit rasend schnell und die meisten Singenden machen eine ziemlich gute Figur, manche sind sogar große Klasse. Es wird getanzt, getrunken und viel gelacht. Wir sind nur Beobachter heute, aber die Rolle gefällt uns. Als Nächstes wird „New York, New York“ von Frank Sinatra angesagt. Wir bestellen noch eine weitere Runde und Jutta singt schon mit, ohne Mikrofon allerdings. Dann folgt „Whats up“ von den Four Non Blondes und ich glaube noch ein oder zwei Moscow Mule für Jutta, dann steht sie auch auf der Bühne.

Soweit kommt es dann aber auch 11 Jahre später nicht. Wir haben langsam genug und wollen unsere teuren Drinks bezahlen. Sie sind so teuer, dass Jutta keine Skrupel hat, einen der metallenen Cocktailbecher in ihrer Tasche verschwinden zu lassen. Der wird ab jetzt zu unserem Reiseequipment zugefügt, denn Moscow Mule können wir auch mixen, allerdings mit polnischem Wodka, der noch aus Georgien an Bord ist.

Overnight Stellplatz in Santa Barbara

Nach dem Ausschlafen und einem üppigen Frühstück verlassen wir Santa Barbara über die legendären Routen No. 1 und No. 101 Richtung Norden. Noch immer ist unser Ziel San Francisco, das aber noch etwas auf uns warten muss, denn heute geht es nur ungefähr 108 Meilen bis zur Morro Bay.

Hier können wir leider nicht direkt an den Beach fahren, sondern bleiben auf einem Stellplatz auf Asphalt stehen. Wir sehen aber aus dem Auto über die Dünen den wahnsinnig weiten Sandstrand, der sich endlos in beide Richtungen zu erstrecken scheint. In südlicher Richtung ist der Morro Rock zu sehen, ein riesiger Fels im Meer. Er ragt aus dem Bodennebel heraus und zieht uns magisch an.

Der Morro Rock

Wir machen einen langen Spaziergang vor dem Mittagsschlaf und ich gehe barfuß dicht am Wasser entlang, mit hochgekrempelter Hose wegen der hohen Wellen, während Jutta etwas weiter weg von der Brandung Sanddollars sammelt. Das ist eine Art Seeigel, die an flachen Sandküsten aller Meere leben und sich von feinen organischen Partikeln ernähren, die auf der Oberfläche der Sandkörner kleben. Jutta sammelt natürlich nur die leeren Gehäuse.

Das Wasser des Pazifiks ist sehr angenehm an den Füßen. Zum Schwimmen wäre es mir zu kalt, aber hier lang zu laufen ist jetzt genau das Richtige nach der Autofahrt, auch wenn sie nicht sehr lang war. Wir kommen dem Morro Rock näher und er wird immer imposanter. Ich werde gelegentlich überrascht von schnell anrollenden Wellen und meine hochgezogene Hose wird nasser als erwünscht.

Strandspaziergang

Das macht mir aber nichts aus. Irgendwann drehen wir um, ganz bis zum Fels wollen wir nicht laufen. Zum Abend zieht noch ein ordentlicher Sturm mit Regen auf und wir verbringen die letzten Stunden gemütlich in der Kabine. Unsere Nachbarn sind mit PKW und Zelt unterwegs und suchen sich einen anderen Platz, der mehr Windschutz bietet. Aus dem Fenster beobachten wir noch, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwindet und dann lassen wir den Abend mit einem Film auf dem Tablet und einem leckeren Essen ausklingen.

Sonnenuntergang hinter dem Pazifik

Der nächste Tag verläuft ganz ähnlich. Ausschlafen und gemütlich frühstücken. Leider nicht draußen, weil das Wetter sich nicht von seiner besten Seite zeigt. Dann, als es etwas aufklart, einen langen Spaziergang am Strand. Wir gönnen uns auch noch einen Mittagsschlaf und stehen zum Kaffee wieder auf. Heute machen wir einen richtigen Faulenzertag. Lesen, Sudoku, Schlemmen und Schnökern und zum Abend einen guten Film.

Einen letzten Zwischenstopp vor Frisco haben wir noch geplant: Santa Cruz. Ich möchte gerne noch einmal über den Rummelplatz direkt am Strand bummeln. An diesen schönen Vergnügungspark musste ich in Dogobayazit denken, in der Türkei, als ich gedankenverloren über den verfallenen Jahrmarkt spazierte. Außerdem wollen wir noch ein paar Tage im Santa Cruz RV Resort inmitten hoher Redwood Bäume an einem kleinen Flusslauf stehen. Im Internet sieht es sehr einladend dort aus.

Fisherman’s Family Sculpture (Those Who Wait)

Bevor es weitergeht, wollen wir uns den Morro Rock aber noch aus der Nähe anschauen. Und weil es zum Laufen zu weit für uns ist, fahren wir hin. Der Fels ist im Grunde eine Halbinsel und ich kann zum Parken drauf fahren. Morro Bay ist ein malerisches kleines Küstenstädtchen und ich halte beim Sea Otter View Point. Ganz in der Nähe steht die Fisherman’s Family Sculpture – Sie ist den Familien („Those Who Wait“) der Seeleute gewidmet.

Dann entdecken wir noch eine Warntafel auf der vor starken Strömungen und auch vor Haien gewarnt wird. Augenblicklich fühle ich mich nach Amity versetzt, wo der weiße Hai im Roman von Peter Benchley sein Unwesen treibt. Verfilmt wurde der Stoff natürlich auch, von niemand geringerem als Steven Spielberg. Wir haben nicht vor heute schwimmen zu gehen. Wir machen uns auf den Weg gen Norden.

Achtung: Haie

Vor uns liegt die Route No. 1, eine DER Traumstraßen der Welt. Es geht immer dicht am Pazifik entlang, durch wunderbar klingende Orte wie: Harmony, Cambria, Big Sur, Carmel-By-The-Sea, Monterey und so weiter. Fast vier Stunden atemberaubende Fahrt liegen vor uns. Ich will nicht schon wieder ins Schwärmen geraten, nur soviel; Die Strecke ist eine Wucht und Jeder der mal die Gelegenheit hat nach Kalifornien zu kommen, der sollte sich ein Auto mieten und wenigstens einmal die Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco fahren. Nebenbei bemerkt, beide Städte sind mindestens genauso aufregend und beeindruckend wie die Fahrt von Einer in die Andere. Als Tipp möchte ich noch empfehlen, die Route von Nord nach Süd zu wählen, denn dann ist man näher am Ozean.

Die letzte halbe Stunde geht es immer steiler aufwärts, durch enge Serpentinen, hinein in die Wälder der mächtigen Redwood Bäume. Ich fahre etwas langsamer, damit Jutta nicht seekrank wird. Auf der Straße ist nicht viel los. Der Wald wird dichter und wir kommen der Einfahrt näher. Vor der schön beleuchteten Rezeption halte ich kurz, damit Jutta uns einchecken kann. Wir dürfen erstmal zwei Nächte bleiben, danach müssen wir den Stellplatz verlassen, weil er reserviert ist. Aber vielleicht wird dann ein anderer schöner Stellplatz frei. Feuerholz nehmen wir gleich von der Rezeption mit. Wir haben einen großen Eckplatz, mit eigenem Weg runter zum Fluss. Ich baue gleich Tisch und Stühle auf und kümmere mich um das Lagerfeuer. Beim ersten Bier am Feuer beschließen wir noch eine dritte Nacht dranzuhängen, sollte ein netter Platz frei werden. Wir fühlen uns hier total wohl, inmitten der wilden Natur, den Fluss direkt vor der Tür und der Wind pfeift leise durch die Bäume. Morgen will ich mich auch mal wieder ans Schreiben machen. Aber heute genießen wir beim Bier das knisternde Lagerfeuer, das Rauschen des Flusses und das Flüstern des Waldes.

Rezeption vom Campingplatz in den Redwoods

Am Morgen, beim Gang über den Platz zur Dusche, entdeckt Jutta einen freien Stellplatz, der ihr noch besser gefällt als unser Eckplatz, den wir morgen sowieso räumen müssen. Er ist nicht so groß, fügt sich aber super ein in den Wald und ist auch direkt am Fluss. Nur ein wackeliger Holzzaun schützt vor dem Absturz. Jutta verschiebt die Dusche um einige Minuten und schlägt mir vor, heute schon umzuziehen, sollte der Platz für die nächsten beiden Tage verfügbar sein. Ich begutachte den Platz und bin genauso begeistert wie sie. Also ab zur Rezeption und umbuchen. „Alles kein Problem!“, heißt es und eine halbe Stunde später stehen wir mit LEMMY auf dem neuen Stellplatz, nun für weitere zwei Tage. Feuerholz wird sofort mitbestellt. Heute Abend ist grillen angesagt.

Neuer Stellplatz mit Blick auf den Fluss

Der Tag fängt ruhig an und ich beginne schon vor dem Mittag zu schreiben. Ich eröffne das erste Chapter vom 2. Akt, Nordamerika. Ich realisiere mal wieder wie lange ich hinterher bin, versuche aber heute Einiges aufzuholen. Mein Arbeitsplatz inmitten der großen Redwood Trees, mit Blick auf den Fluss. kann sich sehen lassen. Jetzt muss mir nur Eines noch gelingen: Ich muss schnell rüber an die Ostküste, rüber nach Nova Scotia, nach Halifax in Kanada. Und dann bin ich da, erlebe den Start vom „The Wörld Is Yours“ Abenteuer Teil 2 von vorne…..

Jutta liest heute viel und genießt es einfach, Zeit für sich zu haben. Wir sitzen beide draußen, beschattet von riesigen Redwoods und trinken Tee. Nach einem kleinen Mittagssnack, einem Grilled Cheese Sandwich (eine meiner Spezialitäten, wenn es schnell gehen soll) schreibe ich noch kurz weiter. Doch dann schlägt die Müdigkeit zu und ein Mittagsschlaf wird eingelegt. Danach gibt es Kaffee und Kuchen, aber dabei wird weiter gearbeitet.

Bevor ich anfange den Grill anzuschmeißen, mache ich mir ein kleines Bier auf. Oft ist genau das der Treibstoff, der gerade nötig ist, um meinen Schreibfluss zu steigern. Und auch diesmal werde ich nicht enttäuscht und das Elixier zeigt seine erhoffte Wirkung. Nach dem Barbecue geht meine Arbeit weiter, ich komme gut voran und Jutta zieht sich zurück. Ich nutze die restliche Grillkohle um das Lagerfeuer in Gang zu kriegen und schreibe noch stundenlang bis tief in die Nacht hinein.

Ein bisschen Arbeiten ist angesagt
Im „Flow“ angekommen

Der dritte Tag verläuft ähnlich chillig. Wir verlassen kaum unser Camp, sitzen viel draußen, lesen oder schreiben, trinken erst Tee, später den obligatorischen Nachmittagskaffee und freuen uns schon tierisch auf San Francisco.

Kleines BBQ

Vorher ist aber noch Santa Cruz angesagt und der Rummelplatz am Strand. Weit fahren müssen wir nicht, dann parken wir schon am Pier und sehen die Achterbahn. Gemütlich schlendern wir an der Strandpromenade entlang. Für Ende März ist schon Einiges los am Beach, finden wir. Doch auch dort leben Menschen in kleinen Zelten am Strand, weil sie vermutlich ihre Miete nicht mehr zahlen konnten oder ihnen die Krankenkassen nicht die benötigten Arztkosten erstattet haben. Wir spekulieren allerdings nur, denn wir sehen niemanden bei den zugezogenen Zelten.

Für manche bleibt nur noch das Zelt

Als wir den Rummel erreichen, stellen wir fest, dass zwar alles picobello sauber ist und die Vorbereitungen auf die Saison auf Hochtouren läuft. Aber es ist noch nichts geöffnet außer die Spielhalle mit den Automaten für die Kids. Wahrscheinlich wird die Saison erst später im April gestartet. Scheiß drauf, dann bummeln wir eben so einmal rüber, ohne Gedränge und Marktschreier. Ohne lautes Getöse und Gekreische aus der Achterbahn. Irgendwie hat das schon was, so ein Vergnügungspark direkt am Meer. Mir fällt kein schönerer Jahrmarkt ein als dieser in Santa Cruz. Kurz denke ich einige Monate zurück, an den Lost Place, den alten und verlassen Jahrmarkt in Dogobayazit in der Türkei. Mir gefällt der Gedanke, dass ich in der Türkei an Santa Cruz gedacht habe und jetzt in Santa Cruz denke ich wieder an die Türkei. Die Welt ist im Grunde gar nicht so groß, wie sie scheint.

Saisonvorbereitungen laufen

Der Magen knurrt schon ein wenig und da wir kürzlich gerade mein „Homemade Grilled Cheese Sandwich“ hatten, wollen wir vor der Weiterfahrt irgendwo auswärts Lunchpause machen. Wir sehen ein nettes Lokal und können draußen auf der Terrasse sitzen. Dort kehren wir ein für einen Snack und eine Limonade, bevor es endlich nach San Francisco geht. Ich wähle die Maccaroni mit Käse, Jutta einen Falafelwrap.

Rummelplatz Santa Cruz

Unter dem Pier, wo LEMMY geparkt steht, tummeln sich süße Seeotter und wir beobachten sie kurz und freuen uns, wenn einer von ihnen rückenschwimmend zu uns hochschaut. Dann steigen wir ins Auto und fahren weiter. Nur noch anderthalb Stunden bis San Francisco!

Jahrmarkt am Strand

San Francisco war immer schon ein Traumziel von mir. Diese Stadt steht für Freiheit. Sie steht auch für Fortschritt und Entwicklung. Egal ob es um moderne Computertechnologie geht oder darum Cannabis zu legalisieren. Bei meiner Liebe zu Asien gefällt es mir sehr, dass in SF das wohl größte Chinatown außerhalb Asiens liegt. Außerdem gibt es ein Japan Town und Little Saigon in der Stadt.

Janis Joplin, Jimi Hendrix und viele Andere haben hier gelebt und geliebt. Die geografische Lage am Pazifik ist unübertroffen, mit der San Francisco Bay, mit Oakland, Sausalito und San Francisco selbst, wenn man mal die Erdbebengefahr außer Acht lässt. Und dann ist da noch die Golden Gate Bridge, die Mutter aller Brücken. Von den Straßen will ich gar nicht erst anfangen, sogar eine Fernseh-Serie wurde so benannt: „Die Straßen von San Francisco“. Und dann noch die ganzen Songs, die von dieser Stadt handeln oder hier entstanden sind. Das alles hat einen Grund. San Francisco ist fantastisch. Dieser kleine Absatz darf durchaus als Liebeserklärung an eine einzigartige Stadt verstanden werden.

In weniger als neunzig Minuten werden wir mitten durch SF fahren und auch mit LEMMY die Golden Gate Bridge überqueren. Doch zunächst geht es raus aus Santa Cruz. Die Käsemakkaroni waren nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Wir rollen vom Pier auf die No. 1 und fahren fast die ganze Zeit über auf dieser Traumstraße dicht am Pazifik entlang. Meine Vorfreude ist riesig und die Aufregung steigt langsam aber stetig an. Was wir jetzt schon wissen: mit einer Alcatraz Besichtigung wird es wieder nichts, auf Wochen ausgebucht. Was wir auch schon wissen, ich will eine Nacht ausgehen, im Mission District.

Seeelefanten chillen am Strand

Nur noch wenige Meilen, dann passieren wir das Ortsschild San Francisco. Wir sind da. Eine weitere Traumdestination mit dem eigenen Fahrzeug erreicht. Check! Wir fahren weiter auf der 1 und halten uns immer an die Beschilderung Richtung Golden Gate Bridge. Die Nacht wollen wir auf der anderen Seite von SF verbringen, auf einem Rastplatz in Sausalito, mit Blick auf die Skyline. Dort dürfen wir legal und umsonst über Nacht stehen, eigentlich nur für 8 Stunden, um die Fahrtauglichkeit wieder herzustellen. Das wird aber nicht kontrolliert. Es geht nur schleppend voran, in den Straßen von SF ist halt viel Verkehr. Trotzdem genieße ich jeden Meter. Und je mehr wir uns der Brücke nähern, desto größer wird meine Anspannung. Nur noch drei Meilen. Ich versuche alle Eindrücke aufzusaugen, habe meine Blicke überall. Schaue mir die Häuser an, die Autos, die Fußgänger und Biker. Alles! Jutta schimpft mit mir: „Guck bitte auf die Straße und konzentriere dich auf den Verkehr!“ „Ja, alles klar, mache ich doch.“

Dann kommt sie hinter einer Kurve in mein Sichtfeld. „Da ist sie, die Golden Gate Bridge!“, „Siehst du sie?“, frage ich Jutta. Natürlich sieht sie sie, Jutta ist ja im selben Auto, direkt neben mir und die Frage war eigentlich überflüssig. Aber ich bin eben aufgeregt. Zuletzt bin ich vor elf Jahren hier rüber gefahren, mit dem geliehenen Dodge Durango und auch mit einem geliehenem Fahrrad. Jetzt fahre ich hier mit Jutta und LEMMY rüber, mit unserem kleinen Weltreisemobil. Wir filmen mit der DJI Kamera im Cockpit und zusätzlich mit dem Handy. Dieser Moment muss einfach festgehalten werden. Am Ende der Brücke geht es rechts raus zum H. Dana Bowers Vista Point & Rest Area. Hier werden wir die Nacht verbringen.

Golden Gate Bridge

Gleich nach der Ausfahrt steht ein Sheriff mit seinem Auto zum Eingang auf den Parkplatz. Ich denke mir, dass das wohl so üblich ist und fühle mich sicher. Ich parke LEMMY in erster Reihe, aber Jutta ist unzufrieden mit meiner Platzwahl, denn hier halten ständig neue Touristen, um Selfies und Fotos von sich, der Skyline und der Brücke zu machen. Also parke ich um in die zweite Reihe etwas weiter hinten. Dort, vermutet Jutta, ist es in der Nacht bestimmt ruhiger. Mir soll es recht sein. Ich bin über glücklich in SF angekommen zu sein und genehmige mir ein kaltes Bier. Wir schießen einige Fotos von der weit entfernten Skyline und der Golden Gate Bridge und genießen, auf der Mauer sitzend, die Aussicht. Mein Bier ist verborgen im Beercooler und ich wage es in der Öffentlichkeit zu trinken. „Cheers San Francisco, wir sind da!“

Cheers San Francisco

Gegenüber von uns steht ein anderer Overlander, einer der Ersten, den wir sehen, seit wir in Amerika sind. Es ist ein LKW aus der Schweiz, ich schätze 8-10 Tonnen schwer. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich mit Jutta gewettet habe, woher der erste Overlander kommt, den wir sehen werden. Ich wollte auf jeden Fall auf einen Spanier oder Schweizer setzen. Alle anderen vermeintlichen Overlander kamen uns entgegen und wir konnten nie ein Kennzeichen erkennen. Ist ja auch nicht so wichtig, ich hole mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank und wir schauen rüber, wie in San Francisco die Lichter der Großstadt angehen.

Die Leute verschwinden alle um mich herum, sogar Jutta ist schon in der Kabine und irgendwann löse auch ich mich von diesem wahnsinnigen Ausblick auf die Skyline und die Brücke. Ich versuche ihn tief auf meine Festplatte zu brennen, damit ich diesen Augenblick niemals vergesse. Dann gehe ich schlafen.

Nach dem köstlichen und ausgiebigen Frühstück bewundern wir die Morgenaussicht von Sausalito auf SF und fahren mit LEMMY rüber auf die andere Seite. Dort kann man tagsüber bis 18 Uhr umsonst stehen. Der Parkplatz ist nicht weit von der Waterfront mit den Seehunden, dem Hard Rock Café und dem ganzen anderen Touristengedöns entfernt. Als Erstes fahren wir also wieder über die Golden Gate Bridge, dann durch den Presidio Tunnel und wenige Minuten später sind wir schon auf dem Marina Green Parkplatz. Wir sehen im Vorbeifahren einen anderen Globetrotter mit seinem Oldtimer, einem Dodge M152 CAF von 1954. Man nickt sich zu, das gehört sich so und ist eine schöne Geste, wie ich finde. Kurz darauf klopft es an der Tür und der Fahrer begrüßt uns persönlich. Wir schnacken eine Weile, er lässt uns einen Aufkleber von sich da und dann verabschieden wir uns schon wieder. Aufkleber von uns wollen wir in Zukunft auch dabei haben. Aber das hat noch etwas Zeit.

Blick auf SF vom H. Dana Bowers Vista Point & Rest Area

Um zur Waterfront zu kommen, brauchen wir die Fahrräder. Laufen würde auch gehen, aber mit den Bikes sind wir einfach schneller und gewinnen Zeit. Außerdem macht es viel mehr Spaß eine Stadt by Bike zu erkunden. Leider ist mal wieder ein Reifen platt, diesmal mein Vorderreifen. Aber was soll’s, Scheiß drauf! Ich flicke ihn eben schnell. Den letzten Reifen musste ich, glaube ich, am Santa Monica Beach in LA reparieren. Diesen Reifen flicke ich in SF mit Blick auf Alcatraz. Es gibt unangenehmere Aufgaben an unattraktiveren Orten. Nachdem die Arbeit erledigt ist, vergleiche ich diesen Boardwalk mit dem von Los Angeles und komme zum Ergebnis, dass San Francisco sehr ähnlich ist. Allerdings sind die Bewohner von LA freizügiger unterwegs, was vermutlich mit den wärmeren Temperaturen zu tun hat. Aber was bilde ich mir eigentlich ein, nach einer halben Stunde Reifen flicken ein Urteil zu fällen?

Reifen flicken vor Alcatraz

Ausgerüstet mit Wasser, Sonnenbrille und leichtem Gepäck starten wir unsere erste Erkundung zu Rad von der Waterfront, der Fisherman’s Warf und den küstennahen Gebieten. Denn die Straßen von San Francisco sind nichts für uns als untrainierte Biker. Die Lombard Street werde ich fahren, aber nicht mit dem Fahrrad, sondern mit LEMMY. Es ist die wohl steilste Straße in einer Stadt, soweit ich weiß. Und die anderen Straßen geben sich da nicht viel, es geht ständig steil rauf und dann wieder steil runter. Mit dem Auto ein pures Vergnügen, aber mit dem Fahrrad ein Albtraum, jedenfalls für Biker wie uns.

Great Meadows Park

Los geht es durch den Great Meadow Park at Fort Mason, vorbei an Fort Mason Center for Arts & Culture. Dort gibt es eine Menge Gastronomie und Kultur in alten Lagerhallen auf den Piers. Sogar ein Theater, das Cowell Theater ist ganz vorne am Pier beheimatet. Wir halten noch durch, trinken und essen nichts. Erst müssen wir eine große Hürde überwinden, einen steilen Hügel, sogar an der Küstenlinie. Ich schleppe zuerst mein Bike eine steile Treppe hinauf, dann gehe ich wieder zurück und mache dasselbe mit Juttas Fahrrad. Oben angekommen kann ich die Abfahrt nach unten genießen und rolle mit ca. 45 km/h auf Fisherman’s Wharf zu. Jutta bremst mehr und folgt etwas langsamer. Es kommt uns hier ziemlich voll vor, obwohl es erst Anfang April ist. Vielleicht liegt es am tollen Wetter, denn wir haben so um die 20 Grad. Auf jeden Fall haben wir Hunger bekommen und an einer belebten Kreuzung wird live gerockt. Das ist ein guter Zeitpunkt für eine Lunchpause mit einem kalten Bier. Wir einigen uns auf einen Fast Food Laden, an dem gerade ein Tisch an der Straße frei geworden ist und ich bestelle Fish & Chips mit einem großen Bier und Jutta bestellt Chowder, eine cremige Fischsuppe.

Fishermans Wharf

Nach dem Lunch geht es weiter zum Hard Rock Café. SF ist eine Stadt, in der ich mir ein T-Shirt kaufen würde. Das Hard Rock Café ist direkt vor der Fisherman’s Wharf am Pier 39. Und davor steht ein aus Grünpflanzen modellierter Seehund. Sieht echt cool aus, obwohl ich gar nicht so auf Gartenstuff stehe. Ich finde leider kein T-Shirt im HRC SF für mich. Denn keines der Motive sagt mir zu oder ich habe es bereits aus einer anderen Stadt. Jutta wird allerdings fündig und sieht ein Set, bestehend aus drei schmalen Taschen in drei verschiedenen Größen. Zwei davon sind perfekt geeignet für mein Laptop und mein Tablet. Es gelingt mir, ihr zwei von den drei Taschen abzuluchsen. Sie haben das Design einer Überseekarte und eine Menge Länder und Städte stehen darauf, in denen ich schon überall gewesen bin. Nach dem erfolgreichen Einkauf gehen wir weiter vor zu den Seehunden, die hier immer auf den Pontons am Pier 39 rumhängen. Schon 2011 waren die hier am herumtollen oder faul in der Sonne liegen.

Am Pier 39

Ein bisschen Schade finden wir es schon, dass es mit Alcatraz wieder nichts wird, aber wir können uns nicht Wochen vorher festlegen, wann genau wir vor Ort sind. Gerade für mich als Kino und Film Fan wäre Alcatraz interessant geworden, aber was soll’s? Vielleicht klappt es im nächsten Leben.

Es wird langsam Zeit zu LEMMY zurück zu kehren, denn es geht auf 18.00 Uhr zu und dann müssen wir den Tagesparkplatz verlassen haben. Wir fahren diesmal etwas weiter außen durch den Park, dann sparen wir uns die steile Treppe vom Hinweg und sehen noch ein wenig mehr von der Waterfront. Beim Auto angekommen, verzurre ich die Bikes und dann fahren wir noch mit dem Auto zu den Painted Ladies.

The Painted Ladies

Jutta lotst mich durch die Straßen von San Francisco bis in die Steiner Street. Die Straßen von West nach Ost verlaufen ziemlich geradlinig, die von Nord nach Süd steigen meistens sehr steil an. Wer hier Probleme hat am Berg anzufahren, der sollte einen weiten Bogen um SF machen. Meistens muss man direkt vor den Kreuzungen anhalten, weil entweder eine Ampel rot ist oder aber ein Stoppschild dort steht. Rechts vor links, wie wir es kennen, gibt es in den USA nicht. Hier läuft es etwas anders. Man fährt in der Reihenfolge in der man die Kreuzung erreicht. Ein sehr gutes System.

