Chapter 29 – Montreal, Quebec und der unglaubliche Sankt-Lorenz-Strom….

.und wie uns Corona doch noch erwischt und was D.O.A. damit zu tun hat…

This Chapter is dedicatetd to Mr. Chi Pig – R.I.P. (16.07.2020)

Ich wälze mich aus dem Bett und schaue aus dem Fenster. Dann sehe ich das Drama von dem Jutta gesprochen hat. Wir sind komplett zugestellt. Aber warte mal, hatte der Typ, der uns hier gestern eingewiesen hat, nicht so etwas erwähnt? Er sagte doch: „Wir regeln das schon!“ und wir sollen nicht erschrecken oder so sinngemäß. „Lass uns erst mal frühstücken“, schlage ich vor, „die holen uns hier schon raus, wenn wir los wollen.“ Jetzt erinnert Jutta sich auch wieder daran. „Stimmt ja, der morgendliche Wahnsinn, wenn alle Angestellten in den Büros einfallen und einen Parkplatz bis zum Feierabend brauchen.“ Der Parkraum in Downtown Toronto ist sehr begrenzt.

Wir lassen es heute morgen sehr relaxt angehen, denn besonders weit werden wir nicht fahren, wenn wir die Stadt verlassen. Cobourg soll der erste Zwischenstopp sein, ein nettes kleines und beschauliches Städtchen am Ontario Lake. Danach geht es direkt weiter bis Kingston. Dort wollen wir eine „1000 Islands“ – Bootstour machen, von der Omi Hans uns so vorgeschwärmt hat.

Toronto Streetlife

Aber erst mal ist Frühstück angesagt und dabei besprechen wir die nächsten Tage. Jutta hat bereits wieder einige besonders schöne Campgrounds rausgesucht und berichtet mir beim Kaffee davon. Schnell werden wir uns einig welches unsere Favoriten sind. Die grobe Richtung steht, bis einschließlich Montreal, dann sehen wir weiter. Als der zweite Kaffee geleert und die Kabine aufgeräumt ist, quetsche ich mich durch die eng geparkten Autos, die uns die Ausfahrt versperren, um im Kassenhäuschen um Hilfe zu bitten. „No problem!“, heißt es nur. Und beim Blick rüber zu unserem Camper greift der Parkplatz Concierge aus einer großen Ablage verschiedener Autoschlüssel, gezielt die Richtigen und ca. 10 Minuten später ist unser Weg frei. Vorsichtig rangiere ich LEMMY durch die geräumte Spur vom Parkplatz. Vorausschauender Weise wurde ich rückwärts eingeparkt, so dass jetzt alles problemlos läuft. Wir bedanken uns, winken und verlassen eine fantastische Metropole.

Toronto

Bis Cobourg sind es etwas mehr als hundert Kilometer Asphalt und wir fahren fast die gesamte Strecke dicht am Lake Ontario entlang. Nach über einer Stunde kommen wir an, parken und machen einen kleinen Bummel durch die beschauliche Kleinstadtidylle. So richtig gute Laune kommt allerdings nicht auf bei unserer Besichtigungstour. Nachdem wir einen Eindruck von der Innenstadt und dem Stadtstrand bekommen haben, wollen wir weiter. Bis Kingston sind es schließlich noch drei Stunden zu fahren, sagt das Navi. Wir wählen den längeren Weg über die kleine Halbinsel Prince Edward, kommen dabei auch noch in den Genuss mit der Fähre von Glenora nach Adolphustown überzusetzen und sind insgesamt mehr an der Küstenlinie unterwegs.

Fähre Glenora – Adolphustown
Adolphustown

Die Ausblicke auf den Lake Ontario sind wunderschön heute, bei Sonnenschein und blauem Himmel. Gegenüber befindet sich die USA mit dem Bundesstaat New York. In Kingston übernachten wir im Lake Ontario Park auf einem „Umsonst“ Stellplatz. Als wir am späten Nachmittag ankommen sind noch viele Tagesausflügler unterwegs und picknicken auf den, von Bäumen beschatteten, Grünflächen. Wir machen noch einen kleinen Spaziergang, bis uns die Mücken zu sehr piesacken und beenden den Tag gemütlich mit einem leckeren Abendessen und einem Horrorfilm.

Der nächste Tag beginnt mit einem schnellen Müslifrühstück auf dem grünen Rasen. Jeder schnappt sich einen Stuhl, den Kaffee und die Müslischale, auf einen Tisch verzichten wir. In der Sonne genießen wir den Morgensnack und unseren Wachmacher aus dem Becher. Wir verlieren nicht viel Zeit, dann geht es runter zum Hafen für die „1000 Islands Bootstour“. Ich weiß, dass diese Tour an verschiedenen Stellen, nicht nur in Kingston, unter diesem Namen angeboten wird und hoffe auf ein großartiges Erlebnis. Wir sichern uns das Ticket für die Tour auf der „Island Belle I“ und haben vor dem Ablegen noch Zeit uns etwas umzusehen.

Island Bell I

Nach Toronto haben es diese kleinen Städte schwer bei mir zu punkten, zu langweilig stelle ich mir das Leben hier vor. Da spielt die fantastische Lage, wo der St. Lorenz Strom in den Lake Ontario mündet, keine Rolle. Viel los ist nicht gerade als wir das Boot betreten. Hinter uns steht die „Island Star“, etwa doppelt so lang, aber nicht so schön wie unser Ausflugsdampfer. Die kommt erst zum Einsatz bei größerer Nachfrage. Ich ahne bereits, an der falschen Stelle zu sein, hätte ich bloß besser zugehört, als Omi Hans von seiner Tour berichtet hat.

Kingston City Hall

Wir legen ab und meine Vermutung bewahrheitet sich. Es ist alles ganz interessant, was da vom Kapitän berichtet wird und nette Ausblicke gibt es auch hin und wieder, aber von 1000 Inseln kann nicht die Rede sein. Ich schaue auf meine Handymap und entdecke keine 50 Kilometer von hier den „Thousand Islands National Park“. Na was soll`s, so was kommt dabei raus, wenn man mal nicht gründlich recherchiert oder nicht genau zuhört, wenn Insidertipps verteilt werden. Ich habe mir nur das Stichwort „1000 Islands“ gemerkt, als Hans vor Wochen davon geschwärmt hat.

Tatsächlich haben wir spektakulärere Ausblicke auf dem Weg zu unserem nächsten Nachtlager, dem Ivy Lea Campground. Es sind nur 41 Kilometer zu fahren, aber diese 35 Minuten Fahrzeit haben es in sich. Auf dem „Thousand Islands Parkway“ können wir uns gar nicht satt sehen an der Inselwelt des mächtigen St. Lorenz Stroms. Es gibt große und kleine Inseln, teilweise ist das Wasser türkisgrün.

Auf manchen sehr kleinen Inseln entdecken wir fantastische Villen, Privatanwesen von irgendwelchen Celebreties oder Großverdienern, spekulieren wir. Selbstverständlich haben sie alle einen Bootsanleger mit schicken Yachten vor der Tür. Man muss ja schließlich auch mal einkaufen. Am anderen Ufer parkt dann der Bentley oder der Chauffeur holt einen standesgemäß mit der Stretchlimousine ab. Auch auf dem Festland sehen wir prächtige Häuser mit riesigen Grundstücken am Wasser.

Ich komme ins Träumen und frage mich, ob ich hier denn leben könnte, in so einem Haus, mit dem Boot vor der Tür und diesem Blick aus dem Wohnzimmerfenster? Ich glaube nicht, obwohl es im Dreieck zwischen Toronto, Montreal und New York City liegt. Von den drei Städten ist es mir zu weit entfernt und an den nächsten Nachbarn und kleinen Ortschaften zu nah dran. Dann lieber richtig abgelegen an einem einsamen Bergsee, kein anderes Haus in Sichtweite. Für eine Weile, zum Schreiben zum Beispiel, zum Runterkommen. Vor dem Frühstück schwimmen, gelegentlich mit dem Boot raus fahren, vielleicht sogar angeln. Im Sommer, bei lauen Nächten unter klarem Sternenhimmel auf der Terrasse sitzen und auf den See raus schauen, im Winter am Kamin sitzend ein gutes Buch lesen und einen exquisiten Wein oder Bourbon trinken. Das würde mir gefallen. Vorbei gekommen sind wir bereits an etlichen Orten auf dieser Reise, an denen ich es für einige Wochen oder gar Monate aushalten könnte. Eigentlich ist heute eine perfekte Gelegenheit am Blog weiterzuarbeiten. Wir werden früh ankommen und stehen hoffentlich nah am Wasser.

„…..abbiegen müssen!“

„Waasss isss?“, frage ich erstaunt und Jutta guckt mich mit großen Augen an.

„Du hättest da gerade abbiegen müssen!“, sagt sie, „wir sind da.“

„Oh, sorry. War wohl in Gedanken.“, erwidere ich. Dann wenden wir und kurz darauf sehe ich das Schild: „Ivy Lea Campground“. Der Campingplatz liegt zum Teil unter der „Thousand Islands Bridge“, die rüber in die USA führt. Der Blick von unten auf die Brücke ist grandios, dafür hört man aber den Verkehr, der Tag und Nacht zwischen den beiden Ländern fließt. Wir wollen versuchen einen naturnahen Stellplatz zu ergattern, ohne Strom und irgendwelchen Schnickschnack.

Ivy Lea Campground

Beim Check-in bekommen wir eine Map mit markierten freien Plätzen in die Hand gedrückt. Damit fahren wir los, um uns den schönsten Platz zu suchen. Die Wege sind eng, die Bäume stehen dicht, es geht steil rauf und runter. Wir lassen links und rechts diverse freie Plätze hinter uns, es geht bestimmt noch besser. Die Leute mit ihren Luxuscampern stehen vorne auf Schotter, sie haben keine Chance mit ihren großen Gefährten einen dieser Traumplätze zu erreichen. Mal wieder wird mir klar, mit LEMMY haben wir die beste Wahl getroffen. Mittlerweile bin ich so oft abgebogen in dieser hügeligen, dschungelartigen Vegetation, dass ich die Orientierung verloren habe. „Sind wir hier schon lang gefahren?“, frage ich Jutta, die die Map auf ihrem Schoß liegen hat. „Ich weiß es auch nicht so genau, fahr mal da rum!“, sagt sie und zeigt an einer Gabelung links runter. „Schau mal den da, die Nr. 23.“ „Yes!“, sage ich, „der Platz ist perfekt!“

Thousend Islands National Park

Wir stehen auf einem lang gezogenen Stellplatz an einem Seitenarm des Sankt-Lorenz-Stroms, inmitten dichter Bäume, direkt am kristallklaren Wasser in Ufernähe, weiter hinten wird es türkisgrün. Eine Feuerstelle befindet sich dicht am Wasser und zwei Bäume haben den richtigen Abstand, um unsere Hängematte zwischen ihnen zu spannen. Jetzt müssen wir nur noch beim Check-in Bescheid geben, welchen Platz wir uns ausgesucht haben und den Papierkram erledigen. Jutta erklärt sich bereit zu laufen und ich baue unser Lager auf. LEMMY parke ich quer, mit der Kabinentür zum Fluss. Das Tarp lasse ich weg, da wir genug Schatten durch die Bäume haben. Die Hängematte wird gespannt und die Feuerstelle präpariert. Dann richte ich mir meinen Schreibtisch ein, damit ich später noch arbeiten kann. Nach über einer halben Stunde kommt Jutta erst zurück. Es war doch weiter als gedacht zu Fuß bis zum Eingang.

