…und wie ich unbeabsichtigt eine ganze Kneipe zum Lachen bringe...
„Du hast noch 10 Minuten!“, sagt Jutta als ich mich im Bett auf die andere Seite drehen will. Ich nehme angenehmen Kaffeegeruch wahr und höre das Blubbern des Perkolators auf dem Herd. „Guten Morgen!“, wünsche ich und weiter: „Komme schon!“ Ich belasse es bei einer Viertelumdrehung, bleibe einen Augenblick auf dem Rücken liegen und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Dann klettere ich aus dem Bett und begebe mich ins Bad. Der Frühstückstisch ist bereits gedeckt, nur der Kaffee braucht noch seine Zeit.
Ein wundervoller Tag beginnt. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, nur wegen der verfluchten Mücken frühstücken wir im Auto.
Noch immer beschäftigt uns das Thema des Rückfluges. Frau Docke aus Bremen hat sich mittlerweile per Mail gemeldet. Ohne eine Verlängerung des Visums sieht es schlecht aus, teilt sie mit. Das Problem bei einer Verlängerung ist die Bearbeitungszeit und der Aufwand, den wir betreiben müssen. Es könnte sein, dass die Bearbeitung zum Termin des Abfluges noch nicht abgeschlossen ist, was alles zunichte machen würde. Wenn wir das Visum überziehen, sei es auch nur um zwei Tage, dann riskieren wir möglicherweise einen Eintrag im System der Einwanderungsbehörde, was wir um jeden Preis vermeiden wollen. Dies soll schließlich nicht unser letzter Besuch in Canada sein. Ich schicke meinem Freund Erdal eine Nachricht. „Ich ruf dich heute Abend an!“
Ehrlich gesagt, habe ich kaum noch Hoffnung den späteren Flug zu nehmen. Ich habe nicht mal mehr Lust in Sault Ste. Marie an der Grenze zu fragen, ob sie dort etwas für uns tun können. Immer mehr finde ich mich damit ab, zwei Tage vor dem eigentlichen Termin zurückzufliegen. Ich frage Frau Docke wann die Deadline ist, um uns festzulegen. Wir sollen uns schnellstmöglich entscheiden, rät sie. Ich verspreche: „Bis morgen haben wir eine Entscheidung getroffen, obwohl sie in meinem Kopf bereits gefallen ist. Aber erst mal sehen was Erdal heute Abend zu berichten hat.
Wir sehen uns noch die Karte der heutigen Route an. 414 Kilometer sind es bis Sault Ste. Marie, eine Fahrtzeit von ungefähr viereinhalb Stunden ohne Stopps. „Holst du uns den zweiten Kaffee?“, fragt Jutta. „Selbstverständlich!“
Wir wollen auf der „17“ des Trans Canada Hwy fahren und nicht auf der „11“, wie es uns der deutsche Trucker aus Alberta geraten hat, den wir beim Horse Thief Canyon getroffen haben. Auf der Map sieht es aus, als sei es genau die richtige Entscheidung. Ein gutes Stück fahren wir dann später dicht am Lake Superior entlang, bevor wir das Ziel erreichen.
Ich räume den Frühstückstisch ab und bereite LEMMY für die Weiterfahrt vor. Dann verlassen wir den Pukaskwa National Park in Richtung TC Hwy 17. Die „11“ ist „boring“ hat der Trucker gesagt.

Das erste Highlight an diesem sonnigen Tag, es ist bereits am Vormittag 23°C warm, lässt nicht lange auf sich warten. Bereits nach kurzer Fahrt sehen wir einen Lost Place am Straßenrand. Ich ziehe sofort links rüber und parke vor einem verlassenen Motel. Jetzt erst frage ich Jutta, ob wir uns das mal anschauen wollen? „Na klar!“, sagt sie. „Du stehst ja schon hier.“ Wir steigen aus und stöbern durch die verwaisten Zimmer. Fast alle Fensterscheiben sind zertrümmert, überall liegen Scherben, zerbrochene Waschbecken und sonstiger Unrat herum.