Wir kommen in die Steiner Street und ich finde keinen Parkplatz, also noch einmal um den Block fahren und hoffen, dass irgendwo was frei wird. „Yes, da ist eine Lücke!“ Direkt vor den Painted Ladies gegenüber vom Alamo Square, einer großen Grünfläche, von denen es in SF eine ganze Menge gibt. Die Painted Ladies sind einige bunt angemalte, viktorianische Häuser aus dem 19. Jahrhundert. Die meisten wurden 1906 beim großen Erdbeben von SF durch entstandene Brände zerstört. Einige blieben zum Teil erhalten und wurden wieder aufgebaut und restauriert. Sie wurden bunt angemalt und bekamen den „Slang Begriff“ Painted Ladies verpasst, wie damals auch Prostituierte genannt wurden. Diese Häuser sind eine große Touristenattraktion und der gegenüberliegende Alamo Park lädt zum Verweilen und Picknicken ein. Die Aussicht vom Park über die Painted Ladies hinweg ist einfach göttlich.

Blick über die Painted Ladies

Dahinter sehen wir die Hochhäuser des Zentrums, unter anderem den markanten Transamerica Pyramid Tower, der noch bis 2018 das höchste Gebäude in SF war. Um mich herum im Alamo Square Park sitzen überall Leute auf dem Rasen. Jung und alt, meistens in Gruppen. Alle genießen sie die Aussicht oder sind in Unterhaltungen vertieft. Ich kann mich selber kaum satt sehen, will aber kein Knöllchen riskieren, denn ich darf dort wo LEMMY steht eigentlich nicht parken. Jutta kennt die Aussicht bereits und ist sicherheitshalber im Auto geblieben. Dankbar und glücklich über diesen wundervollen Tag mache ich mich auf den Rückweg.

Alamo Square & Steiner Street

Einmal mehr geht es durch den Presidio Tunnel, dann über die Golden Gate Bridge und auf den H. Dana Bowers Rest Area & Vista Point in Sausalito. Dort können wir wieder für 8 Stunden stehen bleiben. Ein Streifenwagen steht auch heute in der Einfahrt zum Parkplatz, so dass wir uns überhaupt keine Sorgen um Langfinger oder Kleinganoven machen müssen.

Aus dem Fenster sehen wir wie nach und nach die Lichter der Stadt angehen. Wie Alcatraz in der Bucht im Dunkel verschwindet und sich ein Nebel um die Golden Gate Bridge legt, bis nur noch die beiden roten Trägerelemente, die in den Himmel ragen, zu sehen sind.

Der nächste Tag beginnt klar und sonnig, aber windig. Es ist der 2. April. 2022. Heute ist wieder Biken angesagt, diesmal aber in die andere Richtung, weg vom Marina District rüber zur Golden Gate Bridge. Ausgangspunkt ist der Parkplatz von gestern, Marina Green.

Golden Gate Bridge

Theoretisch könnten wir natürlich auch von hier aus mit den Rädern starten, aber wir wollen nicht negativ auffallen und die 8 Stunden zu weit überziehen. Möglicherweise würde es niemanden kümmern, aber wir wollen nichts provozieren. Wir überziehen die erlaubten 8 Stunden sowieso schon deutlich um 4-6 Stunden. Da hat bisher niemand etwas zu gesagt. Also belassen wir es dabei und fahren erneut über die Brücke, durch den Presidio Tunnel und schon sind wir wieder da. Erste Reihe, Blick auf Alcatraz. Jutta fühlt sich heute leider nicht so gut und bei dem Wind will sie lieber nicht mit dem Rad fahren. So muss ich mich alleine auf den Weg machen, während sie sich noch mal hinlegt, damit es ihr später hoffentlich besser geht und sie noch was vom Nachmittag und vor allem vom Abend hat. Denn heute Nacht will ich ausgehen, im Mission District. Ich weiß auch bereits, wo es hin gehen soll: in die Kilowatt Bar in der 16th St. Das ist mitten im Ausgehviertel und es gibt laute Musik, Billardtische und eine Musicbox. Was will man mehr?

Das einzige Problem das es noch zu lösen gilt ist, wo wir LEMMY über Nacht abstellen. Wenn wir wieder bei der Brücke stehen, dann müssen wir uns keine Gedanken um die Sicherheit des Fahrzeugs machen. Dort ist ja rund um die Uhr eine Polizeistreife, die auch ihre Runden dreht. Das haben wir in den letzten beiden Nächten festgestellt. Der Nachteil ist aber, dass wir dann sehen müssen, wie wir mit Bus, Bahn und/oder Taxi in den Mission District kommen und spät nachts auch wieder zurück. Wo ich jetzt stehe, ist nur ein Tagesparkplatz, der scheidet also auch aus.

Den Wagen irgendwo im Nightlife Viertel abzustellen ist keine Option, denn dort ist es nicht sicher. Autos werden aufgebrochen, besprüht und unter Umständen von Vandalen demoliert. Die beste Variante ist es wahrscheinlich, auf einem der bewachten, aber kostenpflichtigen Parkplätze zu Parken. Da gibt es einen mit mittelmäßigen Bewertungen, der ist in chinesischer Hand und liegt genau im Mission District. Das wird vermutlich unsere erste Wahl sein.

Aber jetzt geht es erstmal mit dem Bike los. Ich halte mich immer dicht am Wasser. SF hat sogar mehrere Badestrände, den Golden Gate Beach, den Ocean Beach, China- und Baker Beach und noch Einige mehr. Im Wasser sehe ich niemanden, aber am Strand tummeln sich schon einige Leute und Familien mit Kindern. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Metropole im internationalen Ranking einen der vorderen Plätze belegt. Auf meiner persönlichen Liste meiner Lieblingsstädte kommt sie bestimmt unter die Top Ten.

Radfahrer kommen voll auf ihre Kosten, denn es gibt ein gut ausgebautes Wegenetz in der Stadt und die Spuren zwischen Bikern und Fußgängern sind übersichtlich voneinander getrennt. Ich will zuerst unter die Brücke fahren, das ist eine tolle Perspektive von dort, mit dem Blick nach oben.

Golden Gate Bridge von unten

Jetzt habe ich Gegenwind und ich hoffe der Wind dreht nicht, dann fahre ich nachher mit Rückenwind.

Ich sehe schon das Fort Point – National Historic Site. Diese Festung war früher mit Kanonen ausgerüstet, um die Bucht von San Francisco zu schützen. Sie befindet sich direkt unter der Brücke. Ich fahre soweit vor, wie es erlaubt ist. Am Zaun steht ein Warnschild, wer sich nicht daran hält, dem droht eine Haftstrafe oder eine Geldbuße von bis zu 10 000 Dollar.

San Francisco by bike

Ich will weiter und muss jetzt einen ziemlichen Höhenunterschied bewältigen. Aber es geht in weiten Schlaufen aufwärts, so dass die Steigung im kleinen Gang gut machbar ist. Von weiter oben habe ich einen grandiosen Blick auf die Skyline der Stadt. Ich erkenne den Pyramid Tower, blicke über den Strand und mit jedem weiteren Höhenmeter habe ich neue fantastische Perspektiven auf die Brücke. Man kann auch einiges lernen, denn überall am Wegesrand gibt es Infotafeln zur Golden Gate Bridge, diesem kolossalen Bauwerk.

Golden Gate Beach, dahinter die Skyline

Oben am Berg angekommen, fahre ich einmal unter der Brücke durch, um dann auf der anderen Seite auf den Radweg der Brücke zu gelangen. Rüber fahren muss ich mit dem Rad nicht noch einmal, nicht bei dem Wind. Das habe ich damals mit Jutta und mit zwei Leihfahrrädern gemacht.

Das war aber auch wirklich lohnenswert, denn mit dem Bike fühlt es sich viel besser an, als mit dem Auto. Man ist noch mehr verbunden mit der Brücke und den Elementen. Du spürst den Wind, riechst das Salzwasser, berührst das Metall der Brücke und wirst eins mit ihr. Zurück in die Stadt sind wir damals von Sausalito mit der Fähre gefahren.

The Mother Bridge

Ich bin jetzt schon eine ganze Weile unterwegs und entscheide mich, langsam den Rückweg anzutreten. Langsam ist ein gutes Stichwort, denn wenn ich nicht kontinuierlich bremse, werde ich ziemlich schnell, so steil geht es runter.

Mit dem Bike durch SF

Ich komme noch am „Unreal Garden“ und dem „Palace Of Fine Arts“ vorbei. Dieses Gebäude wird vermutlich jeder kennen, der sich für Reisen interessiert. Es ziert die Postkarten der Stadt genauso wie die Painted Ladies, der Pyramid Tower und die Golden Gate Bridge. Radfahren ist hier in der Grünanlage nicht erlaubt, so schiebe ich dann also mein Rad und schlendere durch diesen schönen Garten. Danach mache ich mich auf den Weg zurück, um nach Jutta zu sehen.

The Unreal Garden

Zum Glück geht es ihr wieder besser und dem Abendprogramm steht nichts im Wege. Wir werden zuerst den chinesischen Parkplatz ansteuern und gucken, ob wir dort unterkommen und was es uns kosten wird. Aber vorher will ich meinen Mittagsschlaf machen, mit Blick auf Alcatraz.

Wir genehmigen uns noch einen Kaffee an der Marina und anschließend leitet Jutta mich zum Zenanli Parking in der 14th St., Ecke Stevenson St.. Der Parkplatz ist von einem hohen Zaun umgeben, nur die Einfahrt ist geöffnet. Ich fahre durch das Tor und schon kommt jemand aus einem winzigen Häuschen zu mir ans Fenster. Ich fahre die Scheibe runter und frage, ob wir über Nacht hier stehen können. „60 Dollar!“, bekomme ich als Antwort. Ich sage, das im Internet was von 20 Dollar steht, aber er kontert wir seien zu groß und in dieser Fahrzeugklasse kostet es eben 60 Dollar. Ich versuche zu feilschen und frage ihn, ob er auch mit 40 Dollar einverstanden ist. Er wiederholt stoisch „60 Dollar!“

Mir wird klar, dass hier verhandeln keinen Sinn hat. Der Platz ist auch schon ziemlich voll und ich will mir diese Gelegenheit nicht verscherzen. Ich gucke rüber zu Jutta und sie nickt, also sage ich Ok. Er erklärt mir, wo ich einparken soll und dass ich dann beim Bezahlen weitere Instruktionen an seinem Kassenhäuschen bekomme. Ich parke zwischen zwei PKWs am Zaun zur Stevenson Street und mein Parkplatz hat exakt die gleiche Größe, wie die beiden Plätze neben mir. Nur zahle ich den dreifachen Preis, weil LEMMY eben größer ist. Ungerechte Welt, aber was soll’s. Ich nehme 60 Bucks in bar mit an sein Häuschen und er gibt mir einen Zettel mit einem Zahlencode. Dann zeigt er mir außen am Tor, wo ich die Zahlen eintippen muss, damit es sich öffnet, denn um 21 Uhr macht er den Parkplatz dicht. Alles klar, jetzt noch schnell duschen und dann können wir in das Nachtleben im Mission District eintauchen.

Auf der anderen Seite des Zauns, hinten am Heck von LEMMY, in der Stevenson Street, hat ein Typ sein Lager auf dem Bürgersteig aufgeschlagen. Er tobt und schimpft die ganze Zeit, aber wir verstehen nicht, was er sagt. Wir können nur hoffen, dass er das nicht die ganze Nacht so weiter macht. Denn wenn wir zurück kommen wollen wir schon noch ein paar Stunden schlafen.

Mission District

So, jetzt kann es losgehen. Wir müssen nur die Julian Avenue hoch laufen, einmal rüber über die 15th St. und dann in der 16th St. rechts abbiegen. Der Mission District ist genau nach meinem Geschmack. Es ist eine etwas abgefuckte Gegend, dreckig, düster und laut. Eine Spelunke neben der Anderen. Ein krasser Gegensatz zur Fisherman’s Wharf, wo sich die Touristen rum treiben. Hier sind eher Locals unterwegs. Entweder welche, die hier im Viertel leben, arbeiten oder eben einfach ausgehen wollen. So wie wir gerade. Eine Menge schräger Vögel sind hier schon unterwegs und wir sehen auch einige Lager- und Zeltplätze in den Seitengassen. Viele Fenster auf Bodenniveau haben große Gitter vor den Scheiben, wahrscheinlich um Einbrüchen vorzubeugen. Wir haben nur das Nötigste dabei, vor allem keine Taschen, geschweige denn Rucksäcke. Ich bin überzeugt davon, dass wir als Locals durchgehen. „Guck mal da vorne!“, sage ich zu Jutta, „da ist es schon, ich sehe über der Tür die Leuchtreklame KILOWATT.“

KILOWATT Bar

Ein Pärchen steht vor der Tür und raucht. Es gibt auch einen Türsteher. Kurzer Blick, ein Nicken und wir sind drin. An der Bar bestelle ich uns zwei Bier und dann gehen wir durch nach hinten zu den Billardtischen. Einer der beiden Tische ist besetzt, ein Chinese mit zwei Zöpfen, die wie Antennen nach oben stehen spielt mit einem anderen Gast. Sie vermitteln mir den Eindruck sich zu kennen und öfter hier zu spielen. Der andere Tisch ist frei, aber die Kugeln liegen schon fertig aufgebaut. Ich denke, was für eine nette Idee den Tisch so schön vorbereitet zu haben, falls jemand spielen möchte. Ich frage an der Bar, ob wir spielen dürfen und es wird mit einem Lächeln bestätigt. Jutta geht es wieder richtig gut, das Bier schmeckt und wir haben beide Lust auf den Abend heute. Ich stoße an.

Billard in der KILOWATT Bar

Nach einer Weile kommt eine Frau bei uns am Tisch vorbei und fragt, wie lange wir spielen wollen. Ich sage ihr, dass wir gerade angefangen haben und bestimmt noch ein paar Runden spielen werden. Sie lächelt etwas gequält und nickt verständnisvoll. Kurz darauf kommt ein Typ zu ihr und sie quatschen etwas. Sie gucken rüber zu uns. Jetzt erst dämmert es mir. Die beiden waren nur kurz zum Rauchen vor der Tür. Sie haben an diesem Tisch gespielt und ihn aufgebaut hinterlassen, damit sie nach der Zigarettenpause gleich weiter spielen können. Mir ist diese Angelegenheit ziemlich peinlich und ich unterbreche unser Spiel und entschuldige mich bei den Beiden. Ich schlage vor sofort abzubrechen, damit sie weiter spielen können, aber sie lehnen ab. Dann will ich ihnen wenigstens den Dollar wiedergeben, den das Spiel gekostet hat, aber auch darauf wollen sie sich nicht einlassen. Sie gehen und wir können weiter spielen. Ich habe es wenigstens versucht. Sie mögen mich jetzt für einen ziemlichen Trottel halten, aber wenigstens nicht für so dreist, dass ich ihnen das Spiel einfach weg nehme.

KILOWATT Bar

Wir spielen einige Runden und Jutta hat Spaß, weil sie gut locht. Wenn sie nicht trifft, verliert sie schneller die Lust. Die Musik ist gut, aber noch nicht perfekt. Und zu leise ist es mir im Grunde auch noch. Das ist selbstverständlich Absicht, damit die Bar Gäste die Musikbox mit Scheinen füttern. Das habe ich auch gleich vor, aber solange Jutta Spaß am Billard hat, will ich keine Unterbrechung wagen. Nur für die nächste Runde Bier gehe ich kurz zum Barmann.

Irgendwann kommt es dann aber doch, „Ich habe keine Lust mehr, nur noch ein Spiel und dann ist Schluss!“ „Na gut.,“ sage ich, „dann setzen wir uns weiter vorne in die Bar zur Musikbox.“

Noch nicht gerade übermäßig viel los…

„Mach aber bitte nicht wieder nur Hardcore an!“, sagt Jutta. „Ok, ich mache einen guten Mix. Hast du fünf Dollar?“

Ich hole mir noch ein Bier von der Bar und überlege, was ich denn so spielen könnte. Für fünf Dollar bekommt man in der Regel 12 Songs. Die Auswahl in den modernen Musikboxen ist gigantisch, deshalb ist es gut, wenn man vorher in etwa weiß, was man hören will. Nicht so hart hat Jutta gesagt. Dann will ich ihr den Gefallen mal tun.

Ich wähle unter anderem die Stereophonics mit dem Beatles Song „Don’t let me down“. Dann was von den Black Keys und von Tom Petty & the Heartbreakers. Allerdings nicht den Radioscheiß wie „Free Fallin“, sondern „You Got Lucky“. ein Jahrhundertsong! Weiter geht es mit „Helter Skelter“ von Rob Zombie und Marilyn Manson. Allseits beliebt in Bars ist der Lynyrd Skynyrd Song „Free Bird“. Von den Red Hot Chili Peppers gibt es „Californication“ und damit auch mal etwas Härteres kommt, wähle ich Fever 333 mit dem großartigen Song „Hunting Season“ (ft. Travis Baker). Von Turnstile nehme ich zwei Songs, erstens sind beide Songs nur kurz und zweitens stehe ich auf die Band aktuell ganz besonders. Der erste heißt „Holiday“ und der zweite „Mystery“. Von Bob Seger gibt es „Still The Same“ und zu guter Letzt will ich den „Higgs Boson Blues“ von Nick Cave hören.

Während ich noch an der Musicbox meine Auswahl vervollständige, läuft meine Playlist bereits. Als alles eingetippt ist, schmieden wir bei großartiger Musik schon wieder Pläne für die Weiterreise und für den morgigen Tag.

Es gibt eine weitere Runde Drinks und wir quatschen und beobachten die anderen Gäste. Ist das schon wieder die dritte Nacht in SF? Warum nur geht die Zeit so schnell dahin? Wir haben noch nicht alles gesehen. Das geht natürlich auch nicht, aber morgen liegt schon noch Einiges an. Haight Ashbury, das Hippieviertel steht ganz oben auf Juttas Liste. Dann will ich unbedingt durch die Lombard Street fahren, die steilste Straße des Universums und zum Union Square, um noch mal zu sehen, wie die alten Straßenbahnen von Hand umgedreht werden. Ich will ins Zentrum, den Pyramid Tower aus der Nähe sehen und einfach durch die Straßen von San Francisco fahren. Das sollte alles kein Problem sein, denn wir haben noch den ganzen Tag Zeit. Es ist egal, wann wir morgen die Stadt verlassen, denn wir wollen in Bodega Bay, nur ungefähr 90 Minuten von hier, eine Zwischenübernachtung einlegen. Meine Playlist geht langsam zu Ende und ich kündige schon mal an, dass ich gerne noch in die Delirium Bar auf der anderen Straßenseite möchte.

Delirium Bar / Mission District

Jutta ist sehr zufrieden mit meiner Musikauswahl und schlägt mir diesen Wunsch nicht ab. Ich zahle an der Bar unsere Drinks und bekomme ein großes Lob vom Barkeeper. Er gibt mir mit auf den Weg, dass er meine Musikauswahl aus der Musicbox ganz fantastisch fand. Glücklich und schon etwas betrunken überqueren wir die 16th St. in die Delirium Bar. Hier legt ein DJ auf. Die Musik ist laut, hart und gut. Die Barkeeperin ist schrill, sehr busy, dabei aber trotzdem aufmerksam. Jutta besetzt einen Stehtisch, an dem auch hohe Hocker stehen und ich drängle mich durch die Stammtrinker an den Tresen, um etwas zu bestellen. Sie bemerkt mich schnell und fragt: „What would you like, Honey?“

Delirium Bar

„Two Beer, please!“, sage ich. Hinter dem Tresen leuchtet in großen weißen LED Buchstaben „SERVICE FOR THE SICK“ . Mit zwei exzellent gezapften Bieren setze ich mich auf einen der Hocker an Juttas Stehtisch. Irgendwie kommt mir der Song vom DJ bekannt vor, doch noch fällt mir nicht ein von wem der wohl sein könnte. Dann habe ich es plötzlich. Das klingt verdammt nach Smoke Blow, doch etwas ist anders. Der DJ mixt da offensichtlich zwei unterschiedliche Songs zusammen. Das DJ Pult ist neben dem Eingang, also gehen ich da mal eben rüber, um ihn zu fragen, was er da gerade abspielt. Eine Vinylscheibe dreht sich vor ihm auf dem Plattenteller. Ich frage ihn, was wir gerade hören. Er versteht mich nicht so ganz und ich wiederhole meine Frage, diesmal etwas lauter. Währenddessen erkenne ich auf der Vinylscheibe SMOKE BLOW, aber nicht welche Kombination da gespielt wird. Er glotzt mich fragend an und schaut selber auf den Plattenteller. Ich frage noch mal nach, dicht an seinem Ohr: „Is that Smoke Blow?“ Nachdem er ein weiteres Mal auf die Schallplatte geschaut hat, bestätigt er: „Yeah, Smoke Blow!“

Restroom in der Delirium Bar

Irritiert darüber, dass der DJ in diesem Laden selber nicht weiß, welche Platten er auf dem Teller liegen hat, kehre ich zu Jutta an den Tisch zurück. Ob das eventuell mit dem Namen des Ladens zu tun haben mag, darüber kann ich nur spekulieren. Wir unterhalten uns noch etwas, hören laute Musik, trinken Bier und Wasser, jedem das Seine und dann haben wir auch bald genug und machen uns auf den Rückweg nach Hause. Bezahlt ist bereits alles, da ich hier jeden Drink sofort beim Bestellen zahlen musste.

Heimweg zum Zenanli Parkplatz

Draußen ist es bereits dunkle Nacht geworden und viele schräge Gestalten hängen noch in den Gassen und Seitenstraßen rum. Da ich mich selber ihnen zugehörig fühle, weil auch ich eine schräge Gestalt bin, kommen wir ohne Probleme zu unserem Parkplatz. Den Pincode für das Tor habe ich noch im Kopf. Ich tippe den Zahlencode ein, dann # und das Tor öffnet sich. Noch bevor wir LEMMY erreichen, hören wir, wie das Tor sich hinter uns schließt. Mit Erleichterung stellen wir fest, dass der schreiende Homeless Man weiter gezogen ist. Nun steht einigen Stunden erholsamen Schlafes nichts mehr im Wege. Cheers!

In the middle of the night

Auschecken müssen wir erst um 12 Uhr und die Zeit nutzen wir auch. Ich schlafe bis kurz vor zehn und bin ein bisschen verkatert. Der Morgenkaffee wird mich schon wieder hoch bringen. Wir frühstücken mit allem, was der Kühlschrank zu bieten hat. Kurz vor 12 sind wir dann startklar und beginnen den Tag mit dem Hippieviertel Haight Ashbury.

Zenanli Parking

Heute habe ich Glück und finde auf Anhieb einen freien Parkplatz an einer Parkuhr. Jutta kümmert sich um die Bezahlung, damit wir 2 Stunden Zeit haben hier zu bummeln. Wir stehen vor einem knallbuntem Candyshop. Hippies laufen hier nicht mehr viele durch die Straßen, aber Flair hat Haight Ashbury noch. Die Häuser sind schrill und bunt, so wie auch viele Leute, die hier unterwegs sind. Wir shoppen und schauen in diverse Läden rein. Jutta findet ein tolles T-Shirt für sich und einen Hippiebeercooler.

Haight Ashbury

Die alte Uhr, die draußen an dem Eckladen hängt, steht immer noch auf 16:20 Uhr. Das war vor elf Jahren schon so. Ich habe nie nachgeforscht, was es damit auf sich hat. An manchen Häuserwänden befinden sich tolle Graffiti, richtige Kunstwerke in meinen Augen. In Hamburg, Bremen oder Frankfurt finde ich so was nicht, da sehe ich nur, wie solche Kunstwerke übersprüht und verschandelt werden. Hier wird der Sprüher respektiert und seine Kunst wird geschätzt, so dass wir uns jetzt daran erfreuen können.

Forever 16:20

Wir schauen auch kurz in dem riesigen Plattenladen rein, den AMOEBA MUSIC Store. Leider weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was mein Blonder für Schallplatten sucht. Er sammelt leidenschaftlich und ich komme erst in Canada drauf ihn mal zu fragen, ob ich nach was Bestimmtem suchen soll. Ich selber habe auch noch einige alte Scheiben auf Vinyl, so um die 200 werden es wohl sein (was für richtige Sammler natürlich nicht viel ist), aber die stehen sicher verwahrt auf dem Dachboden, genauso wie der Plattenspieler. Eines Tages werde ich sie wieder runter holen und auflegen. Im Laden liebäugle ich mit der Circle Jerks Skank Man Figur“, doch sie ist mir ein wenig zu teuer und im Auto habe ich eigentlich keinen Platz dafür.

Platten, Raritäten und mehr…

Ohne etwas zu kaufen verlassen wir Amoeba Music. Wir wollen uns noch das Haus anschauen, in dem Jimi Hendrix in den 1960iger Jahren einige Jahre gelebt hat und es ist auch nicht weit zu laufen. Das Haus ist rot und dreistöckig. Es geht lang nach hinten raus, vorne zur Straße ist es schmal. Unten im Eingangsbereich ist es vergittert und darüber sind 2 x 2 gewölbte Fenster mit Blick auf die Straße. Wer weiß, wie oft er da am Fenster gesessen hat um raus zusehen oder um Gitarre zu spielen. Teilweise sind die Fenstern zugehängt, als ob dort gerade renoviert wird oder jemand sehr lichtscheues lebt.