Perfekter Stellplatz

Überglücklich mit diesem sensationellen Stellplatz genehmigen wir uns ein kaltes Bier und genießen die Natur um uns herum. Ein schwarzes Eichhörnchen gesellt sich zu uns. Es hält ausreichend Abstand, ist aber doch immer in unserer Nähe. Der Kleine ist für ein Eichhörnchen ganz schön groß und ziemlich abgerockt. Er sieht alt aus und, als hätte er schon einiges erlebt. Irgendwie mag ich ihn. Er hat an einigen Stellen graue Haare, so wie ich. Wegen der Atmosphäre und weil ich Campfire einfach liebe, entfache ich die Feuerstelle bereits jetzt schon, am Nachmittag. Beim Check-in habe ich zwei Bündel Feuerholz gekauft und hier liegt reichlich totes Holz herum. Es schadet sicher nicht, wenn ich etwas davon für mein Lagerfeuer verwende.

Zwei Tage verbringen wir in dieser traumhaften Umgebung. Eigentlich zu kurz für so einen schönen Ort, aber der Platz ist danach leider schon für jemand Anderen reserviert. Wir müssen uns langsam der Realität stellen, und zwar, dass wir uns auf dem Rückweg dieser Reise befinden. Das gilt insbesondere für mich, Jutta hat weniger Probleme ins Waterhole zurückzukehren. Mir fällt es schwerer, je weiter wir uns dem Tag der Abreise nähern. Aber noch haben wir fast vier Wochen und ich damit genug Zeit, eine altbewährte Strategie anzuwenden: Verdrängung. Das Waterhole ist noch weit weg und kann mich sonst wo lecken.

„Cheers!“

Ich mache jetzt eine andere Reise, eine Reise in die USA. Um genau zu sein nach Utah, in die Hochwüste, in den Arches National Park. „Jutta, ich schreibe noch an meinem Blog weiter, diese Kulisse animiert mich zum Arbeiten.“, sage ich. „Ja, gute Idee. Das mach mal, ich lese noch. Essen um sieben?“

Kein übler Arbeitsplatz…
Mr. Writer

Das bei Jutta bald das genaue Gegenteil eintreten wird, von dem was bei mir grundsätzlich der Fall ist, nämlich Fernweh, davon ahnen wir jetzt noch nichts: Akute Reisemüdigkeit.

Am Abend schmeißen wir ein paar Sachen auf den Grill, unterhalten uns angeregt und freuen uns auf die folgenden Abstecher nach Montreal und Quebec. Am 20. Juni, also in 6 Tagen wollen wir auf ein D.O.A. Konzert in Quebec City gehen. Die Karten dafür haben wir online schon gekauft. Für mich ist ein Konzert immer was Besonderes und die letzten Gigs, für die ich Tickets gekauft hätte, waren in Seattle leider allesamt bereits ausverkauft. Ihr erinnert euch nicht? Deftones, Ministry, Corrosion Of Conformity, Turnstile….

D.O.A. ist leider nicht dasselbe Kaliber wie oben genannte Bands, dafür haben wir die Karten zu einem Spottpreis bekommen. Konzerte in einem anderen als dem Heimatland sind eh was Besonderes, für mich jedenfalls. Und was dieses Konzert bzw. ein T-Shirt in mir auslösen wird, davon habe ich noch keine Ahnung. Wir sitzen noch eine Weile entspannt am Feuer, reden über dies und das, trinken noch ein Bier zusammen und dann zieht Jutta sich zurück in die Kabine. Ich rücke meinen Stuhl wieder an den Schreibtisch, nah ans Feuer und beame mich zurück nach Utah.

I love Campfire

Der zweite Tag verläuft genauso gechillt, wie der Gestrige. Ab und an kommen Leute mit Kajaks vorbei und winken uns zu. Wir liegen abwechselnd in der Hängematte, dösen vor uns hin, lesen ein Buch oder lösen Sudokus. Ich schreibe schon am Vormittag, sammle und hacke Feuerholz. „Devil“, so habe ich unser schwarzes Eichhörnchen getauft, streicht mir mit gebührendem Abstand um die Füße. Hin und wieder bekommt es eine Erdnuss zugeworfen. Nach dem Mittagessen machen wir ein Schläfchen, hören dabei „Hurricane“, ein neues Hörspiel, welches in Alaska spielt und ganz vielversprechend scheint. Dann gibt es Kaffee und Strawberry Cheesecake, während wir die wärmende Sonne und den Blick auf das türkisfarbene Wasser genießen. In diesem Augenblick wünsche ich, dass diese Reise niemals endet.

Devil, unser ständiger Besucher

Doch es kommt, wie es kommen muss. Die Realität holt mich ein. Auch wenn unsere Reise vorläufig weiter geht, so nähern wir uns immer mehr dem Endpunkt, dem Abflug. Dem Tag, an dem wir nach Deutschland fliegen, zurück ins Waterhole. Ich rede nicht darüber, behalte meine trüben Gedanken für mich, will Jutta nicht die Laune verderben. Ich verdränge, das kann ich gut. „Hey, guten Morgen!“, sage ich, als ich durch köstliches Kaffeearoma am Abreisetag wach werde.

Gegen Mittag starten wir und verlassen Ivy Lea. Ich wurde bei meinem Instagram Post sogar nach der Nummer gefragt, wo genau wir gestanden haben. Den Tipp gebe ich gerne weiter. Bevor wir Richtung Montreal fahren, wollen wir auf die Thousand Islands Bridge zum Thousand Islands Tower, der auf Hill Island liegt, vor der US amerikanischen Grenze. Von dem Turm soll die Aussicht herrlich sein, aber leider ist der Tower geschlossen, wie es scheint bereits seit einem längeren Zeitraum.

Wir fahren noch bis an die US amerikanische Grenze, drehen dann um und fahren weiter auf dem Thousand Islands Parkway Richtung Montreal. Es geht durch Orte wie Butternut Bay, Blue Church, Cardinal und Ingleside, vorbei an luxuriösen Villen, gebaut direkt am Sankt-Lorenz-Strom. Manche dieser Villen sind komplett schwarz und so ganz anders, als wir es aus Europa kennen. Ich denke tatsächlich darüber nach unser Haus auch schwarz zu streichen, wenn ich zurück bin. Vanta Black, das ist meine Farbe. Hinter Ingleside biege ich links ab, auf die „Long Sault Pkwy Scenic Route.

Leider beginnt es in diesem Augenblick heftig zu schütten. Ich trete auf die Bremse, werde langsamer. Von dieser sehenswerten Straße über 11 Inseln, durch Brücken verbunden, sehen wir nur regenverhangene Schleier. Angekommen auf der letzten Insel, auf Mille Roches Island, fahren wir auf den gleichnamigen Campingplatz. Unser auserwählter Stellplatz steht dermaßen unter Wasser, dass uns angeraten wird, auf einem der vorderen Schotterplätze die Nacht zu verbringen. Safety First! Wir hören auf die Leute und ehrlich gesagt, habe ich auch keinen Bock mich auf der vom Regen aufgeweichten Grünfläche festzufahren. Dieser Tag endet wie er begonnen hat, trüb. Ein heftiges Gewitter setzt ein und der Himmel hat all seine Schleusen geöffnet. Der Regen prasselt lautstark auf das Dach, Donner und Blitze lassen uns zusammenzucken. Es dauert lange, bis wir heute Nacht in den Schlaf finden.

„Willst du nicht mal langsam aufstehen?“, fragt Jutta, als sie mitbekommt, dass ich mich gerade auf die andere Seite wälzen will. „…..mmmhhh, wie spät is es denn?“ „Schon zehn Uhr durch!“, antwortet sie. „Oh, schon? Ja klar, ich komme.“

Zehn Minuten später sind wir beim Frühstück in der Kabine, obwohl die Sonne vom Himmel lacht. Es lohnt sich nicht, für so ein kurzes Vergnügen auf diesem Schotterplatz Tisch und Stühle draußen aufzubauen. Außerdem wollen wir gleich weiter. Doch bevor es nach Montreal geht, werden wir unterwegs das „Upper Canada Village“ besichtigen. Die gute Laune ist mit der Sonne zurückgekehrt. Vielleicht liegt es auch an der Vorfreude auf die Stadt. Heute verlassen wir Ontario und werden Quebec State ein bisschen besser kennen lernen.

Bei bestem Wetter und mit trockenem Asphalt unter den Rädern, nehme ich die letzte Brücke von der elften Insel und biege rechts ab, runter vom Long Sault Parkway, auf den Macdonald Cartier Freeway, straight to Montreal.

CUT!……….., CUT!!!……, Augenblick mal, müssen wir nicht links runter fahren? Wir müssen tatsächlich knapp 20 Kilometer zurück, auf dem Festland allerdings, nicht über die Inseln. Eine Viertelstunde später kommen wir an. Die Sonne brennt. Wir kennen es nicht anders. Ist es doch meistens bei uns so, dass wir erst gegen Mittag mit den Aktivitäten starten.

Das „Upper Canada Village“ ist ein Freilichtmuseum und besteht aus etwa 40 Gebäuden, um das Jahr 1860. Es ist alles so liebevoll hergerichtet bzw. erhalten worden, dass es mir schwer fällt, es angemessen in Worte zu fassen. Nachdem wir den Eintritt bezahlt haben, überqueren wir eine Brücke und begeben uns in das Sägewerk. Es ist wenig los, wahrscheinlich ist der erste Schwung an Leuten bereits früh morgens durch und die Nächsten starten am späteren Nachmittag, wenn die Sonne nicht mehr so brennt. Ich steige die Treppe hoch, um das Werk dort zu erkunden und stelle fest, dass da auf einem Stuhl, halbwegs sitzend, gerade jemand ein Nickerchen macht. Er ist gekleidet, wie man sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Arbeiter in einer Sägemühle gekleidet hat. Ich möchte ihn nicht wecken in seiner Mittagsruhe und versuche leise vom Dachboden zu verschwinden. Ich bewege mich in Zeitlupe und auf Zehenspitzen, aber die alten Holzdielen knarren und quietschen unter meinem Gewicht. Ich blicke mich um, gehe langsam weiter…., knaaarrrrtz….., er öffnet seine Augen. Plötzlich ist er hellwach, springt von seinem Stuhl auf und erzählt von seiner Arbeit als Tischler und Zimmermann. Er führt mir die Funktionsweise seiner Säge vor, ein 6 Meter langes Sägeblatt, welches vom Dachboden bis nach unten reicht, über eine Kurbel betrieben wird und in der Werkstatt eine Etage tiefer, Bäume in Scheiben schneiden kann. Jutta kommt gerade die Treppe hoch, als er mir von seinen deutschen Vorfahren berichtet.