Alles Brauchbare ist längst geplündert. Die Rezeption war wohl das kleine Gebäude an der Straße, direkt gegenüber vom Lake. Beste Lage. Es gibt einige kleinere Nebengebäude, doch das dominanteste Building ist das Motel mit 20 Zimmern. Es ist doppelstöckig, zehn Zimmer unten und zehn darüber. Alles ist besprüht und verwüstet. Dem Anschein nach ist es noch nicht sehr lange verlassen. Wohlmöglich hat sich der Standort als nicht besonders lukrativ erwiesen und Gloria sind die finanziellen Mittel ausgegangen. Ich weiß es natürlich nicht und kann nur spekulieren. Die meisten Zimmer habe ich durch, Spuren von einem verrückten Killer oder Hitchhiker habe ich in keinem Raum vorgefunden. Oder etwa doch? Ist das da eine vertrocknete Blutlache an dem alten Bettgestell? War ein schreckliches Kapitalverbrechen für den Untergang von Glorias Motel verantwortlich?

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, denn eine kleine Kolonne anderer Fahrzeuge rollt auf den Hof. Der Erste ist ein Camper mit einem Trailer hinten dran, dann folgen ein Van und zuletzt ein roter Pickup. Sie scheinen alle zusammen zu gehören. „CANADA MARCHES“ steht an den Seiten der Fahrzeuge und ein Name: James Topp. Hat das etwas mit der kleinen Truppe Wanderer zu tun, die wir vor kurzem an der Straße haben laufen sehen?

Jutta schaut im Wörld Wide Web nach und findet sofort die Antwort. Ein Unteroffizier der Canadian Armed Forces marschiert durch Canada, um gegen die Impfvorschriften der Regierung zu protestieren. Er ist am 20.02.2022 in Vancouver aufgebrochen und wird voraussichtlich bis Ende Juni in Ottawa friedlich einmarschieren. Heute schreiben wir den 31.05.2022. Das bedeutet, er läuft bereits seit über drei Monaten und wird noch ca. 4 weitere Wochen laufen müssen, um Canadas Hauptstadt zu erreichen. Wir waren, als James Topp zu seiner friedlichen Protestaktion aufgebrochen ist, gerade in Tallahassee, Florida, auf dem Weg nach New Orleans, Louisiana. „NOLA“, denke ich mit Begeisterung, ein Lächeln entfaltet sich in meinem Gesicht. Die drei Fahrzeuge werden James Topp sicher begleiten und ihm ein Nachtlager bieten, Verpflegung und Ersatzschuhe ebenfalls, nehme ich an. Was auch immer seine Beweggründe sein mögen gegen die Impfvorschriften zu demonstrieren, ich respektiere seine Haltung und bewundere die Leistung, Konsequenz und das eiserne Durchhaltevermögen. Ich glaube an ihn. Wenn er es bis hierher geschafft hat, dann wird er auch Ottawa erreichen.

„Wollen wir weiter fahren?“, frage ich Jutta. „Ich habe genug Bilder im Kasten! By the way, ein Verbrechen konnte ich hier nicht eindeutig feststellen!“
„Was?“, entgegnet sie. Sie rollt mit den Augen und denkt sich ihren Teil. „Ach nix, ich hab nur laut gedacht.“
Wir steigen ein und grüßen im Vorbeifahren das Team von CANADA MARCHES, ein Mädchen im Van winkt zurück.