Jimi Hendrix House
Das Hendrix House im Spiegel

Wir haben inzwischen Hunger bekommen und wollen uns eine Pizza teilen. Es roch so gut aus dem Pizzaladen, an dem wir vorhin vorbei gelaufen sind. Dahin gehen wir jetzt, er heißt: Escape From New York PIZZA. Wir brauchen uns keine Pizza zu teilen, man kann sie schon als Viertel oder Halbe kaufen. Ich nehme eine Halbe mit Salami, der Klassiker. An den Wänden hängen überall unterschriebene Fotos von zufriedenen Kunden. Sieh mal an, auch Death Angel hat hier bereits gespeist. Wahrscheinlich hatten sie nach einem Auftritt hier in der Nähe noch Bock auf eine Pizza. Während ich so die Fotos betrachte und mich mit Jutta unterhalte, sind unsere Pizzas fertig und sie schmecken wirklich ganz vorzüglich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so eine lecker Pizza gegessen zu haben. Sie bekommt 10 von 10 Punkten und mit dem prominentem Publikum muss ich schon sagen, „Escape From New York PIZZA rockt!“

„Escape From New York Pizza“
Best Pizza in Town!

Nach dem Lunch gehen wir noch rüber zu Janis Joplins Haus, es ist in einer Seitenstraße, nicht weit von hier.

Es ist in Altrosa gestrichen und sieht gepflegter aus und nicht so abgerockt, wie das Haus von Jimi Hendrix. Außerdem wird es gerade zum Kauf angeboten. Wir halten uns nicht lange auf und schlendern langsam zurück zum Auto. Auf dem Weg sehen wir viele skurrile Läden und zum Teil extravagante Architektur. Ein Haus hat Zinnen, Türmchen und ist farbenfroh angemalt. Woanders ragen zwei lange überdimensionierte Beine mit Netzstrümpfen und roten Schuhen aus dem Fenster.

Hippieviertel

Überall gibt es was zu entdecken und ein Graffiti ist schöner als das andere. Von einer Wand lacht uns Janis Joplin an, Jimi Hendrix ist neben ihr und auf der anderen Seite noch jemand, der mir bekannt vorkommt. Aber ich komme nicht darauf, wer das sein könnte. Jutta weiß es leider auch nicht. Von einem Grass-Laden schaut ein entspannt rauchender Robin Williams auf die Passanten herab.

Graffiti Art / Who is the Guy on the right side?

Wir finden LEMMY unversehrt vor und die Parkuhr ist noch nicht ganz abgelaufen. Nächster Punkt auf der Tagesordnung: „Durch die Lombard Street fahren.“

Haight Ashbury

Jutta navigiert mich weiter sicher durch die Straßen von San Francisco und wie es zu erwarten war, sind etliche Touristen schon vor uns in der Lombard Street. Allerdings ist nur ein einziger PKW vor uns, damit habe ich nicht gerechnet. Ich befürchtete eine lange Schlange an Autos vor mir. Eine Menge Fußgänger sind links und rechts der Straße unterwegs, aber die stören mich nicht. Das man hier mit so einem großen Camper wie LEMMY auch gar nicht unbedingt durchfahren sollte, müssen wir eben einfach mal ausblenden. Was nervt ist dieser Kleinwagen vor mir, der fast von den Spaziergängern überholt wird. Na ja, da muss ich jetzt durch. Wir kippen über die Kante vor uns und steil schlängelt sich die Straße nach unten.

Haight Ashbury San Francisco

Die Anwohner in diesen schönen Häusern mit den gepflegten kleinen Gärten in der Lombard Street werden nicht begeistert sein, ständig die Straße voller Touristen zu haben. Oder aber sie sind stolz darauf den Menschen aus aller Welt ihre Gärten zu präsentieren, denn sie sind alle wunderhübsch angelegt. Ich versuche ruhig zu bleiben, wegen dem Schleicher vor mir, aber unten angekommen platzt es dann doch aus mir heraus. Eine große Traube an Leuten steht auf der gegenüberliegenden Straßenseite und guckt rüber zu uns. Fast alle machen Fotos mit ihren Handys, manche haben auch große Kameras dabei, zum Teil auf einem Stativ.

Haight Ashbury Graffiti

„Was ist denn jetzt, du Idiot?“, schimpfe ich vor mich hin, weil der Kleinwagen vor mir nicht in die Gänge kommt. „Es kommt nichts, die Straße ist frei, nun fahr doch endlich!“ Er hört mich natürlich nicht, trotzdem kommt er langsam in Bewegung und biegt links ab. Ich fahre aus Prinzip rechts rum, um mir etwas Luft zu verschaffen. Jutta versucht mich etwas zu beruhigen. Ich komme langsam wieder runter und frage: „Wo geht es jetzt lang?“

LEMMY in SF, im Hintergrund der Pyramid Tower

Wir fahren zu einer sehenswerten Treppe aus Mosaiksteinen, die ein nettes Fotomotiv darstellt und weiter geht es noch vorbei am Pyramid Tower und zur Powell & Mason Station, da wo die alten Straßenbahnwagen von Hand gedreht werden.

Wehmütig verlassen wir San Francisco, eine der großartigsten Städte auf diesem Planeten. Ein letztes Mal noch durch den Presidio Tunnel und ein letztes Mal noch über die Golden Gate Bridge Richtung Norden, immer auf der Route No. 1 dicht am rauen Pazifik entlang.

„Bye bye San Francisco!“
Route No. 1
Pacific Ocean

…und was als Nächstes geschieht…

CHAPTER X – REISE IN EINE PARALLELWELT oder EIN TRIP NACH TWIN PEAKS

… und wie schmeckt eigentlich der Kaffee im Double R Diner?

Chapter 22 – Leaving Las Vegas to Death Valley

…und wie mir Elvis Presley den Abend versaut…

Wir nähern uns dem Ende der Mojave National Preserve, diesem Wunder der Natur, der einsamen Straße durch die Wüste. Hin und wieder ein paar kleinere Berge, dann wieder eine weite Fläche unzähliger Joshua Trees und einer der fantastischsten Sonnenuntergänge bleiben hinter uns zurück.

Mojave Desert

Der Highway Nr. 15 nach Las Vegas ist nicht mehr weit.

Und dann kommt sie die große Straße und die Einsamkeit endet schlagartig. Wir biegen rechts ab auf den Highway 15 und es geht langsam bergan, denn der Mountain Pass steht uns bevor. Ich bin auf der zweiten Spur von rechts, denn ganz außen fahren im Schritttempo die großen LKWs mit Warnblinklicht, damit ihnen niemand zu dicht auf die Pelle rückt. Ich bin ein klein wenig schneller unterwegs als sie und fahre das, was LEMMYS 160 PS starker (oder sollte ich sagen schwacher?) Motor hergibt. Genau in solchen Momenten wünsche ich mir etwas mehr Horse Power. Ich sage es auch gerne laut. Was Jutta jedes Mal dazu veranlasst LEMMY über die Konsole zu streicheln, um ihm tröstend mitzuteilen, dass alles so in Ordnung ist wie es ist.

Mojave National Preserve

Ich quäle mich also weiter der Mountain Passhöhe entgegen und rechne bereits damit, kurz dahinter die Lichter der Großstadt zu sehen. Einen LKW nach dem Anderen lasse ich rechts liegen. Auf zwei, manchmal drei Spuren links neben mir ziehen die ganzen Pickup Trucks und die PKWs vorbei. Dann kommt die Kuppe in einer Linkskurve und ich merke wie LEMMY schneller wird. Jetzt geht es runter mit nur wenig Gefälle, dafür aber stetig und in weiter Ferne sehen wir einen großen leuchtenden Punkt in ansonsten rabenschwarzer Nacht. Die einzigen Lichter um uns herum sind die Straßenlaternen und die Autoscheinwerfer. Die Linien auf dem dunklen Asphalt leuchten gelb, um die Spuren deutlich voneinander zu trennen. Die LKWs werden schneller und schalten die Warnlichter ab. Vor uns liegt eine Wüstenstadt. Vor uns liegt Las Vegas und vor uns liegt „The Strip“.

Jetzt noch mal allerhöchste Konzentration damit wir gut und sicher durch das Verkehrsgewühl kommen, denn es ist noch ordentlich Betrieb auf den Straßen von Downtown. Jutta hat einen Parkplatz mitten im Zentrum für uns vorgesehen. Hinter dem Bally’s Hotel gleich bei dem Riesenrad. Im Internet wurde zwar gewarnt vor Fahrraddieben auf diesem Parkplatz, aber wir wollen es riskieren und im Zentrum stehen. Unsere Bikes sind sehr gut gesichert und ich bin zuversichtlich, dass jeder potenzielle Dieb schnell die Lust verlieren wird. Ich fahre runter vom Highway und direkt über den Strip.

Jutta hätte einen zweiten Besuch in Vegas nicht gebraucht, aber ich kann nicht daran vorbei fahren, wenn ich schon so nah dran bin. Und mit dem eigenen Auto über den Strip zu fahren ist für mich ähnlich bedeutsam, wie mit LEMMY nach New York City oder nach LA an den Pazifik zu fahren. Aus der Perspektive der Fußgänger kenne ich das alles hier bereits. Aber aus der Sicht des Fahrers, der über den Strip rollt, ist es ein ganz anderer Eindruck. Jutta ermahnt mich immer wieder zur Achtsamkeit wegen des Verkehrs, doch trotzdem schweifen meine Blicke von links nach rechts und von oben nach unten. Überall die bunten Lichter, die großen Hotels und Casinos, davor spektakulär inszenierte Wasserspiele und der Eiffelturm in klein.

The Strip

Aber es wird langsam Zeit auf unseren angestrebten Overnight Stellplatz zu kommen. Jutta manövriert mich runter vom Strip und die Straßen werden kleiner, der Verkehr lässt nach. „Da ist der Parkplatz!“, sagt Jutta und zeigt in die Richtung vor uns. Er ist riesig und hat offensichtlich mehrere Bereiche, aber wo zum Teufel ist die Zufahrt?

„War das da gerade die Einfahrt?“, frage ich. „Kann sein!“, sagt sie, „Fahr noch einmal rum, die Zufahrt müsste eigentlich direkt beim Hotel sein.“

Da die Straßen hier fast überall rechtwinklig angeordnet sind, ist so eine kleine Extrarunde in der Regel kein Problem und man verfährt sich auch nicht so ohne Weiteres. Beim zweiten Anlauf finden wir die Zufahrt und ich suche einen hell beleuchteten Platz unter einer Laterne. Wir stehen hinter dem Bally’s Hotel und dort befinden sich an einer Rampe ein paar alte Sofas, Tische und einige Stühle. Wahrscheinlich für das Personal, das dort eine kurze Kaffee- oder Raucherpauseeinlegen kann. So ähnlich sieht es bei mir im Schauspielhaus im Theater auch aus, am Hintereingang zur Seitenbühne. Ich fühle mich hier auf Anhieb wohl und gut aufgehoben.

LEMMYs Parkplatz hinter dem Bally’s Hotel

Es ist zwar schon spät und wir haben einen langen Fahrtag hinter uns, aber ein Spaziergang über den Strip muss noch sein, bevor wir zu Bett gehen. So machen wir uns nur kurz etwas frisch und haben kein schlechtes Gefühl das Auto hier alleine zurück zu lassen.

Draußen bei den Sofas sind einige Angestellte vom Hotel und unterhalten sich mit Zigaretten in der Hand. Etwa eine handvoll anderer Camper steht auch hier, wild verteilt über den ganzen Parkplatz.

In nur wenigen Gehminuten sind wir wieder mitten im Geschehen und es kommt mir vor, als sei ich gestern hier gewesen und nicht etwa vor 11 Jahren. Wir wohnten damals im Hard Rock Hotel & Casino und waren mit einem Dodge Durango unterwegs, der dort in der hoteleigenen Parkgarage stehen konnte. Wir wollten für drei Nächte dort bleiben, genau so lange wie wir es jetzt geplant haben. Damals sind wir dann allerdings schon nach zwei Nächten abgereist, weil Vegas uns recht schnell genervt und auch gelangweilt hat.

Schaffen wir dieses Mal drei Nächte in Vegas?

Das Hotel war auf den ersten Blick sensationell. Das Zimmer war stylisch und beeindruckend groß. Das schicke Bad und eine wahnsinnige Aussicht durch eine breite Fensterfront haben uns begeistert. Doch als wir gelesen haben wie die Minibar funktioniert, hat das unsere Begeisterung gedämpft. Denn sobald etwas auch nur angehoben wird, registrieren Sensoren das und die Kreditkarte wird automatisch belastet. Dann wollten wir einmal an den hoteleigenen Pool gehen, in der tollen Oasenlandschaft im Innenhof. Das kostete aber auch extra (Eintritt, Miete für den Liegestuhl oder eine Cabana, ach ja und die Mitnahme eigener Getränke und sei es auch nur eine Flasche Wasser war auch nicht erlaubt!) insgesamt fast mehr als das ganze Zimmer. Man kann also im Grunde zwar günstig ein Zimmer bekommen in Vegas und sich an den Buffets ordentlich durchfuttern, aber alles Andere kostet extra. Und diese Kosten sind enorm. Das hat uns schnell die Laune verdorben.

Wir sind keine Zocker, die ihre Dollars im Casino verspielen. Die großen Leuchtreklamen, die aufwendig designten Casinos und das Blingbling ist auf den ersten Eindruck toll, wird aber schnell langweilig.

Ich sage zu Jutta: „Mal sehen, wann der erste Mexikaner mir die kleinen, bunten Pappkärtchen reicht, hochglänzend versteht sich!“ Darauf sind leicht bekleidete, sexy Escort Ladys abgebildet, mit ihrer Telefonnummer. Keine fünf Minuten später habe ich bereits einen kleinen Stapel davon in die Hand gedrückt bekommen. Ich denke, als Lesezeichen sind die vielleicht gar nicht so schlecht. Früher habe ich noch nach jeder Reise zwei große Fotoalben angefertigt. Ich musste nach fünfwöchigen Reisen die zahlreichen Fotos immer auf 600 runter reduzieren, damit ich sie in zwei Alben bekomme. Dazu habe ich dann Eintrittskarten, Bordkarten und Tickets jeglicher Art mit eingeklebt und selbstverständlich auch die Pappkärtchen mit den Escort Damen. Ich nehme mir vor die Alben mal vom Dachboden zu holen und durchzublättern.

Vegas by night

Ich erinnere mich an eine KISS Cover Band, die wir 2011 gesehen haben. Das war in einer coolen Location, die ich allerdings nicht wieder finde und die Musik, die heute von innen nach außen dringt, nervt mich jetzt schon. Nur Mainstream Popmusik und Hiphop dröhnt aus jeder Bar an der wir vorbei laufen. Nicht auszuhalten! Und die ganzen Ballermann Touristen, die gerade nicht auf Malle sind, scheinen heute hier zu sein. Hier ist es erlaubt auf offener Straße bzw. in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Überall laufen betrunkene Touristen rum, die an großen Plastikkolben mit bunten Cocktails nuckeln. Das scheint schwer angesagt zu sein, denn an jeder Ecke steht so eine kleine mobile Cocktail Bar und füllt die Dinger wieder auf, wenn man entsprechend ein paar Scheine über den Tresen schiebt. Leider werden sie aber oft auch einfach weggeworfen und verschandeln das Straßenbild.

Wir finden nicht eine Kneipe mit einladender Musik, so ein Mist. Dabei hätte ich wohl Lust nach dem langen Tag ein schönes kaltes Bier aus einem großen Pint Glas zu trinken, eiskalt und bis zum Rand voll gezapft. War das damals nur Zufall mit der KISS Cover Band und einer einladenden Rock Bar?

Ich weiß noch wie der Barkeeper die Damen direkt aus der Schnapsflasche beglückte. Er stand auf dem Tresen, Oberkörper frei und sie mussten nur den Mund weit aufmachen und die Zunge raus strecken und dann lief der Stoff aus der Pulle in begierige Münder. Oh ja Vegas, du Sündenpfuhl.

Jetzt bereue ich langsam diesen Weg gewählt zu haben, denn weiter weg vom Strip, in die andere Richtung, gibt es eine Bar, die mit Gewissheit meine Musik spielt: den Double Down Saloon. Über der Tür dort steht ein Schild mit der Aufschrift: „THE BEST PLACE ON EARTH“, das hatte ich bereits Tage vorher recherchiert. Wir kennen bereits einen Double Down Saloon aus Manhattan, in dem es mir ausgesprochen gut gefallen hat, als wir im Februar dort waren. Aber jetzt ist es zu spät, heute Abend wollen wir beide nicht mehr dort hinlaufen.

Wir spazieren noch etwas weiter den Strip entlang und werden häufig angesprochen, ob wir nicht mit im Vegas-Style aufgebrezelten Ladys posieren wollen? Sie sind meistens sehr schrill angezogen, haben Overknee Lackstiefel an und bunte Kostüme mit vielen Federn. Besonders attraktiv finde ich keine von ihnen. Dann folgen zwei stramme Kerle, die sich gegenseitig einölen, um danach mit betrunkenen Touristen Fotos zu schießen. Das alles natürlich nur gegen bare Dollars.

Flamingo Hotel & Casino

Möglicherweise machen sie diese Jobs auch nicht besonders gerne, aber scheinbar bringt es Geld.

Wir verabreden noch bis zum Riesenrad zu gehen, um dann von hinten wieder zu unseren Parkplatz zu kommen. Eventuell finden wir auf dem Rückweg noch eine Bar, in der die Musik uns nicht zum Kotzen bringt. Wir biegen rechts ab, gehen durch eine etwas schmalere, aber nicht minder volle Straße, genau auf das Riesenrad zu. Erst kommt auf der einen Seite ein Irish Pub, dann etwas weiter hinten auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein anderer Irish Pub. Autos fahren hier nicht durch, diese Meile ist den trinkfreudigen Partygängern vorbehalten. Ich horche an beiden Pubs und kann weder irische Musik hören noch irgendwelche rockigen Klänge. Lustlos gebe ich mich für heute geschlagen und wir machen uns auf den Rückweg zum Auto. Ich fühle mich sowieso schon den ganzen Tag etwas angeschlagen, der Hals kratzt und es scheint sich eine Erkältung anzukündigen.

Für einen zweiten Anlauf auf dem Strip haben wir morgen oder übermorgen noch Zeit, obwohl der kommende Abend mit einer Elvis Show bereits verplant ist. Den Double Down Saloon können wir dann in der dritten Vegas Nacht besuchen.

Märzsonne über Vegas

Die Elvis Show ist übrigens auch einer DER Gründe, warum ich unbedingt ein weiteres mal nach Las Vegas musste. Denn Jutta wollte sich 2011 schon die Show vom King of Rock ’n‘ Roll ansehen, aber ich hatte keine Lust dazu. Ich fürchtete einen billigen Elvis präsentiert zu bekommen, wie man es von den berüchtigten Vegas Hochzeiten kennt oder wie ich es auch schon in anderen Ländern erlebt habe. Beispielsweise habe ich in Bangkok einen Thai-Elvis gesehen, der gar nicht so schlecht war oder einen malaiischen Elvis in Kuala Lumpur, KL genannt.

Elf Jahre ist das jetzt her und elf Jahre habe ich es bereut, denn kurz nach der Reise habe ich eine Arte Dokumentation (vielleicht war es auch 3Sat) im TV gesehen, von einer spektakulären Elvis Show. So weit ich mich jetzt noch erinnern kann, war es in einem großen Theatersaal, in einem der riesigen Casinos. Diese Elvis Show war bombastisch, mit einem großen Orchester, mit Tänzern und Backgroundsängerinnen. Die Bühne hatte mehrere Ebenen und es gab ein fliegendes weißes Piano. Der Elvis sah aus wie ein Elvis aussehen muss und er konnte singen. Für beinahe jeden Song schlüpfte er in ein anderes Kostüm. Ich sah also diese Show nach der Reise im Fernseher und ärgerte mich schwarz, dass Jutta mich nicht überreden konnte diese einmalige Chance zu nutzen. Eine Elvis Presley Show in Las Vegas. Das sollte kein zweites Mal passieren schwor ich mir.

Wir gehen unter dem Riesenrad hindurch und sehen schon unseren Parkplatz. Dann verschwinden wir heute halt mal früh im Bett und morgen sind wir eher am Start. Wir laufen jetzt wieder an einer für den Autoverkehr zugelassenen Straße entlang. Einige Poser mit aufgemotzten und hoch getunten Kisten kommen vorbei. Den Arm locker aus dem offenen Fensterrahmen gelehnt und lautes und unerträgliches Geseier dröhnt aus den Boxen. Stretchlimos sehen wir in jeglicher Form, als Hummer Variante, einen sogar von Jeep oder klassisch als weiße Limousine. Entgegen kommen uns Leute in Abendgarderobe, andere etwas bequemer mit Jogginghose und Trainingsjacke. Ich mag es auch eher bequem und trage zwei verschiedenfarbige Schuhe. Das hat noch nie irgendjemand gestört, obwohl manchmal gucken die Leute irritiert. Hier in Vegas wird es vermutlich nicht einmal bemerkt. Dann stehen wir vor LEMMY und sagen gute Nacht für heute.

Riesenparkplatz hinter den Hotels, auch für Overlander geeignet

Die Karten für die Elvis Show im Pegasus Showroom im Alexis Park All Suite Resort hat Jutta online reserviert, für viel Geld. Ich dachte, wenn es soviel kostet, dann muss es auch gut sein, dann MUSS es die Show sein von der ich vor Jahren die Dokumentation im TV gesehen habe. „Es gibt nur noch wenige Plätze!“, drängelt sie bereits. „Welche soll ich buchen, die VIP Plätze in einer Reihe hinter den Tischen oder einen Tisch an dem wir zu viert sitzen?“ Ich antworte: „Ich weiß es doch auch nicht!“. Doch dann denke ich: „Lieber hinter den Tischen in der VIP Reihe, denn an den kleinen Tischen könnte es eng werden und man weiß nicht mit wem man den Tisch teilen muss.“ Also haben wir zwei Platzreservierungen für die einzige Elvis Show in Vegas auf den VIP Plätzen. Das kann dann doch nur die richtige Show sein, oder?

Mitten in der Nacht werde ich durch etwas Geruckel geweckt und sehe Jutta hinten am Küchenfenster stehen. „Wahrscheinlich war sie nur kurz auf der Toilette.“, denke ich im Halbschlaf und döse schnell wieder ein.

Am nächsten Morgen fühle ich mich krank, müde und schlapp. Aber nach einer Dusche und zwei Bechern Kaffee wird es schon gehen, denke ich. Jutta ist bereits auf und der Kaffee köchelt vor sich hin, während unsere Heizung im Booster Modus das Duschwasser erhitzt. Ich quäle mich aus dem Bett und kurz darauf klopft es an der Tür.

Zwei nett aussehende Damen vom Bally’s Hotel fragen, ob alles in Ordnung ist. Sie dachten es brennt bei uns. Denn die Brennstäbe unserer Truma Heizung sind etwas verrußt und sobald wir die Heizung anschmeißen qualmt es erstmal ordentlich aus einem Abluftgitter nach außen. Das legt sich zwar immer rasch nach ein, zwei Minuten. Es reichte aber aus, um diese beiden aufmerksamen Damen zu veranlassen, sich nach unserem Wohlbefinden zu erkundigen. Wir bedanken uns vielmals und erklären, woran es liegt, dann ziehen sie beruhigt wieder ab.

„Hast du heute Nacht das Geruckel gespürt?“, fragt Jutta. „Ich dachte, das warst du.“, sage ich.

„Nee, ich glaube da hat sich jemand an den Rädern zu schaffen gemacht. Ich habe gemerkt, wie das ganze Auto gewackelt hat. Dann bin ich aufgestanden und habe hinten rausgeschaut. Es war aber niemand zu sehen. Wahrscheinlich hat der Dieb mitbekommen, dass sich im Auto etwas bewegt hat und ist abgehauen.“ „Shit!“, sage ich zu Jutta, „ich gehe mal eben nachschauen!“

Da war ein Langfinger dran letzte Nacht

Und tatsächlich, die Schutzhülle, die über den Bikes verzurrt ist, ist an einer Seite unten entfernt worden und ich sehe einen platten Reifen. Mehr ist zum Glück nicht passiert. Der Schaden ist gering. Kaffee und Müsli sind mittlerweile fertig und beim Frühstück reden wir über den nächtlichen Vorfall, der mich nicht weiter beunruhigt. „Was, wenn der es heute Nacht wieder versucht?“ meldet Jutta ihre Bedenken an.

Ich argumentiere, dass so ein Dieb in erster Linie daran interessiert ist, schnelle Beute zu machen. Schnell und unauffällig. Und Beides ist ihm hier nicht möglich, denn wir stehen unter einer hellen Laterne, die die ganze Nacht leuchtet. Und dann hat er schon bei der Schutzhülle aufgegeben. Er ist noch nicht mal bei den beiden schweren Bügelschlössern angekommen, geschweige denn hat er sie sehen können. Spätestens dann wäre ihm die Diebeslust vergangen. Ich bin überzeugt, auch so ein Langfinger stellt eine Risiko/Nutzen Abwägung an. Das Risiko von einer vorbeifahrenden Streife entdeckt zu werden, ist viel zu hoch. Der Zeitaufwand diese gut gesicherten Räder zu stehlen viel zu groß.

„Außerdem schreibe ich noch eine Botschaft auf die verstaubte Schutzplane und verzurre sie wieder so gut, dass er so schnell weder einen Anfang noch ein Ende findet vom Spannseil.“

Ob das überhaupt jemand sieht?

Ich schreibe mit dem Finger auf das Plastiksichtfenster der Plane: WARNING – DON’T TOUCH und dann noch I WATCH YOU. Das alles ist eher symbolisch und pro forma, aber ich glaube eh nicht, dass er wieder kommt und jeder andere wird genauso scheitern wie der kleine Ganove von gestern Nacht.

Jetzt nur noch schnell unter die Dusche und dann bummeln wir mal bei Tag über den Strip. Bis zur Elvis Show heute Abend im Pegasus Show Room haben wir noch reichlich Zeit. Ich mag noch gar nicht daran denken, was mich erwarten wird, aber ich ahne, dass meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden könnten.