Upper Canada Village

Wir sehen andere Werkstätten, eine Schneiderei, den Schuster, einen Schmied. Überall werden wir äußerst herzlich begrüßt und uns wird etwas berichtet aus der damaligen Zeit, vor über 150 Jahren. In der Schule ist Jutta besonders aufmerksam und beim Bürgermeister staune ich über den Luxus, den die anderen Bürger entbehren mussten. Auch in der Kirche kehren wir ein und werden Zeuge einer Hochzeitszeremonie. Im ganzen „Upper Canada Village“ erleben wir eine Inszenierung, die stattfindet, als ob wir überhaupt nicht da wären. Alle sind zeitgemäß gekleidet und manche spazieren einfach über die Straße, erledigen Einkäufe, ohne von uns Notiz zu nehmen. Das fühlt sich gut an, realistisch, authentisch. Wir sind im Jahr 1860.

Leider kann ich mal wieder nicht anders, als einen Haken zu schlagen zu einem Film, an den ich hier denken muss. Wer mich gut kennt wird jetzt bereits wissen, welcher Film mir im Kopf umgeht. Wohlmöglich erahnen auch aufmerksame Leser, die in meinem Alter sind, den Film, der mich in diesem Augenblick beschäftigt. Eine der Hauptrollen wird von Yul Brynner gespielt, er ist ein Roboter mit einer künstlichen Intelligenz. Der Film entstand im Jahr 1973 und heißt „Westworld“. Erstaunlich, wie damals die KI schon in unserem Bewusstsein war und was bis heute daraus geworden ist. Wird sie zum Segen oder zum Fluch für die Menschheit? Aber ich will nicht zu sehr abschweifen, nur soweit: „Wie geil wäre denn das, wenn jetzt ein durchgedrehter Hufschmied mit seinem Schmiedehammer wild fuchtelnd durch die Church Street rennt und jeden erschlägt, der ihm über den Weg läuft und Jutta und ich um unser Überleben kämpfen müssen….?!“

Eine Zombie-Apokalypse wäre mir auch recht:

Ich renne über die Straße, beim Bürgermeister habe ich einen Degen an der Wand hängen sehen, den muss ich haben. „Warte hier!“, schreie ich Jutta zu, „bin sofort wieder da, muss nur schnell was besorgen!“ Ich trete die Tür des Bürgermeisters ein, renne die Treppe hoch in seinen Empfangsraum und reiße den Degen inklusive Schaft von der Wand. Ich schaue runter auf die Straße, die Untoten kommen, sie umzingeln Jutta. Ich springe durch das Fenster auf das Verandadach, schmeiße den Degen in den Garten und mache einen Sprung mit Rolle hinterher. Dann greife ich nach meiner Waffe, eile Jutta zu Hilfe und kille alle Zombies, wie es im Lehrbuch geschrieben steht, mit einem Kopfstoß. Zum Glück sind es die langsamen Wiedergänger, mit denen werde ich spielend fertig.

Dorfkirche des Upper Canada Village

Ein Fazit vom „Upper Canada Village“: Für mich ein „Must see“, es ist jeden verdammten Cent wert, die Leute spielen ihre Rolle mit Leidenschaft, sie heißen jeden herzlich willkommen, sind beizeiten unaufdringlich, jederzeit hilfsbereit, überaus freundlich und alles ist mit so viel Liebe und Hingabe inszeniert, dass einem das Herz aufgeht. Einzig und allein die verrücktspielende KI hat mir letztendlich gefehlt, für meinen Adrenalinschub.

Jetzt aber: „Auf nach Montreal!“

Jacques-Cartier Bridge

Nach einer Stunde hinter dem Lenkrad wird der Verkehr deutlich dichter, wir nähern uns der Stadt. Völlig ungewöhnlich für uns: Die ganzen letzten Tage sind wir nur sehr kurze Distanzen gefahren, meistens nicht mal 2-3 Stunden. In Montreal werden wir drei Tage bleiben, vom 17.06.22 bis zu dem D.O.A. Konzert in Quebec City am 20. Juni. Und auch dieser Trip wird keine drei Stunden dauern. Aber erst mal geht es durch den wuseligen Innenstadtverkehr. Wir hätten auch eine alternative Route mit weniger Fahrzeugaufkommen wählen können, aber ich wollte gerne durchs Zentrum. Unser Ziel ist auf der östlichen Seite des Sankt Lorenz Stroms, den ich gerade überquere, unter uns ein Freizeitpark auf der Ile Sainte-Helene. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Parkplatz. Hoffentlich kommen wir noch unter, denn in zwei Tagen ist in Montreal ein Formel 1- Rennen, von dem wir jetzt erst erfahren auf den zahlreichen Plakaten in der Stadt. Jutta navigiert mich perfekt durch Downtown, über Brücken und durch diverse Knotenpunkte zur richtigen Abfahrt.

Der Parkplatz sieht verdammt voll aus. Ich stehe „in line“ hinter anderen Autos, die sich langsam dem Kassenhäuschen nähern, um ein Ticket zu ergattern. „Das wird nichts!“, sagt Jutta frustriert. „Da stehen nirgendwo große Autos oder Camper.“, bemerkt sie noch. „Mal abwarten!“, sage ich als Optimist. Noch drei Fahrzeuge sind vor uns, dann endlich kommen wir an die Reihe. Jetzt wird es spannend. „Do you have some space for us, for about three days?“, frage ich den Typen im Häuschen. „Yes, of course!“ Er nennt mir einen sehr fairen Preis für einen relativ zentralen Stadtstellplatz und erklärt, wie ich dorthin komme. Ich muss nur am endlos langen PKW-Parkplatz vorbei fahren, dann sind wir da. An der Waterfront ist alles belegt, aber in zweiter und dritter Reihe gibt es noch genug Auswahl für uns. Auf einer leicht geschotterten Rasenfläche stelle ich LEMMY ab. Vor uns der Sankt Lorenz Strom, hinter uns eine Schnellstraße. Wir dazwischen auf einem stadtnahen Stellplatz für Camper jedweder Couleur.

„Ein bisschen müssen wir noch einkaufen und wie wäre es eigentlich, wenn wir heute noch ausgehen?“ Das sind wieder nur Gedanken, die ich mir mache, aber als ich das Gefühl habe gut angekommen zu sein in Montreal und auch Jutta ihren Wohlfühlfaktor erreicht hat, da spreche ich es aus. Jutta sagt nur ein Wort: „Klar!“

Wir brauchen nicht viel, nur ein paar frische Sachen: Obst, etwas Aufschnitt und Wasser. Es gibt einen 24/7 Supermarkt auf dem Weg in die Kneipe, die ich ausgesucht habe. Vieux-Longueuil ist der Stadtteil, in dem wir uns befinden und im Bungalow Bar Salon möchte ich gerne auf Montreal anstoßen. Die Prioritäten werden festgelegt, erst trinken, dann shoppen. Die Bar machte im Internet einen guten Eindruck und als wir an unserem Fensterplatz den Blick auf die Terrasse und die Straße genießen, können wir das nur bestätigen. Ich bestelle bei der fixen Bedienung ein großes „Boreale Beer“, Jutta trinkt ein Witbeer. „Wollen wir auch noch was essen?“, fragt Jutta völlig berechtigt. Wir hatten noch kein Abendbrot. „Warum nicht!“, sage ich. „Habe zwar keinen großen Hunger, aber eine Kleinigkeit geht immer.“

Boreale Beer

Wir beobachten, was sich vor dem Fenster so abspielt, das alltägliche Drama. In der Kneipe streitet sich ein Pärchen und versöhnt sich. Haben sie später noch Sex? Ich glaube schon. Sie gehen vor uns. Bevor wir unser Bier ausgetrunken haben kommt der nette Typ, der uns die Drinks serviert hat, um abzukassieren. Es ist Schichtwechsel und er macht Feierabend. Ich zahle mit Kreditkarte, wir verabschieden und bedanken uns. „Das war ein netter Guy!“, bemerke ich Jutta gegenüber. Er hat sogar englisch gesprochen, was in Montreal und vor allem in Quebec nicht selbstverständlich ist. Mein Bier ist fast leer und ich sehe, mit wem er die Schicht getauscht hat. „Wow, is die heiß!“, kann ich mir nicht verkneifen, als mir klar wird, wer mir das nächste Getränk serviert. Es ist eine junge, attraktive Lady mit einem extrem kurzen Stretchhöschen, einem schwarzen Latex BH und einem Hauch aus Netz-Shirt darüber. Das gesamte Outfit ist sexy black. Ich signalisiere, dass ich Durst habe. Sie nimmt mich wahr und nickt mir zu. Hoffnungsvoll rechne ich damit in Kürze die nächste Bestellung loszuwerden. Wir warten. Und warten. Irgendwann kommt sie dann doch vorbei und ich bestelle nachdrücklich ein frisches Bier, weil ich schon eine Weile vor einem leeren Glas sitze. Nun ja, sie kann nicht wissen, dass ich es hasse ein leeres Glas vor mir zu haben. Jutta bestellt ein Wasser und das Menü. Dann warten wir erneut. Und warten. Sicher, ihr Englisch ist nicht besonders gut, aber ich hatte den Eindruck, als sie unseren Tisch verlassen hat, sei alles geklärt und verstanden worden. Das hat sie mir jedenfalls zu verstehen gegeben.

So wie ich es kenne, sollte die Bedienung geschäftstüchtiger sein und im Blick haben, welche Gäste habe ich heute? Wer trinkt schnell, wer braucht eine zusätzliche Ansprache, wo muss ich tätscheln, wo die Mutterrolle spielen und wen muss ich arrogant behandeln? Sie weiß nichts von alledem. Sie bringt weder mein Bier, Juttas Wasser oder die Karte für das Essen an unseren Tisch. Ziemlich genervt bekomme ich Blickkontakt zu ihr, sie steht gelangweilt an der Bar und eilt herbei. Was ich denn von ihr will, fragt sie allen Ernstes. Ich falle fast vom Glauben ab und versuche ihr zu verklickern: „One Beer, one water and the food menu!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie an unseren Tisch und serviert ein Wasser und mein Bier. „Where is the menu?“, frage ich. Sie geht und nach 20 Minuten frage ich ein weiteres Mal nach der Speisekarte. Dann bekomme ich sie sogar kurz darauf an den Tisch gebracht. Sie legt die Speisekarte einfach ab, ohne uns eines Blickes zu würdigen. „Willst du hier wirklich noch was bestellen?“, frage ich Jutta. „Ja, ich habe noch Hunger!“ Jutta bestellt sich was zu essen, ich noch ein Bier und wieder warten wir ewig.