Bald beginnt der Magen zu knurren und zum Kochen haben wir keine Lust. Beim erstbesten Diner wollen wir halten, um einen kleinen Lunchbreak einzulegen. „Tanken müsste ich auch mal wieder.“, erwähne ich beiläufig. „Dann solltest du das auch bald machen!“, sagt Jutta.
An einer Gabelung leitet Jutta mich nach links, ein kurzes Stück auf der 101 nach Wawa Goose. „Da können wir bei „Youngs General Store“ ein Pause machen.“ Der Store ähnelt einem Saloon aus dem wilden Westen, hat allerdings bereits Zapfsäulen vor der bröckelnden Holzfassade. Alte Autowracks stehen rum und eine große Wildgans überragt alles. An einem Food Truck neben dem General Store bestellen wir eine Kleinigkeit zu Essen und weiter geht`s. „Wie weit kannst du noch fahren mit der Tankfüllung?“, will Jutta es nun genau wissen. „Bis Sault Ste. Marie sind es noch über 200 Kilometer und der Bordcomputer zeigt mir eine Restreichweite von 188 Kilometer an.“, antworte ich. „Ich halte an der nächsten Tankstelle, die wird es hier ja wohl überall geben.“ Ich sollte mich mal wieder täuschen….


Müde vom Lunch, aber gesättigt geht es zurück auf die „17“ des TC Hwy. Nach 20 absolvierten Kilometern wird eine Tankstelle angekündigt, sogar mit Diesel. „Siehst du, da kommt gleich was. Da fülle ich auf.“, sage ich triumphierend. Eine Minute später totale Ernüchterung. „Na das wird wohl nichts!“, stellt Jutta fest. Die Tankstelle ist eine Ruine. Der zweite Lost Place an diesem Tag. Das „WELCOME“ Schild ist blitzsauber, als wäre es erst gestern angebracht worden. Auch das Schild an der anderen überwucherten Zapfsäule mit der Aufschrift „Thank You, Come Again“, sieht aus wie neu und scheint mich zu verhöhnen. FUCK! Le CLAIRE Fuels sucks und kann mich mal am Arsch lecken! Zu allem Überfluss steht da noch ein Schild. Sinngemäß wird da eine lange Distanz OHNE Tankstellen an der Straße angekündigt. Diese Örtlichkeit war also die letzte Möglichkeit vorher noch mal aufzutanken. Ich sage: „Wir fahren zurück nach Wawa Goose!“ Jutta erspart mir ihren Kommentar und sagt nichts. Sie schaut bloß vielsagend.


Eine halbe Stunde später ist der Tank voll und unsere Reichweite beträgt wieder beruhigende 1000 Kilometer. „Wer hätte denn damit in Ontario rechnen können!“, denke ich mir. In Manitoba meinetwegen und in Saskatchewan auch, aber in Ontario? Scheiß drauf, weiter geht es. Ein kleines Highlight stimmt mich dann wieder etwas versöhnlicher. Ich sehe es zuerst, rechts am Straßenrand. Die Natur zeigt sich von ihrer besten Seite. „Guck mal da vorne, ist das ein Elch?“ Es ist ein riesiges Exemplar, welches dort am Straßenrand grast. Unsere erste Elchsichtung überhaupt. Er hat ein beeindruckendes Geweih und schaut kurz rüber zu uns, dann widmet der Koloss sich wieder der Nahrungsaufnahme.
An den Chippewa Falls halten wir kurz an, um uns die Beine zu vertreten und erfahren, noch bevor wir den Wasserfall zu Gesicht bekommen etwas interessantes. Wir befinden uns auf halber Strecke des Trans Canada Highways.

Auf Vancouver Island fuhren wir los, an einem Schild, welches den Kilometer Null markiert. Den Endpunkt auf Neufundland werden wir nicht ganz erreichen, aber den größten Teil dieser endlosen Road durch die gesamte Breite Canadas befahren wir seit Tagen. Im Jahr 1949 wurde der Bau dieser Trasse vom Parlament autorisiert und am 3. September 1962 für den Durchgangsverkehr geöffnet.
Der spirituelle Vater des Highways quer durch das zweitgrößte Land der Erde ist Dr. Perry Doolittle. Er war der erste Kanadier der bereits 1925 die gesamte Breite des Landes mit dem Auto befahren hat. Mit einer Ausnahme von 800 Kilometern, wo er auf die Schiene und den Zug umsatteln musste, weil es einfach keine Straße gab. Den wenig spektakulären Wasserfall bekommen wir aber auch noch zu sehen und freuen uns über den kleinen Fußmarsch und diese neu gewonnenen Erkenntnisse.