Las Vegas

Nach der Dusche geht es mir etwas besser und wir stiefeln langsam los. Jutta ist immer noch beunruhigt wegen dem Langfinger. Sie hat eine Parkgarage recherchiert, wo auch höhere Fahrzeuge bewacht und geschützt stehen können. Allerdings teilen sich diese riesige Garage das Planet Hollywood, ein großes Hotel und dann noch einige exklusive Geschäfte. Wir schauen kurz rein und sehen Wegweiser, Schranken, Spuren in alle vier Himmelsrichtungen, ähnlich wie auf einem Flughafenterminal. Jemanden den wir fragen können, finden wir nicht. Es gibt eine Telefonnummer der Security, aber die mag Jutta nicht so gerne anrufen. Im persönlichen Gespräch klappt das alles ganz gut mit der Verständigung, aber am Telefon ist das immer etwas schwieriger und anstrengender. Wir setzen unseren Weg fort und kommen von einer anderen Seite wieder zu einer Einfahrt in dieselbe Garage und Jutta will es von hier aus auch noch versuchen. Ich sage nur: „Wenn du meinst!“ und laufe etwas gelangweilt hinterher. Nach ca. 20 Minuten gibt sie auf, weil niemand da ist, den man fragen könnte, weil es verboten ist hier unten die Autoauffahrten zu Fuß rauf und runter zu laufen und weil wir ja bereits einen guten Platz haben.

Heute haben wir etwas weiter ausgeholt und rollen den Strip mehr vom East End auf. Aber nicht zu weit. Dort sollte man sich nicht unnötig aufhalten, da es nicht ganz ungefährlich ist. Ich kann mich noch gut erinnern an 2011, als wir mit dem Dodge dort durchgefahren sind. Eine ziemlich miese Gegend war das.

Bei Tag ist es auch schon sehr laut und die unerträgliche Musikrotze dröhnt aus den Fast Food Läden, wie aus den niemals schließenden Bars. Jutta braucht Einiges aus der Drogerie und so shoppen wir heute auch etwas. Was ist das hier überhaupt für ein Laden? Hier gibt es irgendwie fast alles, was es im Supermarkt gibt, aber auch alles was eine Drogerie und ein Souvenirshop zu bieten haben. Darüber hinaus kann man auch jeden erdenklichen Alkohol kaufen, von Bier und Wein bis zum Wodka und Absinth. Ich finde zwei schöne Beercooler mit Las Vegas Motiven, einen für kleine Biere und einen für halbe Liter Dosen. Jutta findet ein toll riechendes Lemon Deo und noch andere nützliche Dinge.

Wieder draußen, die Einkäufe in kleine Beutel verpackt, scheint die Sonne und der Himmel ist blau. Wir haben angenehme 23 Grad und entsprechend laufen hier alle rum, freizügig und sommerlich. Das liebe ich auch an den USA, wenn man will, dann kann man in den Sommer fahren, auch im März.

The Vegas Strip

Leider sehen wir hier nicht nur feiernde Amis oder saufende Touristen, sondern auch, wie in allen anderen Großstädten, die gescheiterten Existenzen. Sie sitzen in den Ecken, liegen auf den Grünflächen oder hocken in irgendwelchen abgelegenen Eingängen. Ein Mädchen wühlt vor uns in einer Mülltonne und sucht nach etwas Verwertbarem. Sie redet in einer Tour mit sich selbst und sie sieht schwer Meth geschädigt aus. Ich nehme an, sie wird 20 Jahre jünger sein als es den Anschein hat. Wir sind viel zu gehemmt ihr etwas zu geben oder überhaupt Kontakt aufzunehmen. Ich würde ihr gerne ein Sandwich kaufen, aber mir geht es wie Jutta. Wir trauen uns nicht sie anzusprechen, weil wir befürchten ihre Reaktion könne unberechenbar sein. Vielleicht würde sie es dankend annehmen, dann hätte sie uns den Tag versüßt. Aber vielleicht würde sie uns das Sandwich auch um die Ohren hauen, weil sie gerade einen Film fährt. Ohne es herauszufinden, gehen wir frustriert weiter.

Bei dieser Gelegenheit muss ich wieder mal an einen Film denken. An einen meiner absoluten Lieblingsfilme. Irgendwie geht mir das dauernd so seit wir in den USA sind. Der Film an den ich jetzt denke heißt „Leaving Las Vegas“. Das ist kein lustiger Film, obwohl er seine komischen Momente hat, aber meist bleibt einem das Lachen im Halse stecken bevor die Szene zu Ende ist. Es geht um einen alkoholkranken Mann, der beruflich und privat gescheitert ist. Nachdem ihm gekündigt wurde, beschließt er nach Las Vegas zu gehen, um sich dort zu Tode zu trinken. Irgendwann lernt er die Prostituierte Sera kennen und beide verlieben sich ineinander. Sie geht ihrem Business nach, getrieben von ihrem Zuhälter und er lässt nicht von seinem Plan ab, sich mit dem Schnaps alle Lebenslichter auszuknipsen. Dieser Film ist meiner Ansicht nach ein Meisterwerk, inszeniert von Mike Figgis und die Aufnahmen der Stadt, die Kamera, der fantastische Soundtrack und ein unglaublicher Nick Cage machen daraus ein ganz besonderes cineastisches Erlebnis. Nicolas Cage hat für diese Rolle einen Oscar bekommen und auch seine Filmpartnerin Elisabeth Shue spielt an seiner Seite hervorragend und glaubwürdig die verzweifelte Prostituierte Sera.

Jedes Mal, wenn ich den Film im Waterhole schaue (selbstverständlich habe ich die DVD in meiner Sammlung) kann ich nicht umhin, einige Biere dabei zu trinken und evtl. auch mal einen White Russian oder einen Whisky…, etwas schräg ist das vielleicht schon, wenn man bedenkt, dass sich da einer zu Tode trinkt …

Wir bummeln weiter und kommen vorbei am Caesars Palace, am Bellagio, dem Flamingo und ich könnte noch etliche weitere Hotels, Casinos und Restaurants aufzählen, an denen wir entlang laufen, erspare uns das aber. Faszinierend finde ich es schon in so einer Metropole zu sein. Wo andere Regeln gelten, wo die Nacht niemals endet und wo es egal ist wer du bist, woher du kommst, was du angestellt hast und wohin du willst. Hauptsache du hast genug Geld, denn ohne eine prall gefüllte Brieftasche ist der Spaß ganz schnell vorbei.

Las Vegas Strip

Aber was mir ganz und gar nicht gefällt, das ist die schlechte Musik, der Mainstream und dass alles dem Kommerz und dem Dollar untergeordnet ist. Las Vegas ist eine Hure, wer am meisten bezahlt, nach dessen Pfeife wird getanzt. Ich sagte bereits etwas Ähnliches über Istanbul, aber in einem anderen Kontext. Und diese Stadt ist im Grunde billig, obwohl sie sehr hochpreisig ist. Ein Paradoxum.

Ein beliebiges Casino

Wo wir schon mal da sind, gehen wir natürlich auch kurz in ein Casino. Aber wir spielen nicht, sondern gucken nur. Damals haben wir uns mal probiert an den einarmigen Banditen, den Slotmaschinen und nach wenigen Minuten waren 20 Dollar weg. Es gab Freibier, deswegen wollte ich das mit dem Spielen unbedingt mal probieren. Aber man bezahlt seine Drinks doppelt und dreifach, solange man kein professioneller Poker-, Roulette- oder Black Jack-Spieler ist. Wir lassen es gut sein und brechen auf.

Hotel & Casino

Ich selber trinke und feiere gerne, bin gesellig und mag es schräg, bunt und laut. Aber auch bei unserem zweiten Anlauf werde ich nicht warm mit der Stadt. Zu viel Ballermann und zu wenig Rock ’n‘ Roll. Werden wir erneut früher abreisen als geplant?

Mal sehen was uns der Abend mit Elvis Presley bringt?

Vor der großen Elvis Show wollen wir noch einen Mittagsschlaf machen. Deswegen begeben wir uns auf den Weg zurück zu LEMMY, ein bisschen die aufkeimende Erkältung wegschlafen.

Nach dem kleinen Schläfchen machen wir uns fertig für einen hoffentlich umwerfenden Theaterabend. Da Jutta zuerst im Bad verschwindet um sich in Schale zu werfen, mache ich mir erstmal ein Bier auf. Noch hoffe ich das Beste, befürchte aber schon das Schlimmste.

Zu viel Ballermann, zu wenig Rock ’n‘ Roll

Was ich jetzt schon weiß, die Show ist in keinem der großen Hotels am Strip. Wir müssen ungefähr 20 bis 30 Minuten in die entgegengesetzte Richtung laufen, um zum Pegasus Show Room zu kommen. Diese Erkenntnis und andere kleinere Faktoren lassen mich immer mehr zweifeln an einer großen Las Vegas Show. So zum Beispiel auch der Saalplan, wo ich ungefähr einschätzen kann, wie viel bzw. wie wenig Leute da rein passen. Aber was soll’s? Die Tickets sind gekauft und bezahlt und ein Fünkchen Hoffnung habe ich mir noch erhalten können.

„Wie lange brauchst du noch?“, frage ich Jutta und bekomme zur Antwort: „Ich bin fertig!“

Ich ziehe eine lange Hose an und streife mir ein Hemd über, dann können wir los. Wir sind sehr rechtzeitig dran, da wir eine Weile laufen müssen und vorher noch etwas in der Bar trinken wollen.

Wir gehen über den Parkplatz und Jutta meint eine Abkürzung zu erkennen, eine kleine Rampe runter über einen komplett leeren Parkplatz. Wir sehen schon, dass der gesamte Parkraum eingezäunt ist, verlassen uns aber darauf, dass es schon eine Lücke geben wird, durch die wir dann gehen können, um auf den Bürgersteig zu kommen. Reingefallen. Es gibt eine winzige Lücke im zerschnittenen Gitter-Zaun, durch die die Obdachlosen zu ihren Zelten gelangen die unweit stehen, aber da würden wir uns vermutlich die Klamotten zerreißen.

Hilton Hotel

Wir müssen also umdrehen und verlieren ungefähr 20 Minuten, aber sind immer noch sehr früh dran. Nach einem netten Spaziergang kommen wir im Hotel an und fragen an der Rezeption nach dem Pegasus Show Room. Wir werden direkt weitergeleitet in den Bar- und Wartebereich. Eine andere Show läuft aktuell noch auf der Bühne und wir sehen einige der Darstellerinnen durch die Bar huschen. Ich bestelle uns zwei Bier und zahle mit Tip 20 $. Ich sage zu Jutta: „Das sind ja Preise wie im Puff!“, aber zum Lachen ist uns beiden nicht.

Drei offensichtlich sehr gut gestimmte Ladys kommen herein und sie sind nicht gerade zurückhaltend. Eine von Dreien ist recht attraktiv, die anderen Beiden sind die typischen Begleiterinnen, die die attraktive Blondine in Szene zu setzen haben. Die Blondine bestellt für alle drei verschiedene Cocktails und zahlt diese auch direkt. Es macht den Anschein, als kennen sie die Barfrau, jedenfalls scherzen sie offensiv mit ihr. Leise sind sie nicht gerade, aber das macht auch nichts. Wir wollen heute alle eine fantastische Elvis Show genießen. Aber braucht es für einen grandiosen Theaterabend so viel Alkohol? Die drei Damen haben bereits ordentlich getankt, das ist kaum zu übersehen.

Wir hören den Schlussapplaus der anderen Show, die gerade zu Ende geht. Dann huschen die Protagonisten wieder durch die Bar in ihre Garderoben und die Bühne wird umgebaut. Ich nutze die Gunst der Stunde und schaue schnell durch die halboffene Tür, um einen Blick auf die Bühne und den Saal zu erhaschen. Was ich da zu sehen bekomme, stimmt mich so gar nicht fröhlich. Der Saal ist winzig klein und die Bühne enttäuschend.

Jetzt ist es klar was uns erwarten wird: Keine große Las Vegas Elvis Presley Show mit Band und Orchester, keine fliegenden Pianos und kein Chor hübscher Background Sängerinnen. Wir bekommen wohl einen Hochzeits-Elvis zu sehen.

Und im Double Down Saloon ist heute Abend ein geiles Punkrock Konzert.

Nun ist es zu spät. Der Portier bittet uns alle in den Saal, aber ich brauche vorher noch eine kleine Bierdose für 10 $ von der Barfrau, um die Show zu überstehen. Dann folge ich den Leuten zur Bühne. Jutta hat bereits Platz genommen auf unseren VIP Plätzen. Die drei betrunkenen Ladys sind links von uns vor der Bühne und haben schon Kontakt zu den Nachbarn aufgenommen. Wenigstens die haben Spaß. Mir ist klar geworden, dass ganz genau das eingetreten ist, was mein größter Albtraum war. Es ist das passiert, was ich 2011 unbedingt verhindern wollte. Jetzt bekomme ich, was ich 2011 nicht wollte und 2011 hätte ich das bekommen, was ich heute will.

Wie grausam kann das Schicksal sein? Und warum eigentlich sind die Plätze auf denen wir sitzen VIP Plätze? Wir sitzen auf ganz normalen Stühlen. Vor uns sind einige Vierer-Tische mit ähnlichen Stühlen und hinter uns, eine Ebene höher, sind lederne Sofas. Ich sage etwas empört zu Jutta, dass sie sie nur VIP Plätze nennen, um den verdammten Stühlen einen Namen zu geben, der besser klingt, als das was es ist. Fast würde ich das Vorspiegeln falscher Tatsachen nennen.

Meine Laune saust steil abwärts, wie ein Aufzug im Empire State Building im freien Fall. Auf der Bühne ist hinter einer dreckigen Plexiglaswand ein kleines Drumset aufgebaut. Ich frage mich zum Einen: „Warum ist die dreiteilige Plexiglaswand voller schmieriger Handabdrücke und warum wird das nicht gesäubert nach dem Aufbau?“ Und zum Anderen: „Warum ist der Drummer hinter Glas, während Elvis, der Gitarrist und der Bassist ohne Schutz dastehen?“

Mein Hals fängt an zu kratzen, aber wenigstens kann man was zu trinken bestellen. Denn regelmäßig kommt jemand vorbei und fragt, ob es noch was sein darf.

Das Licht geht aus und es wird still im Saal. Sogar die drei besoffenen Weiber geben kurz Ruhe.

Dann wird es etwas heller und ein abgehalfterter Elvis betritt unter lautem Gejohle die kleine Bühne. Es folgen ein alter Gitarrist und ein jüngerer Basser. Elvis performt seinen ersten Song in einem roten Dress. Die Lichter über der Bühne sind etwas üppiger als die in meiner Garage, der Mermaid Lounge.

Jutta ist bemüht mich etwas aufzuheitern und bemerkt immer wieder: „Sooooo schlecht ist der doch gar nicht!“ Überzeugt wirkt sie aber auch nicht. Meine schlimmste Befürchtung ist wahr geworden, es ist ein Albtraum. Vor uns auf der Bühne steht eine schlechte Elvis Kopie. Er singt schlecht, sein Hüftschwung ist peinlich und tanzen kann er auch nicht. Aber die drei betrunkenen Ladys gehen ab wie Schmidts Katze. Das ist offensichtlich Entertainment nach ihrem Geschmack. Sie juchzen und schreien bei jeder noch so peinlichen Verbiegung von dem Möchtegern Elvis. Die beiden Herren an den Zupfinstrumenten versuchen, so gut es ihnen möglich ist, zu rocken. Aber sie scheitern genau so jämmerlich wie dieser Elvis. Da war der Thai-Elvis in Bangkok um Längen besser und erst recht der KL Elvis in Malaysia.

Was ist das für eine erbärmliche Show und warum toben und feiern die anderen Leute um mich herum alle? Sind sie alle so besoffen, dass sie nichts mehr merken oder ist das Niveau hier eben auf einer anderen Ebene? Ich verstehe es nicht so ganz, denn sogar Jutta sagt immer noch zwischendurch: „Sooooo schlecht ist der nicht!“

Ich sage nur ein Wort: „DOCH!“

I survived ……..the Elvis Show!

Ich bestelle mir noch ein Bier bei der Bedienung und dann kommt auch bald eine kurze Pause. Ich sage zu Jutta: „Wetten nach der Pause hat er seinen weißen Glitzeranzug an!“

Die Lichter werden gedimmt und ich fürchte, dass die Pause schon vorbei ist und sollte recht behalten. Elvis betritt die Bühne in seinem weißen Glitzeranzug und macht so weiter wie er aufgehört hat. Unerbittlich werden meine Augen und Ohren gequält und malträtiert. Als ob ich nicht schon genug mit der Erkältung und den Halsschmerzen auszustehen hätte.

Ruhige Passagen gibt es kaum, denn da würden wohlmöglich auch andere Zuschauer dahinter kommen, dass dieser Typ nicht singen kann. Als sich das Finale nähert ist das Ganze an Peinlichkeit kaum noch zu überbieten. Eine etwas unbeholfen wirkende Angestellte muss dem missglückten Elvis von der Seite einige kurze lilafarbene Seidenschals zuwerfen. Er fängt die meisten etwas ungelenk und legt sie sich um den Hals, um sie dann an geifernde Weiber weiterzureichen. Manche dieser lila Schals reibt er über seine nackte verschwitze Brust und gibt sie dann weiter. Die attraktive Blondine bekommt auch so ein Teil und kann ihr Glück kaum fassen. Sie kreischt und jubelt und streckt ihre Trophäe in die Luft, nachdem sie einen tiefen Atemzug genommen hat.

Sie wissen doch wohl schon, dass der Typ da vorne nicht der echte Elvis ist, oder?

Entsetzt und ratlos bleibe ich zurück, als nach einem heftigen Applaus der Saal geräumt wird. Ich trinke den letzten Schluck von meinem 10 $ Bier und dann gehe ich mit Jutta nach Hause. Es ist tatsächlich ein kleiner Trost, dass sie dem Abend ein wenig abgewinnen konnte und nicht alles ganz so fürchterlich fand wie ich. Das der Elvisimitator durch die übertriebenen Reaktionen der kreischenden Weiber oft leicht irritiert wirkte, fand sie sogar ganz amüsant.

Wir werden morgen Las Vegas verlassen. Einen Tag früher als geplant. So wie es vor elf Jahren schon gelaufen ist. Ich habe im Augenblick nicht mal mehr Lust in den Double Down Saloon zu gehen. Ich teile meinen Unmut auf Instagram und Facebook mit und mache keinen Hehl daraus, was ich von dem Wedding Chapel Elvis halte und bekomme prompt eine Reaktion darauf. Eine Freundin aus Vilsen schreibt mir: „Du hättest mal in den Double Down Saloon gehen sollen, da war ein geiles Konzert heute Abend.“

Ich schreibe zurück: „Schönen Dank Steffi, das weiß ich schon, aber wir haben uns heute für die falsche Show entschieden! Im übrigen werden wir morgen Vegas verlassen, ins Death Valley.“

Leaving Las Vegas! Sind doch eh nur ein paar helle Lichter in der Wüste, mehr nicht.

Zum zweiten Mal verlassen wir Sin City vorzeitig. Ob ich noch einen dritten Anlauf wage, irgendwann, kann ich nicht sagen, jetzt noch nicht. Jutta würde ein drittes Mal sicher nicht mitkommen.

Leaving Las Vegas

Wir haben ein klares neues Ziel definiert: Death Valley. Jetzt im Frühjahr ist die beste Reisezeit für diese extreme Region in Kalifornien, wo die Temperaturen im Sommer auf 50° Celsius und darüber steigen.

Es geht ein letztes Mal über den Strip, durch das abgefuckte East End und dann sehen wir Vegas nur noch im Rückspiegel. Bald darauf verlassen wir auch den Staat Nevada und queren die Landesgrenze nach Kalifornien. Der erste Punkt an dem wir halten wollen ist der Zabriskie Point.

Es sei nur am Rande erwähnt, dass es auch einen Film gibt, der nach diesem Ort im Death Valley benannt ist. Aber weder kenne ich den Film, noch weiß ich worum es darin geht. Aber als Filmfan ist mir der Titel des Streifens geläufig.

Während der Fahrt gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Unter anderem bedaure ich es sehr den Double Down Saloon in Vegas verpasst zu haben und noch mehr ärgere ich mich darüber, dass ich einmal mehr die falsche Entscheidung getroffen haben. Ich hätte mich gegen Elvis und für den Saloon entscheiden sollen, dann hätten wir sehr wahrscheinlich ein geiles Punkrock Konzert erlebt und nicht so einen armseligen Jahrmarktsbuden Elvis. Außerdem hätte ich dann von mir sagen können: „I was at THE BEST PLACE ON EARTH!“

Ich versuche all das hinter mir zu lassen und freue mich tatsächlich sehr auf die Wüste. Jutta ist leider nicht für große Städte zu begeistern und Wüsten und hohe Temperaturen liebt sie auch nicht besonders. Im Grunde kommen wir gerade aus einer großen Stadt in einer Wüste, aber die Temperaturen waren in Vegas sehr angenehm. Im Death Valley wird es erheblich wärmer werden, aber nicht so unerträglich heiß wie im Juli und August, denn es ist immer noch März. Wenn wir der Wettervorhersage vertrauen können, wird es nicht viel heißer als 30° werden.

Etwas über zwei Stunden Fahrt bis zum Zabriskie Point sind es schon und ich will im Auto keine bösen Überraschungen erleben, soll heißen keine schlechten Songs. Das hatten wir in Vegas mehr als genug. Deswegen hören wir Musik vom Stick und nicht aus dem Radio und genießen die Landschaft, die an uns vorüber zieht.

Zabriskie Point

Die besten Spots im Death Valley sind alle seit Monaten reserviert. Es ist High Season, dass kennen wir ja schon, aber wir haben Alternativen. Es gibt Campgrounds die noch nicht voll sind. Und man darf frei stehen (wie in der Mojave), wenn man sich mindestens eine Meile von der Durchgangsstraße entfernt hin stellt. Selbstverständlich nur auf ausgewiesenen Pisten, man darf nicht wild durch die Natur brettern. Das Death Valley ist trotz seiner Kargheit, trotz der extremen Temperaturen einer der artenreichsten Nationalparks der USA und einer der flächenmäßig größten Parks ist es auch. Es gibt eine unglaubliche Pflanzenvielfalt und auch die Fauna kann sich sehen lassen. Obwohl sie das damals nicht tat, „sich sehen lassen“. Jedenfalls hatten wir nicht das Glück eine Schlange, einen Skorpion oder eine große Vogelspinne zu sehen.

Vielleicht haben wir dieses Mal mehr Glück, dieses Mal im März und nicht im Hochsommer.

Ich sage zu Jutta, dass ich den Zabriskie Point noch genau vor Augen habe. Ich sehe quasi die Fotos vor mir, die ich damals geschossen habe. Sie sieht es noch nicht, aber wenn wir gleich da sind, dann wird sie es wieder erkennen, da bin ich sicher. Nur noch drei Meilen, dann sind wir da, kündigt ein Schild am Straßenrand an.

Ich parke und wir spüren sofort die Hitze, als wir die mit Aircondition runtergekühlte Fahrerkabine verlassen. Eine große Schautafel weist uns sofort darauf hin: HEAT KILLS! Um dieser Aussage Nachdruck zu verleihen ist darunter ein Grabstein abgebildet von Val Nolan, einem Opfer der Elemente.

Zabriskie Point

Dann folgen noch in mehreren Sprachen, auch in deutsch, einige Hinweise, die unbedingt beachtet werden sollten.

Wir kennen das aus anderen Wüsten, doch das Death Valley ist extremer und heißer als andere Wüsten, jedenfalls im Sommer. Wir müssen uns im Augenblick keine großen Sorgen machen, denn erstens haben wir immer noch März und zweitens kennen wir die Regeln. Trotzdem fasse ich die wichtigsten Warnhinweise kurz zusammen:

  1. Immer reichlich Wasser dabei haben (im Fahrzeug sowieso, aber auch bei Wanderungen!)
  2. Bei Wanderungen umdrehen, wenn der Wasservorrat zur Hälfte aufgebraucht ist.
  3. Im Fall einer Pannen beim Fahrzeug bleiben und auf Hilfe warten.
  4. Nirgendwo hintreten oder hin greifen, was man nicht genau sehen kann. Es gibt giftige Schlangen, Skorpione und Spinnen.
  5. Im Sommer höhere Lagen aufsuchen und die Tiefebene meiden.
  6. Es gibt selten Handyempfang, eine Karte und gesunder Menschenverstand kann Leben retten
  7. Auf befestigten Straßen bleiben.
  8. In Canyons mit Sturzfluten rechnen und immer bereit sein, höhere Lagen aufzusuchen.

Die meisten Todesfälle gibt es durch liegengeblieben Fahrzeuge. Man sollte bedenken, wo man ist und darauf vorbereitet sein. Es gibt Berge im Death Valley. Das bedeutet, das Fahrzeug muss bei extremer Hitze arbeiten und Steigungen bewältigen, es sollte technisch einwandfrei funktionieren. Habe ich genug Diesel im Tank? ist nur eine von vielen Fragen, die man unbedingt mit „JA!“ beantworten sollte, bevor man in diese lebensfeindliche Umgebung fährt.

Wir sind sensibilisiert, besonders was den Diesel angeht und fühlen uns gut präpariert für das Death Valley, schließlich waren wir schon mal hier, sogar im Hochsommer.

Jutta erkennt alles wieder und wir machen uns auf den Weg den Hügel zu erklimmen, um die Aussicht auf die Umgebung zu genießen. Es weht ziemlich stark, was zum Einen eine gute Abkühlung bietet, aber das Fotografieren wird erschwert. Jedenfalls wenn man scharfe Bilder bevorzugt. Um uns herum sehen wir Berge und Täler, mal sind die Berge sandfarben und dann wechselt die Farbpalette von dunkelbraun bis rostrot. In den Tälern flimmert die Luft über dem Boden und der Himmel ist blau. Aber darunter ziehen schnell weißgraue Wolken von Westen nach Osten.

Ich freue mich wieder hier zu sein, aber wir müssen noch etwas weiter fahren, nämlich zu unserem Stellplatz für die kommende Nacht, dem Sunset Campground in Furnace Creek.