Sightseeing

Hier und heute ist das zweite Mal, dass ich kein Trinkgeld beim Verlassen einer Bar gebe. Das erste Mal war in Vancouver, als mich eine Bitch um 25 $ Change betrügen wollte, das zweite Mal ist jetzt. Ich konstatiere: Nur ein sexy Outfit qualifiziert niemanden zu einer erstklassigen Tresenkraft, auch nicht zu einer zweit- oder drittklassigen. Ich erwarte mehr. Eine gute Bedienung weiß, wie schnell oder langsam ich trinke. Sie lernt was ich konsumiere und sie weiß noch eine Menge mehr über mich, jedenfalls wenn ich wiederholt ihre Bar betrete. Sie weiß, was meine besten Freunde nicht wissen. Sie muss ihre Gäste lesen wie ein offenes Buch und wenn sie das nicht kann, dann sollte sie umschulen. Ich selber kenne Barpersonal auf allen Kontinenten, außer der Antarktis, und kann mich mit ihnen verständigen. Durch ein Kopfnicken, durch einen Fingerzeig, durch einen kurzen Blickkontakt oder andere verbale oder nonverbale Kommunikation. My sexy Lady in Montreal beherrscht nichts von alledem und geht deshalb leer aus, ohne Trinkgeld. Ich hasse mich selbst dafür, aber sie noch mehr. Sie hat mir das angetan. Ich verlasse den Bungalow Bar Salon ohne Trinkgeld zu geben. Das zweite und hoffentlich letzte Mal im Leben gehe ich aus einer Bar ohne Tip.

Wir kaufen noch einiges im 24/7 Supermarket ein, füllen unsere mitgebrachten Beutel mit dem, was wir tragen können und gehen nach Hause. Ich gönne mir noch ein nie zuvor getestetes Feierabendbier aus Quebec für den Gaumen und die Butthole Surfers EP von 1983 für die Ohren. Jutta geht schlafen, während die Surfers ihre Instrumente malträtieren und Gibson Haynes ins Mikro brüllt: „The Shah sleeps in Lee Harveys grave!“ Danach wird es ruhiger mit dem zweiten Song auf der EP: „Hey!“

„Guck mal da drüben!“, sagt Jutta beim Frühstück und zeigt mit dem Finger aus ihrem Fenster. „Sieht der nicht geil aus?“ Ich recke den Hals und versuche an Jutta vorbeizuschauen, um durch ihr Fenster zu entdecken, von wem sie spricht. Dann sehe ich es, sie spricht von niemandem, sie spricht von etwas. Da steht ein Offroadcamper wie von einem anderen Stern. Wahrscheinlich von einem dunklen Planeten, von einem Bösen. Vom Dark Star? „Wow, der sieht ja echt mega cool aus!“, sage ich. Ich rutsche rüber auf Juttas Seite, um besser sehen zu können. Das Teil sieht wirklich evil aus, wie von der Rückseite des Mondes, wo die wirklich miesen Deals laufen. Leider sehen wir niemanden vor dem Fahrzeug und auch drinnen können wir kein Lebenszeichen entdecken. Fasziniert und mit gehörigem Respekt werden wir unsere Nachbarn im Auge behalten. Es sollte mich nicht wundern, wenn Darth Vader höchstpersönlich dort aussteigt oder irgendein Anhalter aus der Galaxie.

Camper einer fernen Galaxie zu Besuch in Montreal

Unser Plan für heute ist nichts Besonderes, wir wollen uns treiben lassen in den Gassen von Montreal. LEMMY kann stehen bleiben, denn es gibt eine Fähre, besser gesagt ein Shuttleboat von diesem Parkplatz auf die andere Seite des Sankt-Lorenz-Stroms. Das kostet fast nichts und dauert nur etwa 20 Minuten. Dabei sehen wir noch im Vorbeifahren das Riesenrad, die Achterbahn und andere Attraktionen der Ile Sainte-Helene, die wir schon von der Brücke auf dem Hinweg aus von oben betrachtet haben. Es steigen immer mehr Menschen zu, die Fähre hält zwischendurch, meistens sind es Leute mit Ferrari Mützen und andere sehr motorsportlich gekleidete Typen.

Vieux-Port de Montreal

Mich interessiert allerdings eher die Art und Weise, wie wir uns der Stadt nähern. Für mich ist es immer etwas ganz besonderes eine Stadt von der Seeseite aus zu entdecken, wie wir es bereits in Sydney, New York City, Hong Kong, Manaus, Vancouver, San Francisco oder anderswo erlebt haben. Montreal kann da natürlich nicht in der ersten Liga mitspielen, aber schön ist es trotzdem, die Innenstadt von Montreal über diesen mächtigen Strom zu erreichen. Sie präsentiert sich von ihrer schönsten Seite, bei perfektem Wetter. Nachdem wir die Jacques-Cartier Bridge passiert haben, steuern wir auf die belebte Gegend um Vieux Port de Montreal zu. Hier verlassen wir das Boot und folgen unserer Intuition. Ich bin vollkommen entspannt und habe keine großen Ziele, denn dies ist bereits unser zweiter Besuch in der zweisprachigen Stadt. Wir bummeln auf den Touristenpfaden, trinken Bier in einem Straßencafé, versuchen das billige Hostel zu finden, in dem wir damals übernachtet haben und genießen den Augenblick. Der Lifestyle ist Rock`n Roll und das alte Hotel Nelson ist noch an Ort und Stelle, als wollte es mir zurufen: „Hey du, ich bin hier und wenn die ganze Welt untergeht, dann bin ich immer noch da!“

Hotel Nelson – Le Vieux Montreal

Was soll ich sagen? Wir besuchen die Basilique Notre-Dame de Montreal, China Town, Centre-Ville usw.. Auf dem Hausberg waren wir damals schon und die touristische Bootstour auf dem Fluss haben wir ebenfalls bereits abgehakt, also können wir uns gegen Abend mit dem Bootsshuttle auf den Heimweg machen. Montreal ist eine interessante Stadt, besonders irgendwie, gerade weil sie zweisprachig ist, englisch und französisch. Manchmal ist sie aber auch nur französisch.

Street Life

Mit der Taschenlampe leuchten wir uns den Weg über den Parkplatz zurück. Vom Bootsanleger zu LEMMY ist es schon ein gutes Stück zu laufen, aber wir kommen heile an. Die Space Troopers aus dem anderen Camper schlafen wohl schon, alles ist stockdunkel. So ein Mist, hatten wir doch gehofft dort noch ein Lebenszeichen zu erkennen heute Nacht.

Ich habe bereits darüber berichtet, inzwischen keine Angst mehr davor zu haben, etwas zu verpassen (FOMO – Fear Of Missing Out). Deshalb steht die heutige Nacht im Fokus des Schreibens. Ich fühle mich so voller Input, dass ich einfach nur weiße Seiten entjungfern und mit schwarzer Tinte besudeln will. In Montreal beende ich das 5. Chapter des 2. Aktes von unserem Dilemma in der Geisterstadt Desert City in der Mojave Wüste, Kalifornien.

Nachtschicht beendet

Ein paar Stunden Schlaf habe ich trotzdem bekommen und weil ich mich so auf heute Abend freue, mir der Kaffeeduft in die Nase strömt und Jutta nicht gerade leise ist, stehe ich auf. Es ist der Morgen des 20. Juni 2022, fast halb zehn. Heute Abend spielt D.O.A. in Quebec City. Das letzte nennenswerte Livekonzert für das ich im Voraus Karten erworben habe, ist ewig her. Die Bands in der Horseshoe Tavern in Toronto zählen da nicht mit. Ich rede von Bands wie MANTAR, Monster Magnet oder Solstafir, wo man sich lange vor dem Konzert auf den Abend der Show freut. Wenn mir die Erinnerung keinen Streich spielt, dann waren diese Drei, unter anderem, die letzten Bands, die ich vor dem Lockdown gesehen habe.

Dumb Station

Nach einem gemütlichen Frühstück machen wir uns auf den dreieinhalbstündigen Weg ins Zentrum von Quebec City. Vorher leere ich noch den Grauwassertank an der Dumpstation, fülle Frischwasser auf und unterhalte mich solange mit einem anderen Camper vor uns, der ein wenig Englisch spricht. Seine Muttersprache ist französisch. Er mag unseren Wagen, aber mehr noch schwärmt er von seiner Heimat, von dem Bundesstaat, den wir jetzt erkunden wollen. Wir plaudern, bis der 100 Liter Tank fast überläuft und ich den Schlauch schnell raus ziehe, damit kein schlimmerer Schaden entsteht und das Staufach voller Wasser läuft. Nun sind wir gerüstet für die nächsten Tage. Ausreichend Verpflegung ist an Bord, Getränke, Diesel und Frischwasser. Ich überlege gerade, wo ich den Biervorrat einordne, unter Getränke oder Verpflegung? Geht eigentlich Beides, im Grunde auch egal.

Bye bye Montreal

Auf der 40 fahren wir am westlichen Ufer des Sankt Lorenz Stroms, nordöstlich, Richtung Quebec City. Häufig sind wir nah, bisweilen sehr nah an diesem mächtigen und beeindruckenden Fluss. Wieder sehen wir fantastische Häuser, je dichter sie sich am Wasser befinden, desto luxuriöser und prächtiger sind sie. Die Fahrt ist kurzweilig und wie 298 absolvierte Kilometer kommt uns die Distanz nun echt nicht vor, als wir die Innenstadt erreichen. Jutta lotst mich zum Parkplatz, auf dem wir auch übernachten werden. Wir stehen auf dem Stationnement Dorchester, 600 Meter Fußweg von der L’Anti Bar & Spectacles entfernt, besser geht es nicht. Da wir bis zum Konzert noch ein paar Stunden Zeit haben, genehmigen wir uns einen Mittagsschlaf, schließlich hatte ich eine lange Nacht gestern.

Es gibt noch einen Kaffee, eine heiße Dusche und ein kleines Abendessen, dann machen wir uns auf den Weg zum D.O.A. Konzert in der L’Anti Bar. Ich will auf jeden Fall rechtzeitig da sein, falls es voll wird. Um sieben Uhr ist Einlass und um Acht soll die Show beginnen. Um viertel vor sieben laufen wir los, 600 Meter schaffen wir in wenigen Minuten. Es geht auf ein Punk Konzert, drum lasse ich mir ein „Weg – Bier“, ein „Fuß – Pils“ nicht nehmen. In einer Papiertüte unkenntlich gemacht, nehme ich alle paar Meter mal einen Schluck aus der Dose. Ich rechne damit, eine längere Schlange vor der Location anzutreffen in die wir uns dann einreihen dürfen, aber weit gefehlt. „Guck mal da vorne, das ist doch die L’Anti Bar.“, sage ich zu Jutta, als wir in Sichtweite auf der gegenüberliegenden Straßenseite angekommen sind. „Kein Mensch steht da vor der Tür.“

L’anti Bar & Spectacles

Ich ahne Böses und rechne mit dem Schlimmsten. Es wird ausfallen wegen „Fuck Corona“ oder es ist abgesagt, weil der Drummer Dünnschiss hat, der Sänger zu besoffen oder der Tourbus verreckt ist. „Lass uns mal rüber gehen und schauen, ob da was an der Tür steht!“, schlage ich vor. Jutta schaut skeptisch und ebenso verwundert wie ich aus der Wäsche. Es ist kurz vor 19 Uhr und an der Tür steht nichts von einer Absage oder dergleichen. „Hey!“, sagt Jutta und zerrt mich am Arm. „Da kommt noch einer.“ Ich ändere schlagartig die Blickrichtung von der Tür auf den Bürgersteig. Jutta hat recht, der Typ sieht aus wie ein Metalhead, der will auch auf das Konzert gehen, soviel ist sicher. Mal sehen, ob er weiß, was hier los ist.