Wir sind auf dem Weg nach Killarney, aber eine Zwischenübernachtung müssen wir noch einlegen. In Sault Ste. Marie wird das sein, bei Flying J. Dort haben wir Internet und ich kann ein weiteres Chapter fertig schreiben und online stellen. Auf dem Weg bis in diese Grenzstadt, die Canada und die USA nur durch den Saint Marys River trennt, genießen wir weitere traumhafte Ausblicke auf den Lake Superior.
Am 31.05.2022 kommen wir an und parken bei Flying J. Es sind 28°C und ich mache mich an die Arbeit. Da fällt mir ein, ich muss Erdal noch anrufen. Der Laptop fährt hoch, während ich meinen Kumpel in Deutschland anwähle. „Hey, wie schön, dass du dich mal wieder meldest!“, vernehme ich an meinem rechten Ohr. Ich sehe Erdal im Geiste vor mir, wie er auf seiner riesigen weißen Sofalandschaft vor dem Fernseher hockt, mit dem Mobilphone in der einen und der Fernbedienung in der anderen Hand. „Hey Erdal, wie geht’s dir und Immi?“ „Alles gut bei uns, und wie läuft’s bei euch?“ Ich tippe nebenbei das Passwort in meinen Laptop, drücke die Return-Taste, damit das Teil hoch fährt und sage: „Danke mein Lieber, uns geht es super, jeder Tag beschert uns neue Eindrücke, sogar in der Prärie Albertas und in Saskatchewan.“
„Das sehen wir!“, sagt Erdal. Ich höre im Hintergrund, als Immi etwas zu ihm sagt. „Ganz liebe Grüße von Immi!“ „Danke!“, sage ich. „Drück sie von uns.“ Jutta mischt sich nonverbal ein und signalisiert mir, was ich sagen soll. „Sag mal, hast du was rausfinden können bei den Konsulaten in Deutschland?“, komme ich zur Sache. „Leider kann ich euch nichts Positives berichten. Ich habe in Frankfurt angerufen, in Dortmund und München. Sie sagen alles das Gleiche, ihr müsst den offiziellen Weg gehen und euer Visum verlängern lassen und das kann dauern…!“ Eine kleine Pause. „Und einen kurzen, unbürokratischen Weg gibt es nicht?“ „Davon haben sie mir nichts gesagt.“ Ok Erdal, hast Einen gut bei mir. Vielen Dank für deine Mühe und die ganzen Telefonate.“ Ich versuche meine Enttäuschung zu verbergen und ich glaube es gelingt mir ganz gut, weil ich mit genau diesem Ergebnis gerechnet habe. „Erzähl kein Scheiß, habe ich gerne gemacht!“ Wir plaudern kurz über unsere weiteren Pläne und dann ruft Immi noch was aus dem Hintergrund rein….“Wir vermissen euch sooo!“…., und Jutta erwidert: „Wir freuen uns auf euch!“, dann lege ich auf.
Der Laptop ist startklar und ich sage zu Jutta: „Ich schreibe Frau Docke, sie soll den zwei Tage früheren Flug für uns buchen! Ich habe keinen Bock mehr morgen an der Grenze zu fragen, ob sie da was machen können.“ „Ok.“, sagt Jutta. Sie wusste die ganze Zeit, dass es genau darauf hinaus laufen würde.
Ich fange an zu arbeiten und noch in dieser Nacht wird ein neues Chapter geboren.
Das „Rückflugproblem“ ist gelöst.
Bis Killarney sind es über 400 Kilometer zu fahren und wir werden voraussichtlich viereinhalb Stunden brauchen für diese Strecke. Noch bevor wir Sudbury erreichen kommen wir an Espanola vorbei. „Guck mal!“, sage ich, während ich mich auf den Verkehr konzentriere, „Da geht es gleich rechts ab nach Manitoulin Island. Weißt du noch, damals?“ „Na klar weiß ich das noch!“, sagt Jutta.