Furnace Creek Campground

Mehr ist für heute nicht geplant, denn wir werden für ein paar Tage hier bleiben, um etwas tiefer einzutauchen und etwas mehr zu erfahren über diese Wüste, als beim letzten Mal. So steigen wir also wieder runter vom Zabriskie Point und fahren zu unserem Übernachtungsplatz. Da ich weiß, dass LEMMY technisch einwandfrei funktioniert, drehe ich die Aircondition auf volle Pulle, ohne mir darüber Gedanken machen zu müssen, dass er überhitzen könnte.

Als wir den Stellplatz erreichen sind wir erstmal nicht gerade begeistert, denn im Grunde ist es ein großer Parkplatz in der Wüste. Na ja, dass die besten Campsites schon seit langem vergeben sind wussten wir vorher. Aber so übel ist der Platz gar nicht, nur der heftige Wind trübt etwas die gute Laune. Egal, jetzt sind wir hier und für heute ist auch keine weitere Aktivität geplant. Da können wir es uns genauso gut gemütlich machen und uns auf das freuen, was vor uns liegt. Und das ist Einiges!

Zum Abend gibt sogar der Wind klein bei und verzieht sich, so dass wir einen traumhaften Sonnenuntergang erleben, ohne dass der Wüstensand die Sicht trübt.

Wüsten Camp

Für den kommenden Tag haben wir einige Programmpunkte und beginnen werden wir mit einer Wanderung durch den Golden Canyon bis zum Endpunkt der Red Cathedral. Dazu müssen wir allerdings erst ein Stück fahren, da es etwas von unserem Camp entfernt liegt. Der Parkplatz bietet ausreichend Platz für alle Wanderwilligen. Als Erstes füllen wir die Wasserflaschen bis zum Rand und dann geht es los. Noch liegt die Temperatur bei angenehmen 26°. Es ist 11 Uhr am Vormittag und meist spendet ein Rand des Canyons Schatten, je nachdem wie der Weg sich vorwärts schlängelt. Es gibt zwischendurch Entfernungsangaben auf kleinen Schildern am Wegesrand und als Jutta sieht, dass es noch über 1,2 Meilen sind bis zur roten Kathedrale und die Sonne immer unerbittlicher auf uns niederbrennt, entschließt sie sich zurückzukehren und im Auto zu warten. Einen großen Teil des Weges und einen tollen Eindruck vom Canyon haben wir ja auch bereits hinter uns. Ich will trotzdem weiter bis zum Endpunkt wandern, denn es gefällt mir, dass nicht viel los ist und meine Wasserflasche ist noch fast voll. Als ich am Ende des Weges ankomme, halte ich Ausschau nach einem Felsen, der mit einer Kathedrale Ähnlichkeit hat, finde aber nichts Eindeutiges. Rote Felsen sehe ich und mit viel Fantasie könnte man vielleicht auch eine Kathedrale hineininterpretieren, aber mir will es nicht so richtig gelingen. Ich habe reichlich Wasser getrunken und möglicherweise sieht man die Red Cathedral besser, wenn man ordentlich dehydriert ist. Wer weiß, wer diesem Ort seinen Namen gegeben hat?

Im Hintergrund: Red Cathedral

Ich steige noch einen relativ steilen Hang hinauf, um eine besser Sicht zu haben, finde aber auch von hier keine Anzeichen einer Kathedrale. An anderer Stelle klettere ich wieder runter in den Canyon und begebe mich auf den Rückweg. Die Temperatur hat jetzt sicher die 30° Marke erreicht, aber mir macht das nicht viel aus, im Gegenteil. Ich liebe es warm und gerne auch noch mit einer hohen Luftfeuchtigkeit dabei, was hier allerdings nicht der Fall ist.

Golden Canyon

Etwa eine halbe Stunde später bin ich wieder auf dem Parkplatz, wo Jutta es sich hinten in der Kabine mit einem Buch bequem gemacht hat.

Durch den Golden Canyon, teilweise recht eng…

Meine Wasserflasche ist geleert und wird direkt wieder aufgefüllt, dann geht es weiter zum Devil’s Golf Course. Auch hier bleibt mir verborgen, warum diese weite Ebene so genannt wird. Die Fläche sieht aus, als sei sie von einem riesigen Traktor umgegraben worden und die Salzkruste dieser verkraterten Fläche ist aufgrund seiner scharfen Kanten sehr gefährlich. Sollte man abrutschen beim Kraxeln über das Gelände, könnte man sich tiefe und große Schnitte an den Knöcheln und Schienbeinen zufügen. Einzig dem Teufel wäre es möglich hier Golf zu spielen, denn mit seinen Pferdehufen kann er ungehindert in dieser verkraterten Umgebung umherlaufen. Dies ist denn auch die einzige Erklärung die mir einfällt für den Namen: „Devil’s Golf Course“.

Ziemlich windig heute

Die wir weder Golf spielen noch Pferdehufen haben, verlassen wir nach kurzem Erkunden diese nicht gerade behindertengerechte, aber sehr eindrucksvolle Sehenswürdigkeit. Die Berge um uns herum sind eh nur durch einen Schleier sichtbar, durch den umher wehenden Sand. Was ich allerdings dazu anmerken muss. Es gibt überall markierte Parkplätze für Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Menschen. Egal wo im NP und wie abgelegen es ist, sollte man mit dem Auto zu einer Sehenswürdigkeit kommen, dann wird es dort einen gesonderten Parkplatz, einen gut zu bewältigenden Weg und in der Regel auch behindertengerechte Toiletten geben. Das ist etwas, wo wir in Europa und in Deutschland noch von unseren Nachbarn auf der anderen Seite des Atlantiks lernen können.

Devil’s Golf Course

Weiter geht es nach Badwater, besser gesagt ins Badwater Basin, 85,5 Meter unter dem Meeresspiegel. Nicht weit vom Devil’s Golf Course erreichen wir eine hohe Bergkette mit dem Dantes View, nur leider sind wir genau auf der anderen und unzugänglichen Seite von diesem Aussichtspunkt. Um dort hoch zu gelangen, müssten wir mit vielen zusätzlichen Meilen diese Berge umfahren, worauf wir heute keine Lust haben.

Wir wollen noch einen Schlenker fahren zur Artist’s Palette. Dort geht es so schön steil rauf und sofort wieder runter, fast wie in einer Achterbahn. Deshalb dürfen auch keine Gespanne und lange Fahrzeuge diesen Abschnitt befahren. Ich habe vergessen wie viel Fuß ein Camper maximal messen darf, um in den Genuss dieser reizvollen Strecke zu kommen. Es ist aber deutlich gekennzeichnet, so dass niemand unbeabsichtigt in Schwierigkeiten gerät und nicht die Kurve kriegt oder in einer Senke oder auf einer Kuppe aufsetzt.

Aber zunächst stehen wir am Berg unter dem Dantes View und parken LEMMY in Badwater. Mal sehen wie es sich anfühlt, wenn wir das runtergekühlte Cockpit verlassen. Der Wind hat etwas nachgelassen und es ist hot. Aber wir kennen es hier noch viel heißer. Als wir mal im August hier waren hatten wir 47°, jetzt sind es wohl knapp über 30° und ich bin froh, dass Jutta mich begleitet auf diese lange, weiße Salzkruste, die links und rechts flankiert wird von den dunkleren Salt Flats. Beim letzten Besuch musste ich alleine gehen, weil Jutta die extreme und trockene Hitze kaum aushalten konnte und das Gefühl hatte, dass die Sonne ihr die Haut von den Knochen brennt.

Badwater / Death Valley

Heute geht es besser und mit gut gefüllten Wasserflaschen marschieren wir los. Damals steckte ein großes Thermometer im Boden, das suche ich leider vergebens. Dort konnten wir die Temperatur genau ablesen, doch vermutlich hat es einen Liebhaber gefunden und wurde entführt. Im Umkreis von einigen hundert Metern um uns herum ist alles gut zu erkennen, doch die Berge in der Ferne verschwimmen wie bei einer Fata Morgana. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich die Bergkette vor uns gar nicht wahrnehmen. Wir laufen bis in den fast runden Mittelpunkt dieser weißen Salzkruste und kehren dann um. Auf den Schildern steht allerhand Wissenswertes, zum Beispiel dass es oben auf dem Dantes View Point bis zu 14° kühler ist als hier unten im Badwater Basin. Die Rekordtemperatur wurde vor Jahrzehnten bereits gemessen. Das war im August und es waren 57° Celsius.

Badwater Basin

Dieser Ort ist einer der heißesten auf der Erde und es fällt am wenigsten Niederschlag in ganz Nordamerika. Mit diesen Erkenntnissen begeben wir uns auf den Weg zum Parkplatz, um dann weiter zu fahren zur Artist’s Palette.

Walking on sunshine

LEMMY starten, Aircon eine Stufe höher drehen und los geht’s. Obwohl der Death Valley N. P. recht groß ist, sind die Hotspots relativ dicht beieinander. Ich hätte auch noch richtig Lust darauf, unser Wüstenabenteuer zu intensivieren und in die ganz abgelegenen Ecken zu fahren, die nicht minder attraktiv sein sollen. Aber Jutta ist und wird kein Wüstenfan mehr, das sagt sie mir ganz deutlich und sogar jetzt im März ist es ihr zu heiß. Wie in Florida ist auch hier im Frühjahr die beste Reisezeit. Es ist High Season, da es nicht ganz so extrem heiß ist wie im Hochsommer, aber damit kann ich sie nicht umstimmen.

Badwater / Death Valley

Ich biege rechts ab in die kleine Einbahnstraße und den Beginn der Scenic Route zur Artist’s Palette. Es dauert nicht lange und die Wellen der Straße beginnen. Würde ich den Höhenverlauf auf einem Blatt Papier aufzeichnen, dann wäre es eine Art Wellendiagramm, relativ gleichmäßig rauf und wieder runter. Manchmal kommt aber direkt auf dem Scheitelpunkt eine Kurve. Da muss ich dann ganz besonders aufpassen, dass ich nicht zu schnell bin, denn dann könnte ich aus der Kurve fliegen. Man kann es vorher unmöglich sehen, weil jeder Hügel ein „Blind Summit“ ist. Also kann ich immer erst im letzten Moment sehen, ob es links, rechts oder geradeaus weiter geht. Ich nehme schon immer Anlauf, wenn ich den letzten Scheitelpunkt hinter mir habe und in der Abwärtsbewegung bin. Aber Jutta hat weniger Spaß als ich und schimpft mit mir, weil ich zu schnell unterwegs bin. Ich drossele etwas das Tempo, so dass sie zufrieden ist und ich trotzdem noch auf meine Kosten komme. In der ersten Kurve werde ich tatsächlich auch überrascht, dass es sofort rechts rum geht. Aber weil ich sehr aufmerksam fahre geht alles gut. Da man hier nicht mit Gegenverkehr rechnen muss, ist es eine wilde Achterbahnfahrt.

Parken bei der Artist’s Palette

Bei der Artist’s Palette halte ich kurz, um ein paar Fotos von den red, pink, orange, purple, yellow, green and magentafarbenden Rocks zu schießen, während Jutta im kühlen Auto wartet. Ich sehe eine ältere Dame auf einem Steinhaufen sitzen, sie ist in Begleitung einer jungen Frau, möglicherweise die Tochter. Aber weil es beschwerlich ist hier hoch zu kommen, frage ich nach ob alles OK ist. Sie versichern mir lächelnd und offensichtlich erfreut, es ist alles in Ordnung. Sie machen nur eine kleine Verschnaufpause, so dass ich beruhigt weiter gehen kann. Oben angelangt mache ich schnell ein paar Fotos und wir haben immer noch Zeit für einen weiteren Hotspot, die Mesquite Flat Sand Dunes. Auf dem Weg runter sehe ich die beiden Ladys, jetzt wieder auf den Beinen. Ich winke ihnen kurz zu und sie erwidern es.

Artist’s Pallette

Als wir nach ein paar Meilen bei den Sand Dunes ankommen, sehe ich einen LKW, der mir irgendwie bekannt vorkommt. „Guck mal da vorne!“, sage ich zu Jutta, „das ist doch der LKW den wir in der Mojave National Preserve bei den Sanddünen gesehen haben!“ „Ja stimmt, ist ja witzig.“, sagt Jutta. Es ist niemand beim oder im Fahrzeug, so dass wir uns erstmal auf den Weg zu den Dünen begeben.

Ich hatte in der Mojave Wüste, im Vorbeifahren ein Foto vom LKW gemacht und habe gesehen, dass jemand von innen gewunken hat. Mehr konnte ich allerdings nicht erkennen.

Der Wind hat wieder etwas zugelegt und deshalb macht es gerade nicht soviel Spaß von einer Düne zur Nächsten zu laufen. Ich bin auch nicht ganz zufrieden mit den Fotos, die ich mache, denn der Himmel ist kaum zu sehen und die Kulisse verschwimmt vor mir. Jutta dreht direkt ab zum Auto, ich will wenigstens noch etwas weiter in die Dünenlandschaft vordringen. Wenn morgen weniger Wind ist, kommen wir noch mal hierher zurück. Wenn es genau so doll weht, dann habe ich wenigstens ein paar Schnappschüsse gemacht. Mit knirschenden Zähnen und Sand in den Schuhen erklimme ich eine Düne nach der Anderen, bis auch ich genug habe und kehre zum Parkplatz zurück. Es ist schon eine wahnsinnige Landschaft und so stelle ich mir auch die Sahara vor, nur viel, viel größer. Jetzt will ich morgen doch unbedingt noch mal hierher kommen, um mein Glück zu versuchen und bin sicher, es wird ein traumhaft windstiller Tag werden.

Mesquite Flat Sand Dunes

Nach der letzten Düne nehme ich einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und spüle den Sand runter. Danach leere ich meine Turnschuhe und es entsteht eine Minidüne zu meinen Füßen.

Death Valley

Jetzt sehe ich LEMMY auf dem Parkplatz und drei Leute stehen davor und unterhalten sich. Das wird wohl Jutta sein und die beiden Trucker, bin ich mir sicher. Er sieht aus wie einer der Jungs von ZZ Top und daneben, das wird wohl seine Frau sein. Ich komme dazu, stelle mich kurz vor und die Unterhaltung wird fortgesetzt. Die Beiden kommen aus Alaska und sind ohne Zeitlimit unterwegs.

Kurzes Trucker Treffen

Sie sind schon länger im Ruhestand und lieben das Reisen. Wir plaudern eine ganze Weile und erzählen dann auch von unseren Plänen und auf welcher Route wir bis ins Death Valley gekommen sind. Dann verabschieden wir uns, ohne zu ahnen, dass wir uns morgen wieder begegnen.

Es ist schon bald Abenddämmerung und vor lauter Abwechslung haben wir völlig das Mittagessen und den Nachmittagskaffee vergessen. Jetzt stellt sich auch langsam ein Hungergefühl ein und der Magen beginnt zu knurren. Wir verschieben den Mosaic Canyon auf morgen.

Auf dem Weg in unser Camp diskutieren wir, ob wir eine dritte Nacht im Death Valley verbringen oder ob wir morgen schon abreisen werden, nach dem Tagesprogramm, versteht sich. Jutta möchte gerne weiterfahren und ich erkläre mich bereit dazu. Wir haben heute im Laufe des Tages sehr viel zu sehen bekommen, es hat viel geweht an beiden Tagen und in den abgelegenen Teil des Valleys fährt sie mit mir auf gar keinen Fall. Dann können wir eigentlich morgen auch weiter fahren. So kann Jutta mir wenigstens nicht vorwerfen, dass es immer so geht wie ich es will.

Furnace Creek Camp

„Wir müssen uns überlegen, wie es überhaupt weiter gehen soll.“, sagt Jutta. Das war selbstverständlich vor einigen Tagen schon mal Thema, aber jetzt werden wir eine Entscheidung treffen müssen.

„Ja stimmt.“, sage ich, „das sollten wir heute Abend mal besprechen.“

Sammelstelle

Im Camp angekommen machen wir uns was zu essen und gehen unsere Optionen durch. Ursprünglich wollten wir von hier aus in den Yosemite National Park fahren, so wie damals vor elf Jahren. Aber das verwerfen wir, weil der Tioga Pass frühestens ab April/Mai zu befahren ist. Nicht so schlimm, finden wir beide. Wir waren ja bereits dort. Dann überlegen wir in den Sequoia National Forest zu fahren, aber der Wetterbericht spricht von sehr viel Schneefall und Temperaturen um den Gefrierpunkt in den kommenden Tagen. Der Park liegt deutlich höher als das Death Valley und von über 30° Celsius und Wüstenklima wollen wir nicht direkt in den Winter hoch in die Berge fahren.

So wie es aussieht müssen wir komplett umdenken, aber das können wir ganz gut. Wir entscheiden uns nach Oceano zu fahren, an den Pismo Beach. Dort kann man direkt am Strand stehen mit seinem Camper. Das wollte ich immer schon mal machen. Danach sehen wir weiter. Auch wie weit wir kommen, auf dem Weg zum stillen Ozean, werden wir unterwegs raus finden. So ist das erstmal beschlossene Sache und wir schauen uns noch einen Film an, bevor wir zu Bett gehen.

Heute ist Reisetag und der beginnt windstill mit viel Sonne, blauem Himmel und reichlich Morgenkaffee. Beim Auschecken nach dem Frühstück gibt es noch einen Death Valley Kaffeebecher aus dem Stove Pipe Wells Shop. Eine Tankstelle gibt es hier auch, Benzin UND Diesel sind erhältlich. Ab 10,89 $ aufwärts ist man dabei für eine Gallone. Wie gut, dass ich aus vergangenen Fehlern gelernt und vor der Wüste den Dieseltank bis zum Rand aufgefüllt habe. Wir fahren zuerst zu den Sanddünen. Solange der Himmel so schön blau und klar zu erkennen ist, will ich die Chance auf ein paar bessere Fotos in den Dünen nutzen. Jutta reicht noch der Eindruck von gestern, also gehe ich alleine los, die Wüste ohne Wind zu erkunden. Viel ist noch nicht los heute morgen, das gefällt mir besonders gut und am liebsten würde ich meine hohen Turnschuhe ausziehen in dem warmen Sand. Aber ich weiß, es gibt hier Klapperschlangen und giftige Skorpione und auch Spinnen. Da bin ich lieber vorsichtig, denn besonders Spinnen liebe ich so gar nicht.

Stove Pipe Wells in Furnace Creek

Schlangen mag ich sogar und Skorpione finde ich nicht schlimm, obwohl sie zur Gattung der Spinnen gehören. Sie sind artverwandt und gehören zu den Arachniden. Also nehme ich den Sand in den Schuhen in Kauf und steige von einer Düne auf die nächste Düne, so wie gestern schon.

Mesquite Flat Sand Dunes

Wo die Wüste aus dem Fernsehbeitrag liegt, von der ich im letzten Chapter (oder vorletztem Chapter?) geschrieben habe oder wie die Doku hieß, die ich damals sah, weiß ich immer noch nicht und ich fürchte ich finde es auch nicht mehr heraus. Denn immer wenn ich gerade daran denke, dann habe ich keine Zeit oder keine Lust zu recherchieren. Oder es ist kein Netz verfügbar. So wie in diesem Augenblick. Es ist so wunderschön, ganz alleine in dieser stillen und einsamen und sich ständig verändernden Umgebung. Gerade befinde ich mich in einer Senke und sehe nur die Sandhügel um mich herum. Ich muss mir hier keine Sorgen machen, dass ich mich verlaufe, denn bei dieser guten Sicht erkenne ich die Bergketten in der Ferne, sobald ich wieder auf eine Düne hochsteige. Dann sehe ich wieder in welche Richtung ich laufen muss. Außerdem tauchen immer irgendwo andere Dünenwanderer auf und das Gebiet ist überschaubar. Im Hochsommer, wenn wenig Leute unterwegs sind und bei starkem Wind, könnte man leicht die Orientierung verlieren. Und wenn dann nicht genug Wasser parat ist, dann gute Nacht.

Ich denke: „ Jetzt habe ich genug Fotos.“ und mache mich auf den Rückweg. Schlangen, Spinnen und Skorpione sehe ich leider keine. Schade. Angekommen am Rande der Dünen leere ich meine Schuhe aus und fotografiere noch eine Sidewinder Schlange von einer Schautafel ab.

Dieses Bild zeige ich Jutta, als ich zurück bin als Erstes. Mit den Worten: „Was sagst du dazu?“

The Sidewinder

„Wow, wie cool is das denn?“ Mein, mir nicht gerade angeborenes, Pokerface verrät mich, denn ich muss lachen und sie durchschaut den Trick.

Weiter geht es zum Mosaic Canyon. „Hey, guck mal da, den LKW kennen wir doch.“, sage ich zu Jutta, als ich den ZZ Top Camper erspähe. „Na so was, dann wandern die wohl auch hier!“, sagt Jutta.

Die Beiden aus Alaska

Wasserflaschen füllen bis zum Rand und rein in den Canyon. Bei so einem Wetter, ohne Wind und knirschenden Zähne macht es mir viel mehr Spaß, aber Jutta ist es zu heiß und sie stoppt, kurz nachdem wir einige Kurven hinter uns gelassen haben und die Rentner aus Alaska treffen und wartet im Schatten. „Ich gehe noch etwas weiter, bis meine Wasserflasche halb leer ist.“, sage ich und dann gehe ich. Ich wandere die Schlucht entlang, mal ist sie ganz eng und spendet Schatten, dann wird sie wieder breiter und die Sonne brennt unerbittlich von oben auf meine Mütze.

Mosaic Canyon

Vor mir sehe ich einen natürlichen Torbogen, einen Arch sozusagen und halte es für eine gute Idee die linke, offene Röhre (so eine Art Kamin mit nur drei Seiten) hochzusteigen. Ich finde genügend Halt und Griffe, um ohne Problem hoch zu kommen. Oben genieße ich die Aussicht und mache einige Bilder, bis mir einfällt, dass ich auch irgendwann, irgendwie wieder runter klettern muss. Das stellt sich jetzt allerdings als gar nicht so einfach heraus. Im Augenblick kann ich mich nicht daran erinnern wie ich meine Wasserflasche hier hinauf befördert habe. Genau das scheint mir jetzt zum Verhängnis zu werden. Ich traue mir ohne Weiteres zu, heile hier herunter zu kommen, aber nicht mit meiner Wasserflasche, die jetzt zu meinem Handicap geworden ist. Und was soll ich Jutta sagen, wenn ich zurück bin? „Tja Schatz, meine Wasserflasche habe ich leider irgendwo vergessen, weil mich ein wilder Puma angegriffen hat.“ Keine gute Idee. Runter werfen will ich sie auch nicht, denn dann würde sie vermutlich platzen, da sie aus Plastik ist und es einige Meter abwärts geht. Ich benutze meine Autowasserflaschen bis zu einem halben Jahr, bis ich sie dann gegen eine neue Flasche ersetze. Es gibt ja immerhin 25 Cent Pfand dafür. Nee, Spaß beiseite, darum geht es nicht. Ich will einfach nicht in Erklärungsnot geraten, warum denn meine Wasserflasche weg oder kaputt ist. Es könnte so aussehen, als ob ich etwas Unüberlegtes getan habe. Also brauche ich Hilfe, fällt mir dann als ein möglicher Lösungsweg ein. Ich beobachte, aus meiner Deckung heraus, wer vorbei kommt und dann schlage ich zu. Eine Familie mit zwei Kindern sehe ich um die Ecke biegen. Ungeeignet denke ich mir. Warten. Nur Geduld, der Richtige wird schon kommen. Ein junges Pärchen kommt als Nächstes vorbei. Sie scheinen frisch verliebt zu sein. Soll ich ihm die Chance geben sich als Held aufzuspielen?

Mosaic Canyon, extrem hot

Seiner Freundin könnte es imponieren, aber ich denke: „Es ist noch immer etwas Wasser in meiner Flasche, also warte noch. Er würde die Flasche bestimmt fallen lassen. Du hast noch ein wenig Zeit. Bloß nicht in Panik geraten.“ Die Mittagssonne ist gnadenlos und ich gönne mir einen winzigen Schluck aus der Flasche. Niemand kommt um die Ecke gebogen. Was soll ich nur machen? Abwarten und ruhig bleiben, sage ich zu mir selber. Soll ich ohne meine Autoflasche zurück kehren, dafür aber lebend und unversehrt? Wenn ich den ganzen Rest jetzt trinke, wird es wohl reichen bis zu dem Platz wo Jutta wartet? Bestimmt hat sie noch etwas Wasser in ihrer Flasche. Ich weiß nicht was ich tun soll, aber dann keimt ein Fünkchen Hoffnung auf. Ein kräftiger Kerl biegt um die Ecke und ich nutze den Überraschungsmoment. „Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie meine Wasserflasche auffangen, damit ich hier herunter klettern kann?“ Er guckt mich verdutzt an, nickt mir aber zu. Ich habe etwas feuchte Hände und der Schweiß rinnt mir von der Stirn ins Auge. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Stirn und fixiere den Typen etliche Meter unter mir. Er nickt mir zu und ich weiß, er kann es schaffen. Ich werfe und in Zeitlupe fliegt die Flasche in seine Richtung, sie dreht sich dabei mehrmals um ihre eigene Achse. Er fängt sie sicher.

Warum nur muss ich überall rauf?

Mein gut ausgetüftelter Escape Plan geht auf und unversehrt komme ich mit heiler, aber fast leerer Wasserflasche bei Jutta an. Ohne zu ahnen in welcher Lage ich mich befunden habe, setzt sie ihre Fahrt mit mir fort.

Wir verlassen die Wüste und ich denke mir im Stillen: „What happens in Death Valley, stays in Death Valley.“

Bye bye Death Valley

Der Weg raus aus der Wüste ist allerdings nicht so einfach. Wir verfahren uns aber nur einmal, dann sind wir wieder auf dem richtigen Weg. Meistens sind es asphaltierte Straßen auf denen wir fahren, selten sind es Pisten und Dirtroads. Die Orte durch die wir kommen sind zum Teil schon echt schräg und abgewrackt. Manchmal sind es nur wenige Häuser links und rechts an der Durchgangsstraße und selten gibt es eine intakte Infrastruktur, wie Post, Schule, Restaurant und Supermarkt. Was zuletzt stirbt sind die Liquor Stores und Bars. Die Menschen, die wir in diesen Ortschaften sehen, sprechen für sich.