Door closed – WHY???

Mittlerweile ist es kurz nach Sieben. Der Typ geht an die Tür, versucht sie zu öffnen, nichts tut sich. Verschlossen. Das ist der richtige Moment. Ich frage ihn, ob er eine Ahnung hat, warum die Tür immer noch zu ist. Er schaut mich freundlich und lächelnd, aber fragend an. Dann sagt er etwas, von dem ich kein Wort verstehe. Er spricht nur französisch und versteht kein Wort englisch. Ich spreche nur deutsch und englisch, verstehe aber kein Wort französisch. „Na toll“, denke ich, „we are in Quebec.“ Er schaut auf die Uhr, dann telefoniert er. Wir warten was passiert. Es ist fast viertel nach Sieben und drinnen tut sich etwas. Wir vernehmen Geräusche und Lichter gehen an hinter der Glastür. „Yes!“ jubiliere ich innerlich, das Konzert findet statt heute Nacht. Die Tür wird geöffnet und ein schlaksiger Kerl mit langen Haaren bereitet den Einlass vor. Jutta präsentiert unsere Tickets auf ihrem Handy, einen Augenblick später sind wir in der L’Anti Bar & Spectacles.

Stage for D.O.A. tonight

Der Bühnenraum ist relativ klein und dunkel. Wir sind die einzigen Gäste. Als erstes gibt es ein Bier für uns. Ohne anzustehen kann ich meine Bestellung loswerden. Die Barfrau ist sehr freundlich und versteht mich ohne Probleme, obwohl laute Musik vom Band läuft. Sie antwortet auf englisch. Der Metalhead von draußen kommt auf uns zu. Er hat ebenfalls ein Bier in der Hand und stößt mit uns an, das geht auch, wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Er ist deutlich jünger als wir, lächelt sympathisch und erzählt und erzählt…., bis wir irgendwann etwas heraus filtern können, von dem was er sagt (Jutta versteht auch noch einige Brocken französisch), .…. Scanner Bistro, gute Bar, Rock Musik. Er scheint sich in dieser Umgebung uns gegenüber wohler zu fühlen als draußen vor der Tür. Dort war er zurückhaltend und schüchtern, hier tritt er selbstbewusst auf und die Sprachbarriere scheint überwunden. Wir nicken und signalisieren ihm verstanden zu haben. Nach dem Konzert geht es in eine Rock Bar namens Scanner Bistro. „Why not!“, sage ich und meine es ernst.

Noch immer ist wenig los, vielleicht sind jetzt ein Dutzend Leute dazugekommen und unser neuer Freund hat mittlerweile seinen Kumpel am Tresen entdeckt und verabschiedet sich vorläufig von uns. Etwa 19:40 Uhr wird es dann doch noch deutlich voller, aber die Wartezeit an der Bar hält sich in Grenzen. Ich habe einen guten Draht zur Bedienung. Sobald ich mit ihr Blickkontakt habe, eilt sie herbei um meine Bestellung aufzunehmen. Möglicherweise liegt es aber auch daran, dass ich für jedes Bier einen Dollar Tip gebe, denn die Bierpreise sind absolut top in diesem Laden.

Und dann passiert es. Ich sehe etwas, was mich nicht nur über diesen Abend beschäftigen wird, nicht nur über die nächsten Wochen, sondern für lange Zeit, sehr lange Zeit, vielleicht für immer. Denn ich tauche ein in ein Thema, aus dem es keinen Ausweg gibt, noch bevor die Support Band zu spielen anfängt. Ich komme von der Bar mit zwei frisch gezapften Bieren zurück in unsere Ecke. Jutta hält uns dort den Platz frei. Wir stehen an der rechten Seite an der Wand vor der Bühne. Ich glaube fast meinen Augen nicht zu trauen. Ich sehe jemanden, der ein tiefschwarzes T-Shirt trägt. Darauf aufgedruckt in fetten weißen Buchstaben steht geschrieben: „OPEN YOUR MOUTH AND SAY…“, darunter abgebildet erscheint eine Monsterfratze und dann…. S N F U.

„Thanks my friend, for this intense moment together“

„Weißt du, was ich gerade gesehen habe?“, frage ich Jutta. „Nee!“, sagt sie verständlicherweise. Woher sollte sie auch. „Da hat jemand ein schwarzes S N F U T – Shirt an.“, sage ich. Jutta schaltet sofort, da sie mein T-Shirt kennt. Es ist dasselbe, nur durch die ganzen Wäschen über die vielen Jahre ist es hellgrau geworden. Sie hat mehrmals versucht es aus dem Kleiderschrank zu verbannen. „EIN SCHWARZES!“, sage ich zum zweiten Mal. Das muss brandneu sein oder aber, da ist ein Megafan, der sein T-Shirt nur zu ausgewählten Anlässen trägt. „Ich gehe da mal eben rüber, um mit ihm zu quatschen, OK?“ „Ja klar!“, sagt Jutta, „aber bleib nicht so lange, es geht bestimmt gleich los!“ „OK!“, antworte ich.

S N F U (Society’s No Fucking Use) ist eine kanadische Hardcore-Punk-Band und sie waren über viele Jahre die Helden meiner jungen und wilden Zeit. Ich fühle mich augenblicklich in die späten 80er und die frühen 90er Jahre zurückversetzt. Jutta, ein paar Kumpels und ich waren am 11.10.1992 in Hamburg, um uns ein Konzert in der Fabrik anzusehen. Leider habe ich vergessen, welche Bands an dem Abend gespielt haben, aber eins weiß ich noch, als wäre es gestern. An der Tür hing ein Plakat von den Bands die an diesem Abend auftreten werden und ein Name wurde durchgestrichen und durch vier Großbuchstaben ersetzt: „S N F U!“

Ich bin vor Freude ausgerastet, denn bis dato habe ich meine Lieblingsband noch nie live gesehen. Jutta und meinen Freunden war es etwas unangenehm, weil ich wohl durch meinen Freudentanz nicht mehr ganz ihrem Coolness Faktor entsprach. Mir war das scheißegal, denn: „S N F U spielt heute!“ An diesem Abend haben wir vier oder fünf Bands gesehen. S N F U war, glaube ich, als letzte Band auf der Bühne und der Sänger Kendall Steven Chinn sprang, hüpfte und rockte die Stage, als gäbe es kein Morgen mehr. Er war ein Sunnyboy, wie er im Buche steht, ein Surfer Typ, gut gebaut, attraktiv. Er hatte blonde Rastalocken und ganz bestimmt sind die Ladys voll auf ihn abgefahren. Ich finde mich in Gedanken wieder auf diesem Konzert 1992 in Hamburg.

L’anti Bar & Spectacles

Dann stehe ich vor dem Typen mit dem S N F U T-Shirt. Ich frage ihn, ob er bereit ist kurz mit mir zu sprechen. Er versteht mich und sagt: „Ja sicher, warum denn nicht!“ Ich komme sofort zum Thema und berichte von der S N F U Tour im Jahr 1992 und davon, dass ich mir damals eben dieses T-Shirt gekauft habe und wie es denn sein kann, dass sein Shirt immer noch schwarz ist? Er hat es am 09.09.2016 auf einem S N F U Konzert in Quebec gekauft, erzählt er mir und dann reden wir über die Verfassung von Mr. Chi Pig in den Jahren 1992, 2014 und 2016. Wir führen ein tolles Gespräch, es dauert nur ca. 10 Minuten, aber es ist intensiv. Ein Gespräch von Rock’n Roller zu Rock’n Roller.

Mr. Chi Pig lebt jetzt, zu diesem Zeitpunkt leider nicht mehr, die Drogen haben ihn umgebracht. Ich bedanke mich für das Gespräch und kehre nachdenklich zurück zu Jutta. Die Vorband spielt bereits.

„Ich hol mir noch ein Bier, willst du auch noch eins?“, frage ich Jutta. „Nee, bring mir bitte ein Wasser mit!“

Der Support von D.O.A. ist langweilig und gibt mir Zeit zum Nachdenken. Ich denke zurück an einen Abend in Hamburg im Hafenklang. Es war der 28. Juli 2014. Seit 1992 hatte ich S N F U nicht mehr gesehen und wusste auch nicht, wie es um Mr. Chi Pig bestellt ist. LEMMY gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, also bin ich mit meinem Jeep auf das Konzert gefahren. Meine Freundin Gudo, bei der ich normalerweise übernachte, wenn ich Konzerte in Hamburg besuche, hatte keine Zeit. Egal, dachte ich mir. S N F U ist in Town, da musst du hin. 22 Jahre später, nach dem legendären Auftritt in der Fabrik.

Schon die Fahrt nach Hamburg ist eigentlich immer ein Genuss, die ganzen Kräne im Hafen, die ich aus dem Auto sehe, der Elbtunnel und dann die Reeperbahn, all das treibt meine Laune normalerweise in die Höhe. Der gnadenlose Absturz lässt nicht lange auf sich warten. Ich parke beim Fischmarkt und laufe rüber zum Hafenklang, voller Vorfreude auf S N F U. Ich hatte keine Ahnung was mich erwartet, denn ich hatte mich die vergangenen Jahre nicht mehr mit dieser Band beschäftigt. Sie war aus meinem Bewusstsein verschwunden, ich wusste nicht mal, dass sie noch existiert. Umso schockierender war es dann, als ich in den Club eingetreten bin. Ich sah ein kleines Männlein, zahnlos, mit einer fast leeren Flasche Jägermeisterin der Hand. Diese Person war gezeichnet, von jahrelangem, harten Drogenkonsum. Diese Person war Mr. Chi Pig, mein Held aus den frühen 90er Jahren.

Ich hatte sechs Bier auf diesem Konzert, bin mit tränenden Augen in der Nacht nach Hause gefahren. Zum Abschied hatte ich Mr. Chi Pig noch die Hand gedrückt. Er stand nah am Ausgang, wo er schon zu Beginn des Abends mit der Jägermeisterbuddel auf seinen Auftritt wartete und habe ihm: „God bless you!“ gewünscht. Er hat sich bedankt, mir in die Augen geschaut, es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit und meine Hand gedrückt, als wollte er sich verabschieden, für immer.