Damals kamen wir aus der entgegengesetzten Richtung, aus Sudbury und verbrachten einige fantastische Tage auf der Insel im Huron Lake. Wir standen mit unserem Leihcamper bei den First Nations auf einer Wiese und waren fast die einzigen Gäste. Außer uns beiden wohnte nur eine amerikanischen Opernsängerin dort, die in Frankfurt gastierte und ihren Urlaub hier verbrachte. Das Größte an der ganzen Geschichte war allerdings, dass es zu der Zeit ein Pow Wow auf der Insel gab und wir daran teilnehmen durften. Es war August. Ich erinnere mich noch, dass wir extra ein paar Tage länger geblieben sind, um an diesem Fest teilzunehmen. Danach sind wir dann mit der Fähre von South Baymouth nach Tobermory gefahren und haben damit quasi die Georgian Bay umrundet. Aber das nur am Rande. In Espanola fahre ich gerade aus und biege nicht ab nach Manitoulin Island.
Abbiegen muss ich erst in Sudbury und danach noch einmal in Paget, dann geht es die letzten knapp 70 Kilometer eine ziemlich vernachlässigte Straße straight nach Killarney. Unterwegs entdecken wir einen kleinen Bären am Straßenrand, der sich schnell ins Unterholz zurückzieht. Auf halber Strecke des letzten Abschnitts will ich noch mal eine kleine Pinkelpause einlegen und fahre kurz runter von der Straße. Es ist etwas abschüssig und geht terrassenförmig auf Grasboden noch etwas weiter runter in den Wald hinein und ich erahne einen tollen Stellplatz für eine mögliche, wenn auch nicht gewollte, Zwischenübernachtung.
„Kann ich da auch noch kurz runter fahren?“, frage ich, als ich die erste Terrasse bereits hinter mir habe. „Nein, das machst du nicht!“ Ich erkenne sofort den Unmut in Juttas Augen und erspare mir jede weitere Diskussion. Eigentlich wollte ich nur diesen möglichen Stellplatz für iOverlander checken und die Lage mit LEMMY auskundschaften, aber Jutta hat ihre komplette Offroaderfahrung anscheinend vergessen, verdrängt, abgehakt oder was weiß ich. Die einfachsten und wenig anspruchsvollen Pisten werden kategorisch abgelehnt. Ich lasse LEMMY stehen wo er ist und gehe zu Fuß runter zum Pinkeln. Den Rest der Strecke fahre ich schweigend weiter.
Unser Ziel ist der Roucher Rouge Campingplatz. Im Ort angekommen, erkennen wir noch nicht viel wieder von der damaligen Reise. Es ist auch schon eine Weile her. Wir folgen der Beschilderung und stehen schließlich vor einem etwas heruntergekommenen Haus. Ein alter Mann tritt vor die Tür und kommt auf uns zu, als er bemerkt, dass Kundschaft in der Einfahrt steht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir hier richtig sind, glaube aber schon. Jutta checkt uns ein und ich frage nach Feuerholz. Zwei Bündel sollten fürs Erste reichen. Wir sollen uns einen Platz aussuchen, der noch nicht belegt ist, sagt der alte Mann und weist uns mit der Hand den Weg über die Wiese zu den Bäumen hin.
Das abgewohnte Haus verschwindet langsam im Rückspiegel und Wald und Wiese liegt vor uns. Und dann erkenne ich die Felsen wieder, auf denen ich damals eine Menge Sudokus gelöst und einen Großteil von Frank Schätzings „Der Schwarm“ verschlungen habe. Hier sind wir richtig, jetzt weiß ich es sicher. Wir finden den perfekten Platz, mit einer grandiosen Aussicht auf Manitoulin Island, mit einem Blick über die Georgian Bay, mit einer Feuerstelle, die zum Kochen einlädt und mit den Felsen, die mir den besten Schreibtisch der Welt bescheren.