„Auf nach San Francisco!“

…und was als nächstes geschieht…

CHAPTER IX – FRISCO, VIEL MEHR ALS GOLDEN GATE BRIDGE UND HIPPIEKULT

…und wie wir uns in die Straßen von San Francisco verlieben…

Chapter 21 – Californication, vom Atlantik zum Pazifik, einmal quer durch die USA, in die Stadt der Engel

und wie wir in LOS ANGELES in Lemmy Kilmisters Stammkneipe den Rock ‚N‘ Roll spüren und in West Hollywood an Johnny Ramones Grab stehen…

Mit einem guten Gefühl, mit reichlich Wasser und mit einem randvollen Long Ranger Dieseltank starten wir von einer Wüste in die nächste Wüste. Es geht in die Hochwüste, in den Joshua Tree National Park. Wie schon davor im Arches N. P. ist dort online bereits alles ausgebucht, denn jetzt ist Spring Break und die Kids haben frei und wollen feiern. Wir wollen trotzdem unser Glück versuchen und hoffen auf „First come, first serve“ Campgrounds.

Joshua Tree N. P. – first come, first serve Campsite

Weit müssen wir nicht fahren und da wir in Desert City sehr früh loskommen, rechnen wir uns gute Chancen aus eine nette Campsite zu ergattern.

Unterwegs erzähle ich Jutta von einer Doku, die ich mal gesehen habe. In der geht es um den letzten freien Ort in Amerika. Leider fällt mir der Titel der Doku nicht mehr ein und auch nicht der Name des Ortes. Ich weiß nur noch, dass es in einer kalifornischen Wüste ist, aber nicht in welcher. Dort leben viele Menschen in ihren Campern und Jeder der will, kann sich einfach dazu stellen, ohne etwas bezahlen zu müssen. Der letzte freie Ort Amerikas. Natürlich zieht so ein Ort auch ne Menge schräger Vögel an, gescheiterte Existenzen, Lebenskünstler, Exoten und Junkies, Alkoholiker und Leute auf der Flucht. Aber auch viele Kreative, viele Künstler, Freidenker, Aussteiger oder solche, die sich dafür halten.

Ich behaupte ja, es gibt keine „Aussteiger“. Es gibt nur „Umsteiger“. Woraus sollte man auch aussteigen? Aus dem Leben? Ok, das ist vielleicht der einzige Ausstieg, den ich gelten lasse. Ansonsten ist es kein Ausstieg, sondern nur ein Umsteigen in ein anderes Leben. Wahrscheinlich ist sogar der Suizid nur ein Umsteigen in eine andere Dimension.

Ich kann aus der Arbeit aussteigen, aus der Zivilisation, ich kann alles hinter mir zurück lassen, doch immer wird danach etwas Anderes kommen.

Irgendwann, kurz nachdem Jutta und ich uns kennengelernt haben, da hat sie mal etwas Interessantes zu mir gesagt: „Ich habe einen Hang zu gescheiterten Existenzen!“

Das waren in der Tat ihre Worte. Sie hat es allerdings auch erklärt. Ich war sehr blass und dünn damals und habe mir die langen Haare schwarz färben lassen, sah irgendwie aus wie ein Junkie. Von der Realschule bin ich geflogen, weil ich kein Interesse am Lernen, sondern mehr am Feiern hatte. Ich war auch fast nie pünktlich im Unterricht, weil ich getrampt bin morgens und es immer ungewiss war, wann jemand hält und oft war ich zur letzten Stunde nicht mehr anwesend. Trotzdem habe ich dann irgendwie die Kurve gekriegt und erkannt, dass ich was tun muss, wenn ich irgendetwas haben will, denn geschenkt bekommt man nichts. Ich habe also sehr schnell begriffen, dass es einzig und allein an mir hängt, wie mein weiteres Leben verlaufen wird. Einen Anteil daran hat vermutlich auch mein alter Deutschlehrer Rolf Bischof. Wir hatten nur sehr wenig Fachunterricht bei ihm, denn mit nur einer guten Frage konnte man Rolf (wir duzten ihn alle) dazu bringen den Unterricht beiseite zu lassen und zu reden. Vielleicht hat er den entscheidendsten Satz zu mir gesagt, ganz beiläufig, ohne zu ahnen, was es bei mir bewirkt: „Es kommt nicht auf den Abschluss an, um etwas zu erreichen, sondern auf die Initiative und Motivation!“

Jutta hat also trotz ihrem Hang zu gescheiterten Existenzen jemanden bekommen, der nicht gänzlich gescheitert ist, sondern nur in Teilbereichen, wie wohlmöglich Jeder von uns.

Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja, an diesen Ort in der Wüste möchte ich gerne fahren, dort wo die ganzen durchgeknallten Leute sind, die Freigeister, die Verrückten, die Sonnenanbeter, die Faulenzer und Säufer. Wir beschließen, später nochmal genauer zu recherchieren, wo dieser Ort sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt haben wir keine Ahnung wie nah wir sind.

Und endlich sind wir in California angekommen. Damit habe ich erneut einen Traum verwirklicht.

„Den Baumstamm kenne ich doch…“

Mit anfänglichen und vermeidbaren Schwierigkeiten, was auch ziemlich dumm von mir war, wenn ich an das Dieseldebakel denke. Aber trotzdem sind wir jetzt hier, nicht mehr weit von der Westküste, nicht mehr fern von Los Angeles, einem wichtigen Etappenziel. Vom Atlantik zum Pazifik.

Es weht heftig als wir den Joshua Tree N. P. erreichen. Als Erstes steuern wir das Visitorcenter an, um uns zu erkundigen, wie die Buchungs-Lage der Campingplätze dort ist. „Alles ist voll, es ist Spring Break!“, sagt uns eine nette Dame hinter Glas. Sie zeigt uns aber gleichzeitig eine Karte, auf der sie rote Kreise einzeichnet. Dort gibt es zwei kleine Campgrounds, wo das gilt, was wir so mögen: „First come, first serve!“

Wir bedanken uns bei ihr und wollen schnell los, denn jetzt fühlt es sich fast an wie ein Wettrennen. Zwei andere Camper sind schon vor uns mit den selben Informationen hier raus. Und Andere stehen schon hinter uns. Sie sagt noch so etwas wie: „Fahrt vorsichtig, die Winde sind unberechenbar!“ Aber ich bin schon auf dem Weg zur Tür, hebe nur noch dankend die Hand und drücke auf den Autoschlüssel, damit die Tür das Schloss entsperrt. Wir steigen ein, ich starte und los geht’s. Es bleibt keine Zeit für Fotos, obwohl wir an einem traumhaften Feld vorbeikommen, an dem der Sommer gerade richtig durchstartet. Ich will halten und fotografieren, aber Jutta treibt mich zur Eile an. Obwohl sie vor einer Stunde noch bereit war draußen vor dem National Park stehen zu bleiben (dort konnte man wieder frei stehen), will sie nun auch einen tollen Stellplatz ergattern. Ich war dafür sowieso nicht zu haben, denn wenn wir jetzt schon so nah dran sind, dann will ich auch rein.

Ich erkenne alles wieder, die Joshua Trees, die Felsen. Alles sieht aus wie 2011, als wir mit einem Dodge Durango hier durchgefahren sind. Damals hatten wir allerdings nur einen Tag für den Park, diesmal nehmen wir uns drei Tage Zeit, wenn wir einen guten Stellplatz finden.

Joshua Tree National Park

„Wir müssen gleich rechts abbiegen.“, sagt Jutta. „da geht es zu dem ersten „First come, first serve Campground.“

Ich habe seit einer Weile einen Kastenwagen vor mir, den ich ohne Probleme hätte überholen können. Aber ich wollte nicht so unhöflich sein und ihm einen Platz wegschnappen, nur weil er nicht besonders zügig unterwegs ist.

Er biegt vor uns rechts ab zu den begehrten Stellplätzen und ich folge ihm. Dann macht er einen kleinen, aber entscheidenden Fehler. Er biegt ein weiteres Mal rechts ab, in einen Loop, in dem bereits alles besetzt ist. Eventuell hätte ich es genauso gemacht, wäre ich vor ihm gewesen. So fahre ich also weiter gerade aus und sehe kurze Zeit darauf einen tollen freien Platz. Kein Zettel am Pfosten und keine Stühle oder irgendwas weist auf andere Camper hin, die zurückkommen werden. Ich parke rückwärts ein und wir haben einen großartigen Stellplatz, den wir bis zu 14 Tagen nutzen dürfen. Jetzt kommt der Kastenwagen vorbei und der Fahrer wird sich entweder für mich freuen, weil ich einfach Glück hatte oder er wird sich schwarz ärgern, weil er falsch abgebogen ist. Wir werden ihn heute noch mehrmals hier vorbei kommen sehen, auf der Suche nach einer Campsite.

Lemmy Service

Wir nutzen mal wieder die Tage für einen kleinen Check Up und putzen innen und außen. Dann planen wir die drei zur Verfügung stehenden Tage. Relaxen seht auf dem Programm, Offroad fahren und den Park in gewohnter Art und Weise erkunden.

Earl meldet sich, als er auf Facebook sieht, wo wir gerade sind. Er schickt ein Foto, auf dem er seine Frau Pam vor dem Skull Rock fotografiert hat. Sie waren wenige Wochen vor uns, an genau diesem Platz.

Skull Rock

Wir fahren rum und halten an verschiedenen Punkten. Noch ist März, beim letzten Mal war es Juli oder August, als wir 2011 hier waren. Wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben. Wenn man aufbricht zu einer Wanderung, dann sollte man unbedingt reichlich Trinkwasser dabei haben. Jetzt im März ist das alles halb so wild, denn es ist High Season. Überall ist viel los und dauernd kommt jemand vorbei. Aber im Sommer, dann ist es hier heiß und die Leute halten sich lieber woanders auf, wo es kühler ist. Dann kann es gefährlich werden. Sobald der Wasservorrat zur Hälfte aufgebraucht ist, MUSS man umkehren, denn sonst könnte es Probleme geben. Einmal falsch abgebogen, die Orientierung verloren und man verdurstet. Wir haben 2011 von einem jungen Pärchen gelesen, das mit ihrem Auto liegengeblieben ist. Sie haben den Wagen verlassen um Hilfe zu suchen. Sie sind verdurstet. Man muss um jeden Preis beim Fahrzeug bleiben, im Schatten und ausreichend Trinkwasser mit sich führen. Wir wissen das. Und dass man auch mit dem Diesel nicht zu knapp sein sollte, das weiß ich auch mittlerweile.

Neben dem Skull Rock sehen wir noch ein steinernes Herz und eine Felsansammlung auf die man klettern kann. Wir spazieren allerdings nur einmal drum herum. Alleine mag ich nicht drauf klettern. Wobei alleine wäre ich gar nicht, eine ganze Menge Leute kraxeln hier rum. Das demotiviert mich in diesem Fall allerdings. Ich hätte gerne einen Kletterpartner dabei, aber Jutta kann das wegen ihren Gleichgewichtsproblemen und der Höhenangst nicht wirklich.

Ein Herz aus Stein

Wir sehen noch von oben auf Palm Springs herunter, wie schon vor 11 Jahren und ich mache das selbe Foto von einem abgestorbenem Baumstamm wie damals. Wir geben acht auf Klapperschlangen und sind sehr vorsichtig in dieser uns fremden Umgebung.

Dann kommt wieder der Tag an dem wir Offroad fahren werden. Und auch hier werde ich aus Gründen der Vernunft abbrechen müssen.

Der Tag beginnt großartig, die Sonne scheint, der Himmel ist blau, Regen ist weder vorhergesagt, noch in Sicht. Doch dann kommt das erste Warnschild.

Mehr braucht man wohl nicht zu sagen

Ich versuche jedoch die Motivation hochzuhalten und genieße die Strecke, die nicht mal besonders schwierig ist. Das versuche ich auch Jutta zu vermitteln, scheitere aber kläglich.

Auf dem Warnschild steht so etwas wie teure Abschleppkosten (über 1000$) und auch dass es zu Todesfällen gekommen ist und so weiter. Aber wir alle wissen, dass man bei solchen Hinweisen mehr als die Hälfte runter reduzieren kann.

Wir biegen ein in die Offroadpassage und der Weg wird zunächst nur sandig, dann wird es immer schmaler und die Piste wird zunehmend tiefer und u-förmiger. Die einzige Schwierigkeit besteht im Grunde darin zu verhindern, dass LEMMY umkippt. Ich muss also nur zusehen, dass ich nicht zu weit rechts oder zu weit links fahre. Mangelnde Bodenfreiheit ist dieses Mal also nicht das Problem. Im Gegenteil, ich könnte fast unter dem Auto stehen, so groß ist die Bodenfreiheit. Manchmal ist nur die rechte und die linke Kante der Reifen in Bodenkontakt, aber es reicht ohne Probleme. Allerdings reicht es nicht für Juttas Wohlbefinden.

Mangelnde Bodenfreiheit ist hier kein Problem

Dann sehen wir eine große Staubwolke und schließen daraus, dass da was auf uns zukommt. Wir warten also eine kurze Weile ab, da der größte Teil der Strecke nur eine Spurbreite ist und an dieser Stelle ist es gerade so breit, dass man Jemanden vorbei lassen könnte.

Es kommen einige Staub aufwirbelnde Offroader auf uns zu. Alles hoch getunte und aufgemotzte Toyotas und Jeeps. Es sind wohl ein Dutzend Fahrzeuge und drei von ihnen passieren uns, die Anderen bleiben dahinter stehen. Sie sind mit Funk untereinander verbunden. Der erste Fahrer, wohl einer der Guides, kommt auf uns zu und schüttelt sofort den Kopf, als er an mein heruntergefahrenes Fenster tritt.

„Ihr dreht besser um, wir konnten die Passage machen, aber nur weil wir nicht so hoch sind wie ihr und da kommen einige Überhänge und bla bla bla….!“

Schräglage mal mehr, mal weniger

Auf meiner Schulter sitzen wieder Engelchen und Teufelchen und flüstern in mein Ohr. Das Engelchen sagt: „Dreh lieber um, dass ist viel sicherer!“ Aber das Teufelchen spricht: „Das sind doch bloß Schnacker und Klugscheißer, du kannst das genauso gut fahren. Aber auf meiner Schulter sitzen nicht nur das Engelchen und das Teufelchen, auf der Engelchenschulter hat Jutta sich dazu gesetzt und ist der selben Meinung.

Das auf meiner Schulter geschieht natürlich nur in meiner Phantasie und auch Jutta sagt nicht ein Wort. Aber ich weiß genau, was sie von mir erwartet. Ich gebe klein bei und drehe um.

Ich muss wieder an etwas denken, was ich mal in einer Reportage gesehen habe.

Da hat jemand etwas gesagt, was mich sehr beeindruckt hat. Es war wohl ein gut bezahlter Manager einer großen Firma der vor der Belegschaft gesprochen hat.

Kurze Kaffeepause in der Wüste

„Das größte Risiko ist es, kein Risiko einzugehen!“ Er hat das ganze sehr ausführlich beschrieben, ich kann das alles nicht so im Detail wiedergeben. Aber die Kernaussage die ist bei mir hängen geblieben.

Was wollte er damit sagen?

Oft ist der Weg beschwerlich, um die reifen Früchte zu ernten.

Manchmal führt der anstrengendste Weg zur größtmöglichen Belohnung.

Man darf auch Scheitern auf seinem Weg, wenn man danach wieder aufsteht und aus den gemachten Fehlern gelernt hat.

Kein Risiko einzugehen ist gleichbedeutend mit Stillstand.

Ich stelle mir selber die Frage, wie weit ich gehen würde.

A: Ich bleibe wo ich bin. Da ist es doch schon schön, in meinem eigenen Garten.

B: Ich steige einen steilen Hang hinauf, da muss die Aussicht toll sein

C: Ich wage mich auf einen Klettersteig, doppelt gesichert, immer steil am Abhang entlang, aber am Ende erwartet mich ein 360° Rundumblick und ein Freigetränk

D: Ich steige einen steilen Klettersteig hinauf, ohne Sicherung. Ich verlasse mich auf meine eigenen Fähigkeiten und bin konzentriert bei der Sache. Aber am Ende erwartet mich ein Irish Pub mit Freibier und einem „All You Can Eat Buffet“, dazu gibt es den 360° Rundumblick.

Ich bin definitiv der D-Typ.

Welcher Typ bist du?

Wir plaudern noch etwas mit dem Guide von der Offroad Truppe über unsere Reise und er erzählt von technischen Problemen eines Teilnehmers seiner Gruppe. Sie werden also noch eine Weile hier stehen bleiben, aber ich kann umdrehen und komme knapp an ihnen vorbei. Dann geht es den selben Weg zurück. Unterwegs machen wir noch eine kurze Kaffeepause in der Wüste. Weit abseits der Touristenpfade. Ich parke LEMMY rückwärts an einer geeigneten Stelle und hole unsere kleinen Klappstühle raus. So können wir uns vor das Auto setzen und den Kaffee genießen, bei knapp 30 Grad.

High Desert Coffee Break

Die drei Tage vergehen wie im Flug. Abends sitzen wir am Lagerfeuer, tagsüber machen wir kleine Wanderungen oder ausgedehnte Spaziergänge und auch das Relaxen mit Sudoku und Lesen kommt nicht zu kurz. Spannend ist es auch immer, zu beobachten wer alles so vorbei kommt. Manche Fahrzeuge sehen wir hier regelrecht kreisen und sie kommen mehrmals vorbei auf der Suche nach einer Campsite. Es ist schön wieder hier zu sein, aber wir wollen auch langsam weiter. Es zieht mich nach Los Angeles. Es zieht mich an den Pazifik. Jutta weiß längst wo wir dort stehen können. In Santa Monica, direkt an der Beach Road. Aber vorher fahren wir nach Palm Spings um Wäsche zu machen. Dort gibt es einen Waschsalon und es liegt auf unserem Weg.

Campfire

In diesem mondänen Wüstenstädtchen waren wir auch schon 2011 für einige Tage. Wir wohnten in einem exklusiven Hotel im 30iger Jahre Stil. Alle Zimmer hatten ein bestimmtes Motto. Und es lief rund um die Uhr Musik von Frank Sinatra, Cole Porter usw. Im Innenhof war ein wunderschöner Pool und drumherum konnten wir die umliegenden Berge sehen. Irgendwie hätte ich Lust wieder dort abzusteigen für einige Tage. Doch wir entscheiden uns dagegen, zu groß ist die Anziehungskraft der Stadt der Engel.

Während Jutta sich um die erste Wäscheladung kümmert, ziehe ich die Betten ab. Es ist Sonntag und es scheint ein beliebter Waschtag zu sein, so voll ist es hier. Vor dem Waschsalon hat es sich jemand auf einem mitgebrachten Liegestuhl bequem gemacht. Er hat eine Boombox auf seinem Bauch liegen und spielt super Musik ab. Nachdem alles fertig aus dem Trockner kommt, beziehe ich die Betten neu und Jutta verstaut den Rest. Ich bedanke mich für die tolle musikalische Unterhaltung während der Wartezeit und der Typ auf dem Liegestuhl freut sich über dieses Kompliment. In bester Stimmung und voller Vorfreude setzen wir unsere Fahrt fort.

Nicht weit von hier liegt auch der Salton Sea, aber dort waren wir ebenfalls schon, drum lassen wir es diesmal aus. Kurz überlegen wir, ob wir noch mal mit der Seilbahn auf den Berg rauf fahren. Wir sehen aber, dass die Seilbahn heute nicht fährt. Das wird sicher an dem heftigen Wind liegen, der mir vorhin fast das Lenkrad aus den Händen gerissen hätte. Zum Glück hatte ich beide Hände am Steuer, sonst hätte es schlimm ausgehen können. Eine unerwartet heftige Windböe kam fast aus dem Nichts und drückte mich zur Hälfte über die Mittellinie. Gut das heute Sonntag und wenig Verkehr ist. Und die Aussicht vom Berg hatten wir 2011 auch bereits genossen. Als wir damals dort hoch gefahren sind, habe ich eine Filmszene aus einem Columbo Film wieder erkannt. Ich muss gestehen, dass ich ein großer Columbo Fan bin und alle seine Fälle mehrmals gesehen habe. In „Zigarren für den Chef“ fährt Columbo mit genau dieser Seilbahn auf den Hausberg von Palm Springs und überführt in der Gondel den Mörder mithilfe einer Zigarrenkiste.

Wir kommen LA immer näher, die Straße wird stetig breiter und der Verkehr nimmt zu. Meine Aufregung wird langsam größer, aber es ist ein angenehmes, kribbelndes Gefühl. Jutta schaltet (wie in solchen Fällen üblich) die Navigation vom Tom Tom aus, so dass nur noch die Karte mitläuft und sagt: „Jetzt musst du auf mich hören!“ Sie navigiert ab jetzt mit ihrem Handy und mit Google Maps.

Der Highway hat mittlerweile 16 Spuren, so breit war es zuletzt in Miami. Dann kommen die wenigen Wolkenkratzer von LA Downtown ins Sichtfeld und wir fahren dicht daran vorbei. Ich drücke kurz auf den Auslöser der DJI Bordkamera und zeichne ein kleines Stück der Strecke auf.

Hin und wieder kommt es zum „Stop and Go“, besonders an den Aus- und Zufahrten. In LA ist immer viel Verkehr, auch an Sonntagen.

„Die nächste Ausfahrt musst du raus fahren!“, sagt Jutta.

„Alles klar.“, erwidere ich.

Santa Monica, „Cheers!“

Jutta leitet mich fehlerfrei bis ans Ziel, in die Ocean Avenue. Und dann ist er da. Der Pazifik liegt vor uns. Und nicht nur das, auch der Santa Monica Pier mit dem Riesenrad. Ich erkenne alles wieder. Jetzt gibt es nur eins noch zu tun. LEMMY wird geparkt und wir schnappen uns vier Dosen Bier aus dem Kühlschrank, unsere beiden kleinen Klappstühle und nichts wie hin zum Strand. Die Biere sind in meinem kleinen Rucksack in Beercoolern verpackt, damit man nicht sofort sehen kann, was wir trinken. Ich klappe die Stühle auf und wir sitzen mit einem eiskalten Bier in der Hand am Pazifik.

Los Angeles, vom Atlantik zum Pazifik. Check!

Jetzt genießen wir nur noch den Augenblick. Alles andere zählt nichts mehr. Das Hier und Jetzt ist wichtig. Was zurück liegt und was noch kommen mag wird zur Nebensache. Es ist der 13. März und die Sonne scheint. Der kalifornische Sommer steht vor der Tür und einige Kinder toben schon im Meer. Den Kids ist es egal, dass das Wasser noch ganz schön kalt ist. Mir ist wichtig, dass mein Bier kalt ist und schnell ist die erste Dose geleert. Kurzer Griff in den Beutel und schon haben wir zwei frische Biere am Start. Die Sonne geht langsam unter und wir sind gerade einfach nur glücklich in diesem Moment an genau diesem Ort zu sein. Wir saugen alles in uns auf, wie ein trockener Schwamm. Beobachten die Spaziergänger, die tobenden Kinder und die unermüdlichen Jogger. LA ist eine Stadt in der man fit sein muss, durchtrainiert und in Topform. Leute, die nach LA kommen haben in der Regel große Ziele. Einige schaffen es, andere scheitern. Das ist der bittere Beigeschmack dieser aufregenden Metropole. Ich wusste, dass genau das auf uns zukommen wird. Und zwar hier in besonderem Maße. Wie nirgendwo sonst zuvor, sehen wir Menschen, die in ihren Autos wohnen. Die ihre Zelte auf den Bürgersteigen aufschlagen und von der Hand in den Mund leben. Da wird man wieder ganz nachdenklich. Nachdenklich, demütig und dankbar.

Bevor die Sonne ganz im Meer versinkt machen wir uns auf den Weg zurück zum Auto. Es gibt mehr als genug Eindrücke, die es erstmal zu verarbeiten gilt. Alles Weitere kann warten bis morgen.

Blick aus dem Auto an der Ocean Avenue

Wir schlafen perfekt. Bis auf die Autos, die vorbei fahren ist es eine ruhige Nacht. Den morgendlichen Kaffee genieße ich mit Blick auf den Strand durch das geöffnete Fenster. Die ersten Jogger laufen schon an uns vorbei.

Ich will mal kurz erklären, wie das hier mit dem Parken geht. An der Ocean Avenue in Santa Monica gibt es überall Parkuhren, die man entweder mit Coins füttern kann oder auch mit der Kreditkarte. Das wird teuer, je länger man stehen bleiben möchte. Allerdings ist es von 18:00 Uhr bis morgens um 9:00 Uhr kostenfrei. Man muss nur darauf achten, auf welcher Seite man steht. Denn jeden Morgen kommt die Straßenreinigung mit einem großen Reinigungsfahrzeug vorbei. An bestimmten Wochentagen ist die eine Seite dran und an den anderen Tagen dann die andere Seite. Das steht auch ganz genau auf den Schildern und heißt für uns und die Anderen, die dieses Prinzip verstanden haben, dass wir hier perfekt und fast umsonst parken können.

Ocean Av. Santa Monica

Obwohl es natürlich offiziell auch hier verboten ist in seinem Auto zu übernachten, wird es geduldet. Wir müssen nur jeden Abend die Straßenseite wechseln, um der Straßenreinigung nicht in die Quere zu kommen.

Heute hier, morgen da

Aber was ist am Tag zu tun, um die Kosten niedrig zu halten. Ganz einfach: Am Tag fahren wir auf einen der großen Parkplätze am Strand. Dort stehen die Tagesbesucher und auch die Leute, die hier in ihren Fahrzeugen leben. Einen Parkschein für den ganzen Tag bekommen wir am Kassenhäuschen für 7 Dollar. Uns berechnet die nette Dame den Preis für einen Pickup, nicht den Teureren für ein Wohnmobil. Allerdings darf man hier eben nicht über Nacht stehen, so dass wir morgens und abends das sich wiederholende Schauspiel beobachten können, den Stellplatzwechsel.