Mr. Chi Pig wurde am 19.11.1962 in Edmonton, von deutsch-chinesischen Eltern geboren und starb mit 57 Jahren, an einem Donnerstag, den 16.07.2020. Schon Ende des Jahres 2019 gaben ihm die Ärzte nur noch etwa einen Monat zu leben. Er war das zweitjüngste von 12 Kindern. Schon in jungen Jahren hatte Kendall Stephen Chinn mit traumatischen Erlebnissen zu kämpfen und später wurde bei ihm eine Schizophrenie diagnostiziert. Was ihn allerdings fertig gemacht hat waren die Drogen. Eine Zeit seines Lebens war Mr. Chi Pig obdachlos, die er in Vancouver verbrachte, in der East Hastings Road, nahe China Town, dem Viertel der Untoten. Von diesem Viertel der Untoten habe ich ja schon ausführlich berichtet. Ich meine mich an ein Interview zu erinnern, da sagte er, dass er bei einem Restaurant immer mal ein Stück Pizza bekommen hat, wenn er hungrig war, aber kein Geld in der Tasche hatte. Am Tag nach seinem Tod veröffentlichte die Band den Song „Cement Mixer“ (For all my beautiful friends). Ich muss gestehen, ich höre ihn gerade, mit Tränen in den Augen. Das ist sein Abschiedslied für uns…

Dave Bacon, langjähriger S N F U Bassist, bestätigte auf Facebook den Tod des Freundes und Bandkollegen.

It breaks my heart to say this, but our beloved friend has left this mortal coil just a short while ago. He is now at peace. May he live on in our hearts and memories forever.“

Mr. Chi Pig hat kurz vor seinem Ableben noch eine Platte veröffentlicht, einen der erfolgreichsten Songs von S N F U (Painful Reminder) und ein Cover von Nine Inch Nails, welches auch schon Johnny Cash gecovert hat: „HURT“. Ich hatte meine letzte Begegnung mit Mr. Chi Pig am 29. Januar 2017, im Tower in Bremen.

Die Vorband ist komplett an mir vorbei gegangen. Sie haben mich allerdings auch gleich zu Beginn gelangweilt. Ich realisiere erst als Jutta mich anspricht, dass die Musik vom Band kommt und nicht mehr live von der Bühne. „Wie fandst du die denn?“, fragt Jutta. „Keine Ahnung, war nicht wirklich dabei!“ Es ist deutlich voller geworden, obwohl einige zum Rauchen nach draußen gegangen sind. D.O.A. bewegt wohl doch noch einige alte Fans vom Sofa. Ich nutze die Pause und gehe an die Bar um Nachschub zu holen, Jutta mag auch wieder ein Bier mit trinken. Der Metalhead, der nur französisch spricht, winkt zu mir rüber. Er steht ebenfalls am Tresen, vier Leute zwischen uns. Ich hebe die Hand und grüße zurück. Vielleicht sehen wir uns später noch im Scanner Bistro. In Gedanken bin ich immer noch bei Mr. Chi Pig und stelle ihn mir auf einer Wolke im Himmel vor. Ich glaube der Tod ist nicht das Ende und danach kommt noch was, etwas, was wir (noch) nicht begreifen. Ich sehe ihn dort oben am blauen Himmel, im Schneidersitz auf einer weißen Wolke sitzen, an einer fetten Opium-Pfeife saugend, er zwinkert mir grinsend zu und atmet aus. Jetzt begreife ich, die Wolke auf der er sitzt, entstammt seiner eigenen Pfeife…. und sie wächst mit jedem Atemzug.

Nun muss auch ich lächeln, die Bedienung kommt rüber und erwidert mein Lächeln, welches nicht mal ihr gegolten hat. Ich drücke ihr zwei Dollar mehr in die Hand als zwei Biere kosten und sie weiß genau was ich will. Ein Nicken meinerseits auf ihren fragenden Blick und zwei Finger reichen aus in dieser wortlosen Kommunikation.

Die trüben Gedanken abgeschüttelt, kehre ich zu Jutta zurück. In dem Augenblick wird das Licht gedimmt, die Musik aus der Konserve wird runter geregelt und die Lichter über der Bühne künden den nächsten Auftritt an. D.O.A. tritt ins Rampenlicht.

Sie liefern eine solide Show, an Spielfreude mangelt es nicht und die Leute vor der Bühne gehen gut ab. Ein wenig spiegelt der Sänger mich selber. Er ist alt geworden. Und diese Realität hasse ich, diese Erkenntnis, grausam und unausweichlich.

Nach der Zugabe stelle ich unsere Gläser auf dem Tresen ab und verabschiede mich von der netten Bedienung. Sie schenkt mir ein letztes Lächeln auf dem Weg nach draußen. Jutta und ich wollen noch auf ein Bier ins Scanner Bistro schauen, es ist direkt bei unserem Parkplatz. Wenn wir schon einen Insidertipp bekommen, dann müssen wir ihn auch nutzen. Der Parkplatz ist gut beleuchtet und LEMMY besonders, da ich ihn immer gerne in der Nähe einer Laterne abstelle, sofern wir in Städten übernachten.

Outside Scanner Bistro

Unser neuer Kumpel begrüßt uns schon, bevor wir am kleinen Tisch am Fenster Platz nehmen. Er scheint sich sehr zu freuen, weil wir seinen Rat befolgt haben. Er redet eine Weile, blickt zwischendurch zurück zu seinen Freunden, die weiter hinten im Lokal sitzen und dann wieder zu uns. Wir verstehen kein Wort, aber das ist egal. Er freut sich, weil wir hier sind, wir freuen uns ebenfalls hier zu sein. Um auch etwas zu sagen, zeige ich mit dem Finger durch die Scheibe raus zu LEMMY. Ich erkläre, wir seien Globetrotter und reisen ein Jahr um die Welt mit dem kleinen Expeditionsmobil. Er schaut mit großen Augen nach draußen, sieht LEMMY und ich glaube, er hat wenigstens ein bisschen von dem verstanden, was ich gesagt habe. Ich deute auf die Bar und signalisiere ihm etwas bestellen zu wollen. Er nickt lachend und zieht sich zu seinen Freunden zurück.

Inside Scanner Bistro

Beim süffigen Bier genießen wir die Aussicht durchs Fenster. Im Blick haben wir die Leute vorm Bistro und etwas weiter entfernt LEMMY auf dem Parkplatz. Wir schmieden Pläne für die nächsten Tage. Morgen wollen wir durch Quebec City spazieren, uns einen Eindruck verschaffen und mir kommt die Idee, „dem Blonden“ vielleicht eine Schallplatte mitzubringen. „Hier gibt es doch bestimmt einen Plattenladen!“, sage ich zu Jutta. „Würde mich wundern, wenn nicht.“, antwortet sie.

Torre, „Der Blonde“, hat im September Geburtstag und mit einer Schallplatte würde ich ihm vielleicht eine Freude machen. Er sammelt seit seiner Jugend Platten (die ist, wie bei mir, schon lange her) und hat vermutlich mehrere tausend LPs in seinem Zimmer. Jedenfalls ist eine ganze Wand von links nach rechts und vom Boden bis zur Decke voller Vinyl Scheiben, keine Ahnung wie viele Platten auf einen Meter nebeneinander passen. Und an den anderen Wänden befinden sich auch Regale mit LPs Ich schreibe unverzüglich Maddi an, ob sie einen Tipp für mich hat, was der Blonde auf seiner Wunschliste haben könnte.

Ich habe Torre mal von Sharky’s Machine erzählt, die ich live erleben durfte. Das war ein fantastisches Konzert, welches mich nachhaltig beeindruckt hat. Leider, warum auch immer, habe ich keine Platte auf dem Konzert gekauft. Nicht mal ein T-Shirt, weiß der Teufel, was mich damals geritten hat. Jedenfalls muss ich wohl häufiger äußerst begeistert von dem Konzert und der Band gesprochen haben, dass es dem Blonden im Gedächtnis haften blieb. Es sind Jahre vergangen, viele Jahre. Es waren, glaube ich, mehr als zehn, da kam der Blonde und Maddi von einem Städtetrip aus London zurück. Wir waren bei den Beiden in Wulfhoop zu Besuch, denn wir haben uns früher sehr regelmäßig getroffen. Mal bei uns, mal bei ihnen. Der Blonde verlässt den Raum und kommt mit zwei Flaschen Hemelinger zurück ins Wohnzimmer, und mit einer quadratischen Plastiktüte. „Hier für Dich!“, sagt er und drückt mir die Tüte und ein Hemelinger in die Hand. Mein Geburtstag lag noch in weiter Ferne. „Wofür is das?“, frage ich verwundert. „Einfach nur so…!“, sagt er. Ich hole etwas Flaches, Quadratisches, in Geschenkpapier Eingewickeltes aus der Tüte heraus. Wer vorher bereits einmal eine Schallplatte in der Hand hatte, ahnt jetzt was passiert. Ich reiße das Papier auf und bin sprachlos, was da zum Vorschein kommt. Es sind zwei Scheiben von Sharky’s Machine: „A Little Chin Music“ von 1986 und „Let’s Be Friends!“ von 1987. Ich kriege kaum einen Ton raus, drück den Blonden so fest ich kann und flüstere nur: „Du bist ja verrückt…!“

Jutta blickt von ihrem Handy auf und sagt: „Ich habe einen Plattenladen gefunden, ganz in der Nähe. Da gehen wir morgen als erstes vorbei!“

Mit dieser tollen Neuigkeit machen wir uns auf den Heimweg. Ich zahle an der Bar, klopfe meinem Kumpel im Vorbeigehen auf die Schulter und deute Richtung Parkplatz. Mit meinem Kopf zur Seite geneigt auf meine beiden zusammengepressten Hände signalisiere ich ihm, wir gehen schlafen. Er springt von seinem Stuhl hoch, drückt mich, als wären wir alte Freunde und verabschiedet mich auf französische Art. Sehr sympathisch, was für ein gelungener Abend.

Cheers

Jutta macht sich bettfein und da ich finde, für einen Schlummertrunk ist es nie zu spät, krame ich die Bluetooth Kopfhörer aus der Schublade und höre Sharky’s Machine – Let’s Be Friends! Cheers.

Ich schlafe relativ gut in dieser Nacht, habe irgendwie meinen Frieden gefunden mit Mr. Chi Pig auf seiner Opium-Wolke, aber eine Sache beschäftigt mich im Traum. Der Titel einer meiner Sharky’s Machine LPs: „A Little Chin Music“. Es war mir nie zuvor bewusst, aber hat das was mit Kendall (Ken) Stephen Chinn, alias Mr. Chi Pig zu tun? Gibt es eine Verbindung von S N F U zu Sharky’s Machine? Was geht da ab, auf der Rückseite des Mondes und wo ist der Space Trooper Camper, der aus dem Nichts in Montreal aufgetaucht ist ……… und dann genau so schnell verschwand?

Where are you now? Tatooine?