Jetzt bin ich wieder im Einklang mit der ganzen Welt und irgendwie auch mit Juttas Offroad-Phobie bzw. ihrer konsequenten Verweigerungshaltung. „Soll ich grünen Spargel und Nudeln am Lagerfeuer zubereiten?“, frage ich. „Das wäre schön.“, sagt Jutta. Ich richte unser Camp her und baue mir meinen Schreibtisch auf. Dann genehmigen wir uns ein Bier und genießen den Ausblick. Und der ist unbezahlbar.

Vier Tage verbringen wir hier. Wir faulenzen und ich schreibe viel. Jutta liest. Manchmal gehen wir in den Ort um einzukaufen und um etwas Abwechslung zu haben. Es gibt nur einen General Store, den erkennen wir auch sofort wieder und erinnern uns an die teuren Preise und das dürftige Sortiment. Wir befinden uns am Arsch der Welt. Aber dieser Arsch ist wohl einer der schönsten Ärsche, die man sich vorstellen kann.
Auf der Exkursion in den Ort erkenne wir auch die Wiese wieder, auf der damals das „Fish Fry Festival“, der örtlichen Feuerwehr stattgefunden hat. Sofort fällt uns die Betrunkene ein, die mit mir tanzen wollte und ständig murmelte: „I’m so off!“ Ja, das war sie auch, aber sympathisch dabei. Nüchtern waren wir natürlich auch nicht mehr, eigentlich fast niemand auf diesem kleinen Fest. Unsere Einkäufe im General Store beschränken sich auf das Nötigste. Dann gibt es noch einen neuen Zahnputzbecher von den First Nation People aus einem anderen Shop, ein Eis auf die Hand und wir spazieren zurück ins Camp.

Was uns auffällt, es ist alles viel mehr runter gerockt als damals. Wenn ich in solchen kleinen Ferienorten am Wasser bin, dann denke ich zwangsläufig sofort an Amity Island und den weißen Hai. Killarney ist kein Ort wie aus einem Ferienprospekt. Kein Ort wie Amity Island. Dies ist ein viel verschlafenerer Ort, ein Platz, wo man sein kann wie man will. Hier braucht man sich nicht verstellen. Oder trügt der Schein? Killarney ist weit abgelegen, 70 Kilometer von der Hauptstraße entfernt, 109 Kilometer von der nächsten größeren Stadt. Es ist wenig los auf den Straßen, nur ein paar Teenies versorgen sich mit einer Flasche Wodka im Liquor Store, als wir unseren eigenen Vorrat auffüllen. Was spielt sich ab hinter den zugezogenen Fenstern in den alten, dem Verfall preisgegebenen Häusern? Lugt gerade jemand durch einen Spalt auf die Straße und beobachtet uns? Die Fremden, die hier nicht her gehören?

Schade, es ist kein Fish Fry Festival terminiert auf dem Kalender in diesem Monat. Wir verbringen die meiste Zeit auf dem Roucher Rouge CP. Ich schreibe, koche draußen am Feuer und die Zeit vergeht viel zu schnell. An einem Abend, Jutta ist schon in der Kabine wegen der Mücken, da bekomme ich Besuch. Ein Niederländer begrüßt mich in meiner Sprache. Vermutlich hat er uns schon zugehört oder das Kennzeichen von LEMMY gesehen.
„Hallo!“, sagt er, als ich noch am Schreiben bin und gerade eine kreative Pause mache. Ich drehe mich um, es ist schon relativ dunkel. Ich kann kaum sehen, wer es wagt mich bei der Arbeit zu stören. „Hallo!“, erwidere ich seinen Gruß, mit