Nach dem Kaffee fahren wir runter auf den Parkplatz zwischen Ocean Av. und dem Strand. Ich parke in der ersten Reihe, denn es ist reichlich Platz hier. Neben uns steht ein alter weißer PKW mit einigen selbstgemalten Bildern davor. Die Fenster sind zugehängt. Ein alter Herr steigt aus und macht sich hinter dem Auto etwas frisch. Am Strand gibt es ausreichend öffentliche Toiletten und auch Duschen, so dass für das Nötigste gesorgt ist. Leider sehen wir nie, dass der Maler aus dem Auto ein Bild verkaufen kann. Es wäre ihm zu wünschen.

Schräg hinter uns steht ein weiß-gelber VW Bus. Mit diesem Oldtimer ist ein junges Paar aus Costa Rica unterwegs nach Alaska. so steht es jedenfalls hinten auf der Fensterscheibe zwischen diversen Aufklebern.

Von Costa Rica nach Alaska

Wir wollen uns heute Santa Monica anschauen und als Erstes spazieren wir rüber zum Pier mit dem Riesenrad. Wir gehen am Boardwalk lang und teilen ihn mit anderen Fußgängern, Joggern, Skatern und Radfahrern. Viele schrille Leute präsentieren sich hier. Manche wollen vermutlich Schauspieler werden, andere versuchen sich womöglich als Drehbuchautor. Vielleicht sollte ich das auch mal probieren, kommt mir der Gedanke. Ein Typ auf einem E-Bike kommt immer wieder an uns vorbei. Er hört laut Musik aus einer Boombox, die vorne am Lenker in einem kleinen Korb liegt. AC/DC tönt aus der Box. Er trägt ein grelles Hawaii Hemd und hat einen merkwürdigen Hut auf. Bis wir das Pier erreichen ist er drei oder viermal an uns vorbei gezischt. Er scheint nicht besonders weit zu fahren, bis er dann wieder umdreht und zurück fährt.

Santa Monica Pier

Am Pier ist ein kleiner Rummelplatz aufgebaut. Achterbahn und Riesenrad sind schon von weitem zu sehen. Ich will allerdings zur Endstation von Amerikas Main Street, von der Mother Road. Und da ist er auch schon, der kleine Kiosk, der den Endpunkt markiert von der alten Route 66 von Chicago bis nach LA. 2448 Meilen sind es, wenn man die komplette Strecke fährt. Wir sind weit mehr gefahren als die Strecke von Chicago bis nach Los Angeles, aber nur einen winzigen Teil auf der Mother Road. Trotzdem hat dieses kleine Stück historischen Asphalts einen bleibenden Eindruck hinterlassen und ich werde immer sehr gerne daran zurück denken, als wir mit LEMMY über diese legendäre Straße gefahren sind. Auch wenn es nur einige hundert Meilen waren.

End of Route 66

Wir holen uns ein Eis und gehen weiter nach vorne zum Pier. Neben uns dröhnt lautes Geschrei aus der Achterbahn, wenn es abwärts geht und der typische Rummel Geräuschpegel ertönt um uns herum. Beim Riesenrad wird es etwas leiser und wieder erkenne ich eine Filmsequenz aus einem tollen Film mit Michael Douglas. Die Schlussszene aus „Falling Down“ wurde hier am Pier gedreht. Der Film handelt von einem paranoiden Familienvater, der zum Geburtstag seiner Tochter zu seiner geschiedenen Frau nach Hause kommen möchte, aber eine Odyssee durch ein abgründiges Los Angeles erlebt.

Wir gönnen uns auf einer Bank eine Pause und schauen über den endlosen Pazifik. Neben uns spielt jemand mit seiner Gitarre den Blues und singt dazu. Jutta wirft ein paar Dollar in seinen Gitarrenkoffer und wir lauschen ihm eine Weile.

Zurück geht es wieder über den geteilten Boardwalk. Die eine Hälfte gehört den Fußgängern, die andere den schnelleren Bikern und Skatern. An der Ocean Av. sehen wir einige luxuriöse Hotels und schicke Appartements. Außer Abhängen und kleineren Spaziergängen machen wir heute gar nichts. Wir leben in den Tag hinein und zum Abend machen wir noch mal einen kleinen Gang zum Pier. Das wars für heute, nur noch umparken in die Ocean Avenue.

Santa Monica Pier by night

Der nächste Tag wird aktiver gestaltet. Heute parke ich bereits vor dem Frühstück um. Dann können wir unseren Kaffee und das Müsli direkt am Strand einnehmen. Kurz die 7 $ Tagespauschale bei der selben netten Dame im Kassenhäuschen entrichten, Schranke öffnet sich und ich stelle LEMMY genau da ab, wo ich gestern schon stand. Der gelbe VW Bus ist auch wieder da und unser Nachbar der Maler. Ich hoffe er hat an diesem Tag mehr Glück und kann eines seiner Bilder verkaufen.

Nach unserem Strandfrühstück hole ich die Bikes vom Gepäckträger und muss mal wieder Reifen flicken. Juttas Hinterrad hat zwei Löcher, mein Hinterrad hat ein Loch. Ich finde an meinem Reifen so einen kleinen Dorn der im Schlauch steckt. Als ich das Mistding raus ziehe, fängt es sofort zu zischen an. Ich zeige Jutta den Übeltäter und sie vermutet, dass es von einer Pinie stammen könnte. Ausgerechnet von meinem Lieblingsbaum. Na egal, ich habe noch genug Flicken, obwohl mir die kleinen Runden langsam ausgehen. Aber notfalls gehen die größeren, länglichen Flicken auch.

Mal wieder Reifen flicken

Ich habe noch an keinem schöneren Ort Reifen geflickt. Ich blicke über einen endlos weiten Sandstrand auf den Pazifik. Die Märzsonne scheint schon kräftig am frühen Morgen vom blauen Himmel und wärmt mich. Allerhand Leute kommen vorbei und ich habe viel zu gucken, so dass die Reparaturarbeiten etwas länger dauern. Die Leute, die alleine an mir vorbei kommen sind entweder am Telefonieren oder nippen am Coffee to go Becher, manchmal auch beides. Andere unterhalten sich angeregt und wieder andere betätigen sich sportlich. Irgendwann habe ich dann alle Löcher gefunden, markiert und geschliffen. Etwas Kleber aufgetragen, trocknen lassen und Flicken drauf. Jetzt noch einmal zur Kontrolle aufpumpen und checken, dann ziehe ich die Reifen wieder drauf. Es ist schon ein wenig zur Routine geworden, so dass es mir überhaupt nichts mehr ausmacht, wenn es einen Reifen zu reparieren gibt. Es macht sogar Spaß und ich freue mich, wenn alles wieder rund läuft.

Venice Beach

„Ich bin fertig, wie sieht’s bei dir aus?“, rufe ich in die Kabine und Jutta muss nur noch in ihre Schuhe schlüpfen und dann kann es los gehen. Wir wollen rüber nach Venice Beach fahren. Dort waren wir 2011 nämlich noch nicht. Ich habe mich nach der Reise zuhause schwarz geärgert, als ich erfahren habe, dass die Red Hot Chili Peppers in Venice auf einem Hausdach ein Musikvideo gedreht haben, genau zu der Zeit als wir in Los Angeles waren. „The Adventures Of Rain Dance Maggie“ Jetzt will ich wenigstens sehen wo das Video entstanden ist. By the way, ich liebe die RHCP und auch den Song und das Video finde ich total klasse.

Ist da oben das RHCP Video entstanden?

Also rein in den Sattel und los geht’s. Lange dauert es nicht und schon wird alles kunterbunt. Die Hausfassaden werden greller und bekommen Bonbonfarben. Von türkis bis pink ist die ganze Farbpalette vertreten. Es gibt nette Kneipen, Fressbuden, Klamottenläden und schrille Wohnhäuser. Vor einem halte ich an um es zu fotografieren und ich höre einen vorbeifahrenden Biker rufen: „Frank Gehry!“

Frank Gehry Architektur

Ich rufe ihm hinterher: „Thank you!“ und halte meinen Daumen hoch. Er blickt kurz zurück und schenkt mir ein Lächeln. Ich erwidere es und freue mich über diesen aufmerksamen Biker.

Was so eine Gehry-Immobilie hier am Venice Beach wohl kostet? Und wer mag wohl hier wohnen? Ich werde beides nie erfahren. Das Haus daneben ist nicht ganz so schrill, aber vermutlich auch ein Vermögen wert. Dort kommt gerade jemand heraus mit seinem Mobilphone am Ohr. Bist du der Eigentümer, der Makler oder ein Freund der Besitzer? Auch das werde ich niemals erfahren.

Junkfood

An einer knatschbunten Junkfood Bude machen wir Lunchpause. Falafel für Jutta, Fish & Chips für mich. In eines dieser überteuerten Restaurants will ich lieber nicht gehen. Draußen ist es außerdem viel schöner. Wir gehen auch hier raus auf den Pier, aber ohne Rummelplatz wie in Santa Monica. Dann halte ich weiter Ausschau nach dem Haus von dem Videodreh der Red Hot Chili Peppers. Dieses Dach könnte es sein. Heute Abend will ich mal das Video auf You Tube ansehen und checken, ob ich richtig liege mit meiner Vermutung. Wir stöbern noch in einigen der Shops, schieben die Räder durch die vielen Fußgänger und bewundern diverse Graffiti. Dann erkenne ich Johnny Depp an einer Hauswand. Er wurde an die Wand gesprüht und das Motiv ist aus dem wunderbaren Film „Fear and Loathing in Las Vegas“, nach einem Hunter S. Thompson Roman.

Danach wagen wir es weiter zu fahren, sehr langsam, über diese bunte Promenade voller unterschiedlicher Menschen. Irgendwann können wir einen Gang hochschalten, die Leute werden weniger und wir wechseln wieder auf die Bikerspur am Boardwalk.

Biken at Venice Beach

Zurück auf unserem Parkplatz in Santa Monica verstaue ich die Räder und wir gönnen uns einen ausgedehnten Mittagsschlaf, denn wir haben heute noch einiges vor. Ich will unbedingt ein weiteres Mal den „Mullholland Drive“ fahren. Das ist auch gleichzeitig ein Filmtitel eines meiner Lieblingsfilme, von einem meiner Lieblingsregisseure, von David Lynch. Dann wollen wir uns einen Friedhof in West Hollywood ansehen, auf dem unter anderem Chris Cornell begraben liegt und Johnny Ramone. Zu guter Letzt soll es dann in die Rainbow Bar gehen, ebenfalls in West Hollywood. Das Rainbow war die Stammkneipe von Mr. Lemmy Kilmister höchstpersönlich und ich habe vor dort einige kalte Getränke zu konsumieren.

Aber jetzt erstmal ein kleiner Mittagsschlaf mit den drei Fragezeichen. Nur noch ein letzter kurzer Blick aus dem Fenster raus auf den Pazifik. Ich fühle mich schon ganz wie in Rocky Beach, mit Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews.

Nach dem Schläfchen gibt es noch einen Kaffee und dann lotst Jutta mich über die Highways von LA zum Mullholland Drive. Wir lassen Rocky Beach hinter uns und fahren eine traumhafte Straße, die einem verwirrenden Film den Namen gab und an der es prächtige Häuser zu bestaunen gibt, eine ganze Menge Kurven und hin und wieder einen coolen Ausblick auf Downtown. Ich suche eine ganz bestimmte Stelle, an der ich mit einem brandneuen schwarzen Dodge schon vor elf Jahren geparkt hatte. Dann erkenne ich die Kurve und den hellen Sand wieder und parke LEMMY an der selben Stelle wie damals den Dodge.

Mullholland Drive

Leider ist Downtown relativ weit weg und mit der Handycam bekomme ich keine guten Fotos zustande. Beim letzten Mal hatte ich eine Canon 450 D Spiegelreflexkamera dabei mit einem ganz vernünftigen Sigma Teleobjektiv. Ich denk mir; „Scheiß drauf. Du hast dich in Albanien dafür entschieden die große Kamera dem Polarvux Team mit zurück nach Deutschland zu geben, weil es nur Ballast ist. Und aus genau diesem Grund hast du sie jetzt auch nicht dabei!“ Ich gebe mich zufrieden mit den unscharfen Fotos und wir fahren weiter.

Downtown LA

Es kommt wieder eine Stelle, die einen guten Blick auf die Hochhäuser der Innenstadt verspricht, aber es stehen überall einschüchternde und Strafe androhende Halteverbotsschilder. Also fahre ich etwas weiter und halte sofort dort, wo die Warnhinweise enden. Hier ist das Halten allenfalls geduldet und Jutta will sowieso im Auto warten, während ich ein paar hundert Meter den Berg hinauf marschiere. Ein hoher Gitterzaun versperrt mir den Weg auf den Hügel. Dort wo der Zaun endet geht es steil nach oben. Ich erkenne einige Spuren im Sand von Leuten, die vor mir versucht haben hier hinauf zu klettern. Es gibt ein paar Wurzeln an denen man sich festhalten kann und womöglich auch hochziehen über die Kante, doch bin ich leider keine 20 mehr. Es wäre mir schon unangenehm, sollte ich den Hügel runter stürzen und vor einem vorbeifahrenden Auto landen. Also breche ich diese waghalsige „Expedition Downtown“ ab und kehre um zu Jutta.

Eins von vielen Verkehrsopfern

Auf dem Weg zurück sehe ich noch eine überfahrene Schlange auf der Straße liegen, mit gebrochenem Rückgrat. Lag die eben auch schon da? Oder wurde sie erst überfahren als ich oben am Hang war? Ich erzähle Jutta von meiner gescheiterten Expedition und der toten Schlange und dann geht es weiter zum Friedhof. Wir entdecken noch die Universal Filmstudios und schauen von oben darauf herunter, aber besuchen wollen wir sie nicht noch einmal. Dort waren wir auch bereits 2011. Nachdem wir den ganzen Mullholland Drive gefahren sind kommen wir in eine etwas runtergekommene Gegend und wir sehen viele Zelte und alte Camper an der Straße stehen. Diese Eindrücke erleben wir ja nicht zum ersten Mal, aber hier in LA sind sie besonders häufig und intensiv und auch besonders deprimierend. Kurz darauf sind wir dann auch schon in West Hollywood und ich parke LEMMY direkt gegenüber vom „Hollywood Forever Cemetery“ an einer Parkuhr. Am Straßenrand vor meiner Motorhaube steht ein kleines blaues Zelt auf dem Bürgersteig. Ich sehe Bewegung im Inneren und einen kleinen Teddy, der scheinbar an einem Stock über dem Zelt tanzt. Der Zelteingang ist der Straße abgewandt und mehr kann ich nicht erkennen. Ich weiß nur eins, hinter dieser dünnen Zeltplane verbirgt sich ein trauriges Schicksal.

Gegenüber vom Hollywood Forever Cemetery

Jutta klärt das mit der Parkuhr und dann machen wir uns auf den Weg über die Straße auf den Friedhof. Am Eingang kaufen wir für 5 $ eine Karte, auf der alle Grabstätten in einem Lageplan verzeichnet sind. Wir wollen das Grab von Johnny Ramone besuchen und auch das von seinem Bruder Dee Dee. Chris Cornell liegt hier leider seit 2017 auch begraben und selbstverständlich werden wir ihm ebenfalls einen Besuch abstatten.

Der Friedhof ist wirklich schön und es gibt ganz schlichte und einfache Gräber, aber auch reichlich pompöse und aufwendige Grabstätten. Die meisten Namen auf dem Lageplan kenne ich nicht, obwohl es viele Berühmtheiten sind, die hier ihre letzte Ruhe finden. So gibt es z. B. eine Pyramide, die als Grab dient oder einen griechischen Tempel.

Hollywood Forever Cemetery

Nach kurzer Suche finden wir uns einigermaßen zurecht mit dem etwas unübersichtlichen Lageplan und entdecken Johnny Ramone. Das Grab ist auch kaum zu übersehen, denn er selbst steht in Lebensgröße, als Statue mit der Gitarre in der Hand auf seinem eigenen Grab. Es ist ein ergreifender Augenblick für mich hier zu stehen. Denn erstens sind wir auf einem Friedhof und das hat immer mit Tod, Trauer und Verlust zu tun und zweitens habe ich die Ramones noch live gesehen, als sie in Deutschland auf Tour waren. Und dann sind da noch die Inschriften auf dem Grab. Johnny selber sagt darauf sinngemäß: „Wenn ein Mann von sich sagen kann, dass er erfolgreich ist, wenn er großartige Freunde hat, dann bin ich sehr erfolgreich gewesen.“

Johnny Ramone

Dann gibt es noch persönliche Widmungen von Eddie Vedder, Rob Zombie, Lisa Marie Presley, Vincent Gallo, John Frusciante und natürlich von seiner Frau Linda Ramone. Was mich besonders glücklich machen wird, Linda Ramone wird meinen Instagram Beitrag wenig später liken.

Ganz in der Nähe von Johnny Ramone finden wir das schlichte Grab von Chris Cornell. Auch ihn durfte ich Anfang der 90er live erleben. Damals noch mit seiner Band Soundgarden auf dem Roskilde Festival, als noch kein Mensch ahnte, wie groß diese Band werden wird. Besonders traurig macht es mich, dass er freiwillig aus dem Leben schied. Wie so viele andere erfolgreiche Künstler es auch schon getan haben. Mir sagt das, dass Geld und Erfolg nicht reichen zum Glücklichsein.

Chris Cornell

Aber was braucht es eigentlich zum Glück? Gesundheit? Definitiv ja! Gute Freunde? Johnny Ramone würde das bestätigen und ich sehe das genau so. Freiheit? Ich bin davon überzeugt, dass Freiheit enorm wichtig ist. Aber wenn ich jetzt versuche meinen Begriff von Freiheit zu definieren, dann geht es ins Philosophische und ich merke, wie ich schon wieder abschweife.

Wir verweilen etwas an Chris Cornells Grabstätte.

Danach kommen wir noch bei Burt Reynolds vorbei und an einer irgendwie glücklich aussehenden Statue einer Lady mit herzförmiger Sonnenbrille, die die Arme mit offenen Händen nach oben in den Himmel hält, als will sie sagen: „Hey du da oben, ich bin bereit zu dir zu kommen, ich hatte ein tolles Leben und bereue nichts davon!“

„Here I am“

Dee Dees Grab müssen wir etwas suchen, finden es aber dann doch noch. Er muss Baked Beans geliebt haben, denn seine Fans versorgen ihn auch im Jenseits noch mit „Bush’s Original Baked Beans“ – Dosen. Ich habe noch einen weiteren Namen auf der Liste, aber Jutta muss einem dringendem Bedürfnis folgen. „Such du ruhig noch weiter, ich gehe schon zurück zum Auto und warte dort auf dich.“, sagt Jutta und ich begebe mich auf die Suche nach dem Grab von Vito Scotti, auf der anderen Seite des Friedhofs.

Hollywood Forever Cemetery

Vito Scotti ist ein Schauspieler, der eher für Nebenrollen bekannt sein dürfte. Ich kenne und schätze seine Auftritte aus sehr vielen Columbo-Folgen. Er war ein begnadeter und wandlungsfähiger Schauspieler, aber leider finde ich sein Grab nicht. Ich frage einen der mexikanischen Gärtner, ob er weiß wo Vito Scotti liegt, aber er kennt ihn nicht. „Is he famous?“, fragt er mich und ich antworte: „Yes he is an famous actor!“

Er deutet in eine Richtung und meint die „Famous People“ liegen dort drüben bei Winnie the Puuh. Ich suche noch eine Weile, dann gebe ich irgendwann auf und kehre erfolglos zum Auto zurück. Ich klopfe an die Kabine und sage: „Ich habe Vitos Grab nicht gefunden, wir können weiter fahren!“, dann setzte ich mich hinters Steuer und warte auf Jutta.

Im rechten Rückspiegel sehe ich eine blutjunge, farbige sexy Lady den Bürgersteig von hinten entlang kommen. „Wow, ist die hot!“, denke ich bei mir. Sie hat eine sehr knappe Hot Pants an. Noch ist meine Stimmung gut, doch in wenigen Sekunden wird sich das gute Gefühl in Luft auflösen und in Traurigkeit wandeln. Sie kommt am Auto vorbei und verschwindet in dem kleinen blauen Zelt vor meiner Motorhaube. Von hinten war die Hot Pants im Grunde nicht mehr vorhanden und sie hatte nichts drunter. Mir wird klar wie sie ihr Geld verdienen muss und deprimiert verlasse ich den Hollywood Forever Cemetery, nachdem Jutta zugestiegen ist.

Jetzt steht der letzte Programmpunkt an für heute, das Rainbow. Wir müssen nur noch rausfinden, wo wir die Nacht über stehen können, denn eins ist sicher: Fahren kann ich nach dem Besuch dieses Establishments mit Sicherheit nicht mehr. Ich schlage vor direkt vor Ort zu schauen, ob es da eine Möglichkeit gibt, ohne lange Recherche im Internet. So einfach wie in Santa Monica wird es dort nicht werden, das ist uns klar. Aber wir werden sehen.

Stellplatz für die Nacht, hinter dem Rainbow Bar & Grill

Jutta leitet mich wie üblich ohne Probleme zum Ziel. Ich entdecke eine Parkplatzzufahrt zwischen dem Roxy und der Rainbow Bar. Dann kommt ein schwarz gekleideter Security Man auf mich zu. Ich fahre das Fenster runter und frage, ob wir hier über Nacht parken dürfen. Wir wollen im Rainbow was Trinken gehen. Er sagt, er müsse seinen Boss fragen und will ihn eben anrufen, wir sollen solange warten. Ich weiß noch von früher, dass der Parkraum in West Hollywood knapp ist und das es locker 20 $ pro Stunde kosten kann an Hotspots. Und hier parken nicht nur die Gäste vom Rainbow Bar & Grill, sondern auch die, die ins Roxy wollen. Dort findet ausgerechnet heute ein Konzert statt. Ist zwar nur eine Teenie Band, die dort heute Abend spielt, aber viele namhafte Künstler und Bands haben dort angefangen, z. B. Neil Young, Frank Zappa, Joe Cocker, Bob Marley, Guns`n Roses und und und. Das Roxy hat 1973 eröffnet und die Liste der „Performances“ seit damals ist der Wahnsinn. Auch die Ramones haben ihr erstes Konzert in Kalifornien dort gegeben, im Jahre 1976. Darüber hinaus sind hier viele Livealben entstanden.

Rainbow Bar & Grill

Trotzdem bin ich optimistisch und hoffe auf ein akzeptables Angebot. Jutta und ich verhandeln schon, wie weit wir gehen würden. In New York haben wir 130 $ pro Nacht bezahlt, das schließen wir hier kategorisch aus. Ich hoffe so mit 30 bis 40 Dollar dabei zu sein, aber ich würde auch bis 60 oder 80 Dollar gehen. Noch bevor ich mir mit Jutta einig werde, kommt der Boss mit seinem Wagen vorgefahren und kurze Zeit später steht er an meinem Fenster und wir verhandeln. Er sagt, sie berechnen stundenweise und es kosten den ganzen Tag über und auch in der Nacht.

Ich halte dagegen, dass wir ja die halbe Nacht im Rainbow sein werden und Drinks konsumieren. Er sagt, für 80 Dollar können wir bis morgens um 10 Uhr stehen bleiben. Ich sage, wir kommen ganz aus Deutschland und sind große Motörhead Fans. LEMMY ist sogar vorne auf dem Auto drauf und dass 80 Dollar doch ganz schön viel ist und ob er uns nicht für 40 Dollar hier übernachten lassen kann. Er ringt mit sich, das sehe ich ihm an und er bietet 60 Dollar an. Ich sage: „Für 50 Dollar sind wir dabei, aber bis morgens um elf Uhr.“ Er gibt sein Ok und der Deal ist besiegelt. Ich parke hinten in der Ecke bei den Müllcontainern und bin ganz zufrieden mit mir und meinem Verhandlungsgeschick.

Hintereingang in Mr. Kilmisters Stammkneipe

Als ich von vorne aus dem Auto nach hinten umsteigen will, da sehe ich einen Kolibri über dem Müllcontainer. Er steht in der Luft und der Flügelschlag ist so blitzschnell, das ich keine Flügel erkennen kann. Sein Gefieder glänzt grün-bläulich. Ich rufe Jutta wieder raus, sie ist bereits hinten in der Kabine, denn ich habe noch nie einen Kolibri gesehen und ich wusste auch noch nicht mal, dass sie außerhalb von Australien oder Neuseeland vorkommen. Nun ist meine Stimmung wieder gestiegen und ich genehmige mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank. Da es noch relativ früh ist, wollen wir abchecken, wo wir morgen stehen können. Denn dann ist ein Konzert mit vier Bands im Whisky a Go Go. Eine Band davon spielt Hardcore. Das Whisky a Go Go ist ganz in der Nähe vom Rainbow, aber vielleicht finden wir noch einen günstigeren und ruhigeren Overnight Stellplatz. Ansonsten wissen wir ja, wo wir für 50 $ stehen können.

Kurz vor der Location sehen wir wieder einen Parkplatz, mit einem Parkwächter davor. Wir sprechen ihn an und er entpuppt sich als sehr gesprächig, äußerst zuvorkommend und bemüht, uns irgendwie zu helfen. Wir kommen regelrecht ins Plaudern und haben Spaß zusammen, denn er ist witzig und wortgewandt. Der Parkplatz, vor dem wir gerade stehen, der geht nicht. Viel zu teuer und zu klein für unser Auto. Aber er weiß einen anderen Platz, ganz nah von hier. Und sein Boss ist kein Halsabschneider, er wird uns einen fairen und guten Preis machen. Er will unsere Nummer haben und gibt uns seine. Nur haben wir gerade kein Internet und deswegen haut das alles nicht hin mit der Kontaktaufnahme über Whatsapp. Jetzt macht er uns tatsächlich noch einen Hotspot und dann klappt es schließlich. Wir lachen viel und scherzen und dann führt er uns sogar noch zu dem nahegelegenen Parkplatz, für den wir in Kürze ein Preisangebot von seinem Boss erhalten werden. Der Platz ist super, nur wenige Laufminuten vom Whisky a Go Go entfernt und wenn der Preis stimmt, dann ist das tipptopp. Wir bedanken uns für seine Mühe und die fast 30 Minuten, die er sich für uns Zeit genommen hat.

Dann gehen wir noch kurz beim Whisky a Go Go vorbei, damit wir für morgen genau Bescheid wissen, wo alles ist. Dann machen wir uns auf den Rückweg in Mr. Lemmy Kilmisters Stammkneipe in West Hollywood. In die Lieblingsbar von Mr. Motörhead.

Whisky a Go Go

Das Rainbow Bar & Grill betreibt tatsächlich einen ziemlichen großen Personenkult um Lemmy, aber warum auch nicht? Lemmy ist Kult und auch Motörhead ist Kult. Sie haben nicht nur mich und meine Jugend geprägt, sie haben große Künstler inspiriert und beeinflusst. Sie haben ein ganzes Genre inspiriert und geprägt. Schon im Eingangsbereich empfängt uns Lemmy mit den Worten „Born to lose, live to win“. Weiter hinten in der Lemmy Lounge sehen wir ihn in Metal gegossen, mit einer Kippe im Mund. Wir setzen uns zunächst in der Lemmy Lounge im Außenbereich an einen der hohen Stehtische und bestellen uns ein Bier. Es dauert keine zwei Minuten und schon wird die Bestellung geliefert, was mich sehr entspannt, da ich mich ja bereits an Cenosilicaphobie leidend, geoutet habe.

Zur „Lemmy Lounge“

Jetzt versuchen wir die Touristen von den „Famous people“ und den Stammgästen zu unterscheiden. Ich habe keine Ahnung, wie gut oder wie schlecht uns das gelingt, aber ich habe ein gutes Gefühl und es macht Spaß. Dann erzähle ich Jutta, was ich vorhin beim Friedhof erlebt habe und das zieht mich kurz wieder runter. Aber das will ich gar nicht zulassen und ich verdränge die Geschichte wieder und fange ein anderes Thema an. Wir bestellen ein weiteres Bier und es wird in der gleichen Schnelligkeit geliefert wie zuvor. Mir wird ein wenig frisch und ich gehe durch den Hintereingang raus auf den Parkplatz, um mir einen dickeren Pulli aus dem Auto zu holen. Dabei komme ich an Lemmys Stammplatz am Tresen vorbei. Hier hat er immer gesessen und seinen Jack Daniels mit Cola getrunken. Ich fühle mich jetzt schon wie Zuhause.

Rainbow Bar & Grill

Ein riesiger Kerl kommt rein und er scheint hier viele Gäste zu kennen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er bestimmt einer der „Famous people“ ist, habe aber keine Ahnung wer es sein könnte. Ist auch völlig egal, wir sind in LA, da wimmelt es von bekannten Menschen und ich habe mir noch nie etwas daraus gemacht. Sind doch auch nur Leute wie du und ich.

Jetzt gehen wir rein, zum Einen wird es immer kühler draußen und zum Anderen will ich den Laden auch von innen kennenlernen. Wir stellen fest, dass die Location viel größer ist, als es von draußen den Anschein hat. Es gibt innen mehrere Bereiche, unten und oben. Wir bestellen unten an der Bar ein weiteres Bier und schauen uns um.

Mr. Kilmister

Mein Handy brummt kurz und vibriert. Ich nutze das Guest Wifi vom Rainbow. Der Boss des freundlichen Parkwächters hat mir, wie versprochen, ein Angebot geschickt. Ich kann allerdings kaum glauben, was ich da zu lesen bekomme. Ich denke an die netten Worte zurück, die der Typ uns vor ein paar Stunden gesagt hat, “….mein Boss ist in Ordnung, kein Halsabschneider, er wird euch ein gutes Angebot machen…!“ Ich reiche Jutta fassungslos mein Handy, damit sie die Nachricht selber lesen kann. Kopfschüttelnd und ungläubig lächelnd gibt sie es mir zurück. „Die halten uns wohl für völlig bescheuert!“, sage ich zu Jutta und sie stimmt mir zu. Um eine Nacht dort zu parken verlangt der Boss 150 $.

Auf dieses Angebot gehe ich nicht weiter ein. Ich ignoriere diese Nachricht, aber dem netten Parkplatzwächter schreibe ich noch kurz, was ich davon halte. Ich bedanke mich sehr herzlich bei ihm für seine Mühe und schreibe übertrieben freundlich und blumig. Ich versuche auch etwas Sarkasmus und Ironie mit unterzubringen. Sinngemäß teile ich ihm mit, dass wir ganz überwältigt sind von so einem großartigen Angebot, es aber dann doch bevorzugen in einem Motel abzusteigen. Dort bekomme ich eine Übernachtung für 120 $ und dazu habe ich Kabelfernsehen, ein Kingsize Bett, einen Swimmingpool und eine Minibar. And by the way, der Parkplatz kostet dann gar nichts!

Bildergalerie auf dem Weg zur Toilette

Nachdem diese Mitteilung verschickt ist, fühle ich mich richtig gut und wir widmen uns wieder anderen Dingen.

Es wird nicht nur Lemmy hier getrunken haben. Den Plakaten und Fotos zufolge waren auch andere Rocklegenden schon hier. Ozzy Osborne, Pantera und einige mehr werden diese Treppe mit dem dicken Teppich hoch gestolpert sein, so wie ich gerade. Ich bin auf dem Weg zur Toilette. Ich will da pissen, wo Lemmy gepisst hat. Es gibt drei Pissoirs zur Auswahl und ich bin sicher, so häufig wie Mr. Kilmister hier war, wird er bereits in jedes dieser Pinkelbecken uriniert haben. Und in diesem Augenblick tue ich es ihm gleich. Ist irgendwie eine coole Vorstellung für mich hier zu pinkeln, in ein Pinkelbecken, wo Mr. Kilmister wohlmöglich schon tausend Mal vorgestanden hat.

Washrooms upstairs!

Ich uriniere zu Ende, wasche mir die Hände und stolpere die Treppe mit dem dicken, versifften Teppich wieder runter. Was für ein geiler Abend. Ich bin bereit nach Hause zu gehen und dort noch einen kleinen Absacker zu trinken. Wir zahlen und verlassen das Rainbow Bar & Grill über den Parkplatz nach hinten raus. Wir wohnen schließlich hier.

Jutta macht sich bettfertig. Ich nehme mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank und setze mir meine Kopfhörer auf, um noch etwas mehr Rock ‚N‘ Roll zu hören, bis ich müde genug bin und die nötige Bettschwere erreicht habe.

Morgens wache ich etwas verkatert, aber zufrieden auf. „Das war doch eine geile Nacht gestern.“, denke ich so bei mir. Und heute Abend werden wir ein geiles Konzert im Whisky a Go Go erleben.

Rainbow Bar & Grill Backstage

Das wird allerdings anders kommen.

„Guten Morgen!“, sage ich zu Jutta, die noch neben mir liegt und mit ihrem Handy beschäftigt ist. „Gibt es gleich Kaffee?“

Beim Frühstück erfahre ich, dass Jutta gar keine Lust hat heute auf das Konzert zu gehen. „Geh du doch alleine hin. Ich bleibe im Auto, mache es mir gemütlich und lese oder so.“, sagt sie. Das muss ich erst mal sacken lassen. Ist ja auch noch ein bisschen Zeit bis heute Abend, vielleicht ändert sie ihre Meinung noch.

„Ich habe heute morgen übrigens einen Parkplatz gefunden, auf dem wir heute Nacht umsonst stehen können.“

Na das sind auf jeden Fall mal gute Neuigkeiten. Heute wollen wir eh in West Hollywood bleiben. Der Walk of Fame ist angesagt, obwohl wir auch da schon 2011 waren. Wir hatten hier ein Motel mit Pool, direkt am Sunset Boulevard. Das hat uns ca. 120 $ gekostet die Nacht.

„Beim Hollywood Heritage Museum können wir stehen, das kostet nichts und ist nicht weit zu laufen bis zum Walk of Fame und zum Whisky a Go Go.“, sagt sie.

Also gut, dann fahren wir dort hin, aber erstmal in Ruhe den zweiten Kaffee trinken und wieder klar kommen. Bin doch ganz schön verkatert und bis elf Uhr können wir hier ja stehen bleiben. Jetzt sind fast alle Plätze wieder frei, gestern Nacht war jeder einzelne Platz belegt. Es ging sogar noch eine Etage höher. Nur zwei enge Kurven und eine steile Straße hoch, da war noch etwas mehr Parkraum vorhanden. Ich würde allerdings jederzeit wieder diese Ecke bei den Müllcontainern wählen, obwohl Jutta sich beim Frühstück über den Lärm in der Nacht beklagt hat. Es wurde wohl zwischendurch immer mal etwas reingeschmissen und irgendwann in der Nacht kam jemand mit einer Stirnlampe und sortierte, im Container stehend, Flaschen und Abfall. Ich habe von alledem nichts mitbekommen, habe geschlafen wie ein Baby.

Kurz vor elf sind wir dann soweit und verlassen wie verabredet den Parkplatz. Doch bevor ich auf die Straße fahre, sehe ich einen Gully noch vor dem Bürgersteig. Dort will ich eben noch den Pee Tank entleeren, dann ist das für den Tag erledigt. Ich weiß ja auch nicht wie die Entsorgungs-Lage am Museum ist. Nach der Aktion fahre ich dann mit etwas Restalkohol im Blut zum nächsten Parkplatz. Der hat zwar etwas weniger Stil, aber dafür ist er umsonst. Jutta gefällt es dort viel besser. Er ist ruhig, mit einigen Bäumen und einem kleinen Park mit Picknickarea daneben.

Wir lassen es langsam angehen und machen an der neuen Destination erstmal einen Mittagsschlaf. Und weil wir immer noch in Los Angeles sind hören wir natürlich „Die Drei Fragezeichen“. Wie wäre es mit „Die Drei Fragezeichen und die flüsternde Mumie?“

Jutta meint es tatsächlich ernst und wird heute nicht auf das Konzert mit mir gehen. Ich bin selber noch unentschlossen, ob ich alleine hingehe oder es sausen lasse. Das kann ich aber auch später noch entscheiden. Wir gönnen uns noch einen Kaffee im Auto. Während wir dazu leckere Kekse essen, dreht ein alter Chinese auf einem kleinen BMX-Rad seine Runden um den Parkplatz. Er hört dabei AC/DC aus einer Boom Box. Irgendwie kommt mir das wie ein Deja-vu vor. Alle zwei bis drei Minuten kommt er vorbei und ich glaube er hört die „Dirty Deeds Done Dirt Cheap“ LP. Er erinnert mich an Mr. Miagy aus Karate Kid, nur mit längeren Haaren und etwas jünger. Eine skurrile Szene irgendwie, wie er hier alle paar Minuten vorbei kommt. Hat er das Fahrrad neu? Sieht nicht so aus. Wurde ihm von seinem Orthopäden verordnet jeden Tag seine Runden zu drehen? Schon eher. Rad fahren ist gut für die Kondition, das ganze Herzkreislaufsystem und schonend für die Gelenke. Ich selber sollte auch mehr Rad fahren.

Nach dem Kaffee und dem Gebäck machen wir uns auf den Weg zum Walk of Fame, zu Fuß.

Wie üblich gibt es hier wieder mehrere, von innen zugehängte Autos. Einige werden hier leben, andere könnten auch Reisende sein oder Stealth Camper. Das sind Fahrzeuge, denen man nicht direkt ansieht, ob dort jemand drinnen schläft, lebt oder eben nicht. Es könnten auch normale Lieferwagen sein, aber ich glaube, wir haben schon einen Blick dafür entwickelt, wer Stealth Camper ist und wer nicht.

Die Beiden kenne ich…

In LA erleben wir das volle Sommerfeeling. Das gefällt mir richtig gut, ich bin der Sommertyp, dem es selten zu warm ist. Aber für Jutta ist es hier gerade im März perfekt, so um die 24-26 Grad. Das mag sie lieber als wenn es zu heiß wird und auf die 30° geht oder drüber hinaus.

Wir laufen los und kommen an tollen Graffiti vorbei. Immer wieder muss ich Fotos machen. Charlie Chaplin, Elvis und Marilyn Monroe schauen von den Fassaden auf uns runter. Ich sehe noch einige andere riesige Gesichter, bin aber manchmal nicht ganz sicher, wer da auf den Wänden verewigt wurde. Amy Winehouse könnte das sein und Anthony Bourdain. Der andere daneben ist bestimmt ein Rapper, aber davon habe ich keine Ahnung.

Dann laufen wir über die ersten Sterne der Stars auf dem Walk of Fame. Sogar hier gibt es ein paar kleinere Zeltlager. Ein paar Punks haben sich am Rande der Meile auf dem Bürgersteig eingerichtet und werden geduldet. Sie sehen noch relativ gut gelaunt aus und nicht so fertig und kaputt, wie sie es evtl. in ein paar Jahren sein werden. Noch trinken sie und feiern, wie ich es auch immer wieder in Hamburg auf St. Pauli beobachte, wenn ich dort auf einem Konzert unterwegs bin. Für sie ist das ganze Leben eine Party und sie haben (noch) nicht begriffen, dass es nicht für immer so fröhlich weiter gehen wird. Irgendwann ist die Party zu Ende und die gute Laune verschwindet und das böse Erwachen droht. Sie haben meine ganzen Sympathien, ich feiere auch gerne. Aber ich habe zum Glück rechtzeitig begriffen, dass nicht das ganze Leben eine Party ist. Denn ohne Geld lässt es sich schlecht feiern. Wer das nicht begreift, der hat vermutlich schon verloren.

Walk of Fame

Wir gehen weiter, schauen in den ein und anderen Laden und überlegen, ob wir in eine Art Fantasie Museum gehen wollen. Die beiden Türsteher bieten uns einen kurzen Blick hinter die Tür und ich denke, dass es sich nicht lohnt, was ich dort zu sehen bekomme. „Maybe later!“, sage ich und wir gehen weiter zu Grauman`s Chinese Theatre. Auf dem Weg dorthin wird gerade der Walkway für die Celebreties der Oscar Verleihung aufgebaut. Jutta hat ein Motörhead-Shirt an und einer der Securities an dem wir vorbei schlendern sagt ihr, dass es ihm sehr gefällt. Er sieht gar nicht aus wie jemand der Motörhead hört. Umso überraschter und erfreuter sind wir. Wir erzählen ihm, dass wir gerade gestern noch in Lemmys Stammkneipe, im Rainbow waren. Ob wir Motörhead schon live gesehen haben, will er wissen und ich kann das selbstverständlich bejahen. In Bremen im Aladin habe ich sie zuletzt gesehen. Das kann er allerdings nicht kennen. Dafür kannte er Lemmy und die Band persönlich und hat für sie mehrere Jahre als Security gearbeitet. Cool! Wir sehen uns noch diverse Handabdrücke und Unterschriften im ausgehärteten Beton an und kommen an einigen Spidermans und Batmans vorbei auf dem Weg zurück, auf der anderen Straßenseite. Es sind eine Menge Leute unterwegs, wie vermutlich jeden Tag hier am Walk of Fame. Wir fahren noch mit dem Aufzug einen riesigen Rundbogen mit drei Brücken hoch und schauen auf das Hollywood Sign. Doch dann bekomme ich langsam Durst. „Wollen wir nicht mal was trinken gehen?“, frage ich Jutta. „Gute Idee!“, sagt sie.

Ich weiß auch schon wohin. Wir sind vorhin an einem Pub vorbei gekommen, da konnte man draußen sitzen und gucken wer so vorbei läuft und außerdem war die Musik dort auch ziemlich gut.

Wir müssen nur ein paar hundert Meter zurücklaufen.

Da drüben ist er schon, Jameson’s Irish Pub, nur noch über eine Kreuzung. Und es ist noch ein Außentisch frei, perfekt. Wir nehmen Platz und studieren das Beer Menü. Two Pints local draught Beer sollen es sein.

On the way to Jameson’s

Wir sitzen direkt am Bürgersteig, auf hohen Hockern an einem kleinen Stehtisch und die großen Fensterfronten hinter uns in den Laden sind geöffnet, so dass wir die Musik von innen gut hören können. Dann kommt das Bier und wir unterhalten uns und beobachten die vorbei laufenden Leute.

Das könnte ich stundenlang machen, people watching, Musik hören und der Biernachschub ist gesichert. Jutta fragt nach wie mein Plan für heute Abend ist und ich weiß es immer noch nicht. Aber eins weiß ich ganz sicher, das Bier schmeckt schon wieder. Es ist hier nicht langweilig und zu gucken haben wir auch reichlich. Wir bestellen ein weiteres Pint für jeden von uns, obwohl es echt nicht gerade günstig ist.

„Cheers!“

Ich wage einen letzten Versuch Jutta für das Konzert heute Abend zu begeistern, denn das Whisky a Go Go ist nicht irgendeine Location. Es ist Los Angeles erster Rock Club und war schon damals ein angesagter Treffpunkt für Musiker, Manager und Produzenten. Dort haben bereits die Doors gespielt, Alice Cooper und Janis Joplin. Reicht noch nicht? Auch Mötley Crue und Frank Zappas Band Mothers of Invention sind dort aufgetreten.

„Kann ja sein.“, sagt Jutta, „aber von denen ist heute Abend niemand da, oder?“ „Wie heißen die noch gleich, die dort heute spielen?“

Jetzt hat sie mich am Arsch, denn ich weiß es nicht. Ich kenne keine von den vier Bands, die dort heute auftreten. Ich weiß nur, dass eine der Bands Hardcore spielt, weil ich bei You Tube von jeder der Bands ein Video gesehen habe.

„Ja, aber es ist doch das Whisky a Go Go und endlich mal wieder ein richtiges Konzert….!“, starte ich einen verzweifelten Versuch.

„Nö, ich habe keine Lust, aber geh du ruhig hin.“, sagt sie.

Was soll ich nur machen, ich weiß es immer noch nicht. Das zweite Bier wirkt schon, meine Stimmung ist eigentlich sehr gut und wir unterhalten uns gerade auch ziemlich gut. Wir müssten erstmal wieder ganz bis zum Auto zurück gehen und dann hätte ich noch wieder ein gutes Stück zu laufen. Ohne Gewähr, ob ich überhaupt eine Karte bekomme, denn online war nichts mehr zu haben. Zuhause gehe ich oft und sogar nicht mal ungern alleine auf Konzerte, denn hauptsächlich bin ich wegen der Musik da. Aber es ist einfach schöner zu zweit oder mit mehreren, denn geteilte Freude ist doppelte Freude. Ich tendiere immer mehr dazu auf das Konzert zu pfeifen und mit dem letzten Schluck aus meinem Glas entscheide ich mich dann für ein weiteres Pint hier im Irish Pub und gegen das Konzert. Das Whisky a Go Go bleibt auch in Zukunft auf meiner Bucket List und wir bestellen uns noch ein Bier. Ich hadere zwar etwas mit mir, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, aber was soll’s? Es ist wie es ist.

Los Angeles ist definitiv eine Stadt, in der ich leben könnte. Das Gefühl hatte ich schon beim ersten Besuch hier, in der Stadt der Engel. Diese Frage nach meinen Lieblingsstädten habe ich mir schon oft gestellt. Und immer wieder stelle ich fest, dass sie gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ich habe mal versucht, eine Top Ten Liste aufzustellen, aber es fliegen immer mal Städte raus und andere kommen rein. Doch gibt es Einige, die immer drin sind. Es müssen nicht mal die schönsten Städte sein, wie beispielsweise Sydney, Rio de Janeiro, Vancouver oder ähnliche Kaliber. Ich könnte leben in Städten wie Bangkok, New York, Tokio oder auch in LA und San Francisco.

Morgen fahren wir weiter in eine andere Stadt. Es wird nach Las Vegas gehen.

Wir nutzen die Gelegenheit über die Route zu sprechen, jetzt wo es klar ist, dass ich nicht alleine auf ein Rockkonzert gehe und wir den Abend zusammen verbringen werden. Wir sehen uns die Karte an und für mich ist klar, dass ich durch die Mojave National Preserve fahren will. Das ist nicht der direkte Weg, aber es geht wieder durch die Wüste und es wird eine schöne Strecke, die wir fahren. Ein Stück von der alten Route 66 nehmen wir auch noch mit. Jutta hat rausgefunden, dass wir dann auch noch an der Bottle Tree Ranch vorbeikommen. Nach über 300 Meilen und vier bis fünf Stunden sollten wir Vegas erreichen.

Bevor wir das Jameson’s verlassen gibt es ein weiteres Bier und wir unterhalten uns prächtig, mittlerweile ganz gut angetrunken. Ich probiere mich in experimenteller Fotografie durch mein Bierglas und wir beobachten immer noch, wer hier alles so vorbei kommt. Einer ist komplett grünweiß gekleidet und er trägt eine große Fahne mit sich herum, auf der er seine Botschaft verkündet. Er läuft mitten auf der Straße und ich denke, so was geht auch nur in Amerika. In Deutschland würde man ihn sofort verhaften. Aber nicht hier, in Amerika ist eben alles möglich.

Jameson’s Irish Pub

Wir kommen auch noch kurz ins Gespräch mit einer deutschen Auswanderin, die am Nebentisch sitzt und mit ihrem Freund etwas isst und trinkt. Sie arbeitet hier im Pub, hat aber jetzt Feierabend. Nach einer netten kurzen Plauderei kümmert sich jeder wieder um seine Belange.

Dann machen wir uns auf den Rückweg nach Hause. Unterwegs sehe ich noch ein paar Müllcontainer und denke, das ist irgendwie auch ein cooles Motiv. Ich stelle mich davor und lasse mich von Jutta ablichten. Cheers!

West Hollywood

Da wir morgen nicht so spät starten wollen, machen wir heute nicht so lange wie gestern.

Die Nacht verläuft sehr angenehm und ruhig. Ich schlafe wieder wie ein Baby und Jutta ist schon lange wach, als ich versuche mir den Schlaf aus den Augen zu reiben.

„Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“, frage ich, bevor ich es wage zu fragen, wann es Kaffee gibt.

„Ja, ganz gut.“, sagt sie. Sie liegt noch eingekuschelt unter ihrer Decke und liest.

Ich strecke und recke mich im Bett und dann riskiere ich einen Blick rüber zu ihr. „Gibt es bald Kaffee?“

Zum späten Frühstück dreht Mr. Miagy auf seinem BMX-Rad wieder seine Runden. Heute hört er Aerosmith.

Wir verlassen LA nach dem zweiten Kaffee und mir ist klar, hier war ich nicht zum letzten Mal.

Los Angeles ist eine fantastische Stadt, eine faszinierende Metropole mit vielen Gesichtern.

Es gibt leider sehr viel Elend hinter der glitzernden Fassade, was mit Sicherheit durch den Virus, der die gesamte Welt verändert, nicht besser geworden ist. Aber es gibt hier auch viel Leichtigkeit, Lebensfreude und vor allem viel Sonne.

An der Bottle Tree Ranch machen wir einen kurzen Zwischenstopp, spenden ein paar Dollar in eine alte Öltonne, freuen uns über diese kleine Sehenswürdigkeit am Wegesrand und schon geht es weiter.

Elmar’s Bottle Tree Ranch

Es wird ein langer Tag und erst spät am Abend, als es bereits stockdunkel ist, werden wir in Vegas ankommen.

Die Strecke dahin ist mal wieder nicht von dieser Welt. Die Mojave Wüste kennen wir bereits, aber dieser Abschnitt durch die National Preserve ist einfach nur traumhaft. So viele Joshua Trees wie hier gibt es kaum sonst irgendwo auf der Welt und das alles auch noch bei Sonnenuntergang zu sehen, das macht diesen Tag perfekt.

Mojave National Preserve

Wir biegen auch mal ab von der Durchgangsroute und machen kleine Abstecher auf Dirtroads, denn wir haben es nicht eilig.

„Hey, hast du gesehen, da waren gerade Sand Dunes ausgeschildert! Lass uns da mal eben hin fahren!“, sage ich.

Mojave National Preserve, on the way to Vegas

Jutta stimmt zu, obwohl sie eigentlich gerne zeitig am Zielort ankommt. Aber das können wir jetzt schon knicken. Es ist bereits klar, bei Tageslicht werden wir Vegas nicht mehr erreichen.

Sie schlägt vor hier irgendwo zu kampieren, in der Wüste und das wäre auch ohne Probleme möglich. Doch so spontan bin ich dieses Mal einfach nicht. Ich hatte für mich heute klar, dass es nach Las Vegas gehen wird. Davon kann ich jetzt nicht abweichen.

Bei den Sanddünen sehen wir einen alten Truck mit einer selbstgebauten Kabine hinten drauf. Ich finde den LKW cool und fotografiere ihn kurz beim Vorbeifahren, ohne zu ahnen, dass wir ihn bald wieder sehen werden.

Wir sehen uns wieder…

Wir sehen noch wenige Andere, die sich einen Platz für die Nacht gesucht haben. Frei stehen ist hier überall möglich, es muss nur mindestens eine Meile von der Straße entfernt sein.

Ich gebe Las Vegas eine zweite Chance. Wir waren schon mal da. Mit einem schwarzen Dodge Durango. Wir wohnten im Hard Rock Hotel und sind vorzeitig abgereist. Ich habe es versäumt damals diese großartige Elvis Presley Show zu sehen. Das habe ich elf Jahre lang bereut. Dieses Mal will ich es besser machen. Ich will nichts bereuen, was ich in Vegas tue oder was ich in Vegas nicht tue. Wie heißt es doch so schön? „What happens in Vegas, stays in Vegas!“

Mojave Desert

Das wollen wir erstmal sehen.

„Las Vegas we are on the way…“

…und was als Nächstes geschieht…

CHAPTER VIII – LEAVING LAS VEGAS TO DEATH VALLEY

…und wie Elvis Presley mir den Abend versaut…