„Ach Scheiß drauf, ich setz mich jetzt zu Mr. Chi Pig auf seine Wolke, blicke ihm tief in die Augen und nicke in Richtung seiner Pfeife. Er versteht sofort, reicht sie rüber und zwinkert mir lächelnd zu. Ich ziehe kräftig aus voller Lunge an der verdammten Opium-Pfeife, dann gebe ich sie zurück…!“ Kommt da nicht gerade eine Wolke an uns vorbei? Sie ist etwas schneller unterwegs als wir, wahrscheinlich der Jetstream. Wer sitzt denn da auf dieser Wolke? Sind das nicht die Jungs von Sharky’s Machine? Aber ja doch, sie winken uns zu während sie überholen und weißen Dampf aus ihren Mündern pusten…

Beim Morgenkaffee erzähle ich Jutta, dass Maddi sich gemeldet hat und nicht weiß, was Torre sich für Platten wünscht, ich muss ihn schon selber fragen. „Na gut.“, denke ich. Dann frage ich ihn eben. Vielleicht finde ich in Amerika eine Scheibe, die ihn glücklich macht und die er in Europa nicht bekommt. Er meldet sich sogar kurze Zeit später. „Nee, alles gut, ich brauch aktuell nix!“ Eine halbe Stunde später ist ihm doch was eingefallen. Zwei Wünsche hat er tatsächlich und ich will alles daran setzten wenigstens eine dieser beiden Scheiben aufzutreiben. Es sind beides Platten von den Hellacopters. Ich hatte bereits 2017 das Vergnügen diese Band in Roskilde live zu sehen, auf der ehemaligen „Green Stage“, heute ist es die „Arena“. Ein großartiges Konzert. Die eine Vinylscheibe heißt: „By The Grace Of God“ von 2002 und die Andere: „Rock & Roll Is Dead“ von 2006. Ich bekomme sehr präzise Angaben und Links von diesen Sammlerstücken geschickt. Jetzt habe ich eine Hausaufgabe bekommen, der ich mich nach dem Frühstück mit Leidenschaft widmen werde.

Voller Tatendrang drängle ich bereits: „Wollen wir nicht endlich los, Quebec wartet auf uns!“ „Ja ja, bin gleich soweit!“, vernehme ich aus dem Bad. Ich schaue in der Zwischenzeit auf Google Maps, wie wir am besten laufen, erst in den Laden „Le Knock-Out“ und dann weiter ins Zentrum. „Es sind 15 Minuten Fußweg bis in den Plattenladen, 900 Meter nur. Beeil dich!“ Endlich ist Jutta soweit, ich warte bereits auf dem Parkplatz vor der Tür, habe Hummeln im Arsch. Will dem Blonden seine Platten kaufen. „Na, wollen wir los?“, fragt sie.

Auf in den Plattenladen…

Eine Viertelstunde später wühle ich mich durch Kisten von Schallplatten. Es gibt alles: Punk, Metal, Indie, Hardcore, Hardrock, Metalcore, Death & Black Metal, auch eine kleine Auswahl von Hellacopters finde ich, aber nicht das, was Torre sich wünscht. Ich frage den Verkäufer und er schaut im System. Nothing! Er hat keine dieser Platten, bekommt keine dieser Platten und weiß auch nicht, wo man eine dieser Platten bekommen kann. Er ist Profi Plattendealer und mir dämmert langsam, der Blonde hat mir eine Aufgabe gestellt, die nicht einfach zu bewältigen ist. Ich gebe noch nicht auf. In Halifax habe ich im Januar einen Plattenladen gesehen. Da schauen wir auf jeden Fall auch nach, wenn wir wieder dort sind. Allerdings will ich nicht mit leeren Händen nach Hause kommen, also stöbere ich weiter nach interessanten Stücken. Nach einer Stunde treffe ich eine Entscheidung. Ich weiß nicht, ob es eine gute oder schlechte Wahl ist, bin ratlos. Ich wähle eine Vinyl Picture Disc von Sepultura, „Revolusongs Record Store Day 2022 Picture Disc Vinyl, Edition 2022. Wir werden sehen, jeder Plattenladen zwischen Quebec City und Halifax wird ab jetzt unter die Lupe genommen.

Le Knock-Out Plattenladen

Ich lasse mir die Schallplatte einpacken und dann setzen wir unseren Spaziergang fort. Ich kann den Typen gut verstehen, der mir in Montreal an der Dumpstation von Quebec City vorgeschwärmt hat. Die Innenstadt wirkt europäisch auf mich, fast wie in Frankreich. Kinder kühlen sich ab unter einem städtischen Wasserspiel, ein Joker aus Bronze grinst mich an und alles, was eine internationale Weltstadt zu bieten haben sollte, ist vorhanden. Coole Restaurants, eine Kathedrale, der mächtige Sankt-Lorenz-Strom und ein intaktes Nachtleben ebenfalls.

That’s Life
Summertime
Maison Mère Mallet

Am 21.06.2022 starten wir nachmittags, nach einem wundervollen Stadtspaziergang, einem großen Einkauf und mit vollem Tank in Quebec City nach Nordwesten. Es geht immer entlang dieses beeindruckenden Flusses, der immer breiter wird, je weiter wir gen Norden fahren. Irgendwann mündet er dann im Nordatlantik und wird zum Ozean.

Quebec – Under The Bridge

Unsere heutige Etappe führt uns bis Les Bergeronnes zum Paradise Marine Campingplatz, direkt am Wasser. Zu fahren haben wir 244 Kilometer, das Navi zeigt uns eine Dauer von 3 Stunden und 20 Minuten an. Wir wollen mal hoffen, dass wir, wenn wir am frühen Abend ankommen, noch einen schönen Stellplatz finden. Sollte es uns dort gut gefallen, dann werden wir ein paar Tage bleiben. Sogar Wale kommen da vorbei, heißt es. Unterwegs machen wir noch kurz Rast an einem schönen Aussichtspunkt und bald darauf nehmen wir die Armand – Imbeau II Fähre über den Saguenay River nach Tadoussac. Diese Fähre kostet nichts, ist man schließlich gezwungen sie zu nehmen, mangels Alternativen. Ohne lange zu warten kann ich zusammen mit einigen Lkws, anderen Reisenden und täglichen Pendlern über die Rampe aufs Deck rollen und die kurze Überfahrt mit Sonne und Wind genießen. Jutta bleibt im Cockpit sitzen, während ich ein paar Fotos mache.

Kurze Pause
Tadoussac Fähre
Armand – Imbeau II

Kurz vor 18 Uhr kommen wir an und die Rezeption ist noch besetzt. Uns wird geheißen mit dem Wagen schon mal vor zu fahren und an einem Parkplatz, weiter unten bei den Waschhäusern, zu warten. Es kommt dann gleich jemand um uns abzuholen. Wir warten am verabredeten Ort und einige Minuten später kommt ein Quadfahrer vorbei, der sich als Inhaber des Campingplatzes vorstellt. Er will uns einige schöne Stellplätze zeigen, wir mögen ihm folgen. Als erstes zeigt er uns ein großes Plateau, wo schon einige andere Camper ihr Lager aufgeschlagen haben. Ganz in der Nähe befindet sich auch ein Café Restaurant, wo es kleine Speisen gibt und selbstverständlich Kaffee und Kuchen. Auch die sanitären Anlagen befinden sich hier und die Waschmaschinen. Wir nicken zustimmend: „Ja, das ist schon recht nett hier.“, sind aber noch nicht hundertprozentig überzeugt. Er scheint zu verstehen, was wir wollen.

This is the perfect spot, not over there!

Unser Gastgeber spricht einigermaßen gut Englisch, so dass es mit der Verständigung keine Probleme gibt. Er merkt sofort, wir möchten mehr von dem Platz sehen. „Darf es etwas mehr Privatsphäre sein?“, kommt er zur Sache. Wir bestätigen. Er wendet sein Quad, fährt ein Stück zurück und biegt in einen kleinen Weg rechts ab. Der Weg ist schmal, links und rechts davon Bäume. Am Ende stehen wir auf einer kleinen Anhöhe, umzingelt von Bäumen, die uns in alle Richtungen vor neugierigen Augen abschirmen, nur auf einen winzigen Strand und den mächtigen Sankt-Lorenz-Strom haben wir freie Sicht. Von der Klippe, an der sich unsere Feuerstelle befindet, erkenne ich das Plateau auf dem die anderen Camper stehen. „Dieser Platz ist perfekt!“ Jutta und ich sind uns sofort einig. Wir müssen uns nichts anderes mehr anschauen. Nur noch zwei Bündel Feuerholz wäre toll, teilen wir unserem Gastgeber mit. Er ist ebenso glücklich, wie wir es gerade sind. Mit so einem grandiosen Camp, mit dieser Lage am Fluss, wird er sicher häufig begeisterte Gäste haben und abends mit einem Lächeln einschlafen, könnte ich mir vorstellen. „Ich bringe euch gleich das Feuerholz vorbei, nur einen Augenblick.“

Ich parke LEMMY in der bestmöglichen Position, Tür und Fenster Richtung Wasser ausgerichtet, damit wir auch von innen keinen Wal verpassen, der hier vorbei schwimmen möchte. Das Tarp wird gespannt, Tisch und Stühle aufgebaut und ein kaltes Bier wird bereitgestellt. Dann höre ich bereits das Quad knattern, unser Feuerholz wird geliefert. Wir bestätigen mindestens drei Nächte hier verweilen zu wollen. Den Abend verbringen wir am Lagerfeuer, dankbar für diesen fantastischen Platz, für den tollen Tag und dass wir heile und gesund angekommen sind. Gesund?

Whalewatching

In der Nacht wache ich mit starken Halsschmerzen auf. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Wasserflasche und das Schlucken tut fürchterlich weh. Mein Bettzeug ist nassgeschwitzt und ich fühl mich echt mies. Kalt ist mir auch. Ich wende die Bettdecke, so dass die nasse Seite oben ist und die trockene Seite mich wärmen kann. Dann hole ich noch meine Hard Rock Café Wolldecke aus Bukarest aus dem Schrank, lege sie über die Bettdecke und versuche wieder einzuschlafen. Jutta ist nicht wach geworden bei dieser Aktion, ein Glück. Es reicht, wenn einer von uns eine schlaflose Nacht hat. Diese ist eine endlos lange Nacht und ich fürchte, mir was eingefangen zu haben.

Corona – Quarantänelager

„Ich bin krank!“, sage ich, als ich merke wie Jutta langsam wach wird. Meine Stimme ist leise, heißer und auch beim Sprechen schmerzt es im Hals. Bei mir läuft es immer nach dem gleichen Schema ab. Es beginnt mit Halsschmerzen und am nächsten Tag liege ich flach. Fieber habe ich dabei fast nie. Jutta fühlt meine Stirn. „Du glühst ja!“, sagt sie besorgt. „Wir messen mal deine Temperatur!“ 38,6° zeigt das Display des digitalen Fieberthermometers an. Sehr ungewöhnlich bei mir. „Ich hab die Seuche!“, sage ich, „vor dem Frühstück mache ich einen Test und essen will ich nichts, nur Kaffee bitte.“

Jutta macht sich frisch für den Tag und ich quäle mich aus dem Bett. „Mein Bettzeug müssen wir heute draußen trocknen, ist komplett nassgeschwitzt.“, teile ich ihr mit. „Ja, das mache ich gleich schon.“, vernehme ich aus dem Bad. Der Kaffee fängt an zu duften, das kann ich jedenfalls riechen. Während der Perkulator auf kleiner Flamme das Morgenelixier bereitet, beobachte ich vom Frühstückstisch aus abwechselnd den Teststreifen und den Sankt-Lorenz-Strom. Der erste Balken ist rot, wie üblich. Die Frage ist, ob sich auch der obere Balken rot verfärben wird. „Komm schnell!“, rufe ich, heiser aber bestimmt, Jutta im Bad zu. „Was ist denn, Test positiv?“ Ihr Kopf lugt fragend durch den Badvorhang. „Nee, Belugawale!“ Sie reißt den Vorhang auf und eilt zu mir ans Fenster. „Es sind mindestens drei.“, sage ich. Bin nicht ganz sicher, weil sie immer wieder abtauchen. „Oh ja, da ist einer…. und da noch einer. Wie geil!“ Jutta grinst über das ganze Gesicht und ich nehme den oberen roten Balken zur Kenntnis. Er ist knallrot, wie der untere Balken. „Und positiv bin ich nun auch!“, sage ich.

Jutta macht sich ein Müsli, ich begnüge mich mit Kaffee. Wir erörtern, was zu tun ist, das Fenster und den Sankt-Lorenz-Strom immer im Blick, um keinen Wal zu verpassen. Eigentlich müssten wir uns bei den Behörden melden und in ein Corona Hotel einweisen lassen. Wir entscheiden uns dagegen. Hier stehen wir abgelegen in einer traumhaften Kulisse, gefährden niemanden, sind ausreichend versorgt mit Getränken, Wasser, Lebensmitteln, Diesel und Feuerholz. Warum also sollten wir in ein Quarantäne Hotel gehen? Aus den geplanten drei Tagen machen wir mindestens eine Woche, bis wir uns auskuriert haben, denn vermutlich wird Jutta morgen oder spätestens übermorgen erkranken.

Notfalls bleiben wir auch noch länger, bis das Testergebnis negativ ausfällt. Wir sind hier isoliert, können den ganzen Tag lang Wale beobachten, schlafen, am Feuer sitzen und in den Tag leben. Einen geeigneteren Ort um Corona auszukurieren, kann ich mir nicht vorstellen. Somit ist es beschlossen. Wo wir uns angesteckt haben, ist vermutlich jedem klar. Beim D.O.A. – Konzert wird es passiert sein, da bin ich mir sicher. Obwohl die Inkubationszeit dann sehr kurz war, aber eigentlich spielt es auch keine Rolle. Vielleicht ist mir in Montreal oder sonst wo ein hochinfektiöser Mensch zu nah gekommen, was soll’s? That’s live!

Mir geht es drei Tage und drei Nächte echt beschissen, ich habe Schüttelfrost, friere und schwitze abwechselnd, schlafe nachts schlecht, der ganze Körper rebelliert. Aber nützt ja nix, ich kann mich jederzeit tagsüber ins Bett legen, kann Wale vom Lagerfeuer beobachten, lesen und faulenzen. Es könnte schlimmer sein. Bei Jutta gehen am zweiten Tag die Symptome los. Test positiv.

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Der Verlauf ist milder bei ihr, dafür geht es nicht so schnell aufwärts. Sie möchte am liebsten nach Hause. Mir geht es nach Tag 3 kontinuierlich immer besser. Unsere erste Corona-Infektion verläuft sehr milde. Ich bin überzeugt, sie läuft schonend für uns, wegen der drei Impfungen. Fließend ändert sich das Verhältnis von der Helfenden, zu dem Helfenden. Erst hat Jutta mich gepflegt und sich um alles gekümmert, jetzt bin ich gefordert und erledige die Dinge, die gemacht werden müssen. Wenn die Arbeit getan ist und Jutta schläft, dann liebe ich es, die vorbeifahrenden Schiffe zu verfolgen. Egal, ob Tanker, Frachter oder Containerschiff. Es entspannt mich, die Langsamkeit zu beobachten, die Behutsamkeit, mit der diese Riesen unterwegs sind. Sie scheinen nie in Eile zu sein, haben alle Zeit der Welt. Im Nebel wirken sie wie Geisterschiffe. Ich möchte auch einfach dem Flow folgen, fließen mit der Strömung. „Go With The Flow“, wie es die Queens Of The Stone Age in einem Song performen. Das scheint alles so schön einfach zu sein, mit dem Strom zu schwimmen. Aber ist es das wirklich? Ich muss gestehen, ich konnte das nie richtig gut. Im Gegenteil, ich hatte meistens das Bedürfnis dagegen an zu schwimmen. Warum das so war, kann ich nicht sagen, so wie der Lachs wahrscheinlich auch nicht weiß, warum er im Sommer flussaufwärts schwimmt, in das Maul des Grizzlys.

Nachdem es uns schon viel besser geht, machen wir auch mal einen kleinen Spaziergang zum Café, erstens um ein Stück Kuchen zu essen und den Kaffee zu probieren und zweitens, um etwas die Gelenke zu schmieren und mal aus unserem Camp zu kommen, so schön es auch sein mag. Wir sehen mehrmals täglich fast alle Walarten, die sich hier tummeln. Am häufigsten sicher die markanten, hellen Beluga Wale, die auch sehr nah vor unserem Strand auftauchen. Und jede weitere Walsichtung, egal ob Finn-, Blau-, Beluga oder Buckelwal ist so bedeutend, wie die erste Sichtung. Nur den Blauwal, der hier auch vorkommen kann, haben wir noch nicht eindeutig identifizieren können. Möglich wäre es seinen Rücken gesehen zu haben, aber es könnte auch eine Verwechslung sein, uns fehlt der geschulte Blick.

Wir feiern trotzdem jeden Wal, am siebten Tag genau so, wie am ersten Tag. Ebbe und Flut sind auch zu einem besonderem, wieder und wieder aufs neue faszinierendem, Schauspiel geworden. Mal ist unser Hausstrand vor unserer Klippe frei für Kajakfahrer zugänglich, mal steht er meterhoch komplett unter Wasser und die Belugas kommen näher als üblich. Ein täglich wiederkehrendes, liebgewonnenes Spektakel. Der Sankt-Lorenz-Strom übt eine wahnsinnige Faszination auf mich aus und das liegt nicht an den Walen, es liegt vielmehr an seiner Mächtigkeit.

Manchmal bei Nebel kann ich nicht bis auf die andere Seite sehen. Schiffe, riesige Öltanker, fahren bei Nebel vorbei und ihre Ausmaße sind nur zu erahnen oder wir hören nur das Horn ertönen und sehen rein gar nichts. Der Strom führt Salzwasser aus dem Atlantik bis zu den fünf großen Seen (Lake Ontario, Lake Erie, Lake Michigan, Lake Huron und Lake Superior). Bis auf den Lake Michigan hatte ich mit allen Seen bereits Kontakt. Die Georgian Bay am Lake Huron habe ich bereits umrundet. Zweimal war ich in Killarney, einmal auf Manitoulin Island am Lake Huron. An den anderen drei Seen bin ich vorbeigefahren oder habe an ihren Ufern mein Lager aufgeschlagen oder Beides. Den süßwasserführenden Sagueney Fjord, der in den Sankt-Lorenz-Strom fließt, haben wir vor einigen Tagen mit der Fähre überquert und der ist schon beeindruckend. Dennoch verblasst er gänzlich im Schatten des übermächtigen Stroms, der Seen füllt, groß wie Meere.

Sankt-Lorenz-Strom
The perfect place
Ghostship?

Wir bestellen uns zwei Becher Kaffee und jeder sein favorisiertes Stück hausgemachten Kuchen. Damit setzen wir uns auf die Terrasse, genießen die Sonne und quatschen über die anderen Camper auf dem Plateau vor uns. Manche sind neu dazu gekommen, andere stehen schon länger. Die neuen Camper nenne ich gerne zum Spaß „Greenhorns“, Jutta mag das nicht so sehr, obwohl ich nur unter uns so spreche. Mein Kuchen ist ganz ausgezeichnet und der Kaffee schmeckt ebenfalls hervorragend. „A damn fine cup of coffee!“, könnte man sagen. Diese Gegend um Tadoussac, wo wir gerade die Seuche auskurieren, gilt als einer der weltweit besten Orte um Wale zu sichten. Ich kann dazu sagen, es gibt nicht einen einzigen Tag, an dem wir nicht mehrmals am Tag Wale sehen. Das ist allerdings noch nicht alles. Bereits im Jahr 1535 gründeten französische Händler um Jacques Cartier hier einen Handelsposten für Felle. Damit ist Tadoussac der älteste Ort Kanadas und eine der ersten Siedlungen ganz Nordamerikas.

Nach dieser netten, kleinen Abwechslung machen wir uns auf den Heimweg. Die Tage vergehen zu schnell. Wir schlafen viel, trinken literweise Tee, beobachten Wale von unserer Klippe, aus dem Auto oder von unserer Dachterrasse und fühlen uns bald wieder richtig gut. Dann sind wir endlich clean.

Whale watching from above

Bei schönem Wetter schreibe ich draußen an meinem Blog, mit Blick auf den Sankt-Lorenz-Strom. Bei schlechtem Wetter arbeite ich in der Kabine. Hier stehen wir eine ganze Woche, sieben Tage. Länger als jemals zuvor an einem Ort. Und es ist wundervoll. Wir erleben hier viel Wetter, nebelig trüb, Wind und Ungemach, aber auch viel Sonne und Hitze. Es geht uns richtig schlecht, es geht uns gut und alles was dazwischen passt. Wir gewinnen auch neue Erkenntnisse. Es ist kein Problem eine Woche an einem Platz zu verweilen, solange er schön ist oder einer von uns krank wird. Auch längere Standzeiten von 10 Tagen bis zu zwei Wochen sind unproblematisch, wenn wir vorher die Vorräte aufgefüllt haben. Vermutlich ist sogar noch mehr rauszuholen, eventuell drei Wochen?

Aber wer will das schon?

…next Chapter coming soon…

Wir sind von Corona genesen, es geht uns körperlich gut und wir wollen unsere Reise fortsetzen, aber ich merke, dass bei Jutta etwas die Luft raus ist. Sie mag nicht mehr und will nach Hause. Das ist mein schlimmster Albtraum.

….und was als nächstes geschieht….

CHAPTER VI: THE FINAL CHAPTER….

. warum uns LEMMY verreckt, wie ich Jutta wieder aufgebaut bekomme und weshalb wir zweimal nach Hause kommen…, oder dreimal…?

3 Antworten auf „Chapter 29 – Montreal, Quebec und der unglaubliche Sankt-Lorenz-Strom….“

  1. Ooooohhh, wie schade, schon wieder vorbei 🥹
    Noch ein letztes Kapitel, Jürgen, gib alles ✊🏼 ich freue mich drauf und bin gespannt wie’n Flitzebogen 👏🏻🧡

  2. Hallo,toll freue mich über die anderen Reiseberichte…ganz toll geschrieben!!
    Horst
    Wir hatten uns vor hin hier in der Klinik kennen
    gelernt.,,It’s just the beasts under your bed“ um es mit Metallica zu sagen.

    1. Lieber Horst, ich freue mich, daß du schon das ganze Chapter gelesen hast, gleich nachdem wir uns getroffen haben. Vielen Dank für dein positives Feedback. Wir sehen uns bestimmt später zum Kaffee.

      Rock ’n Roll never die!
      Juergen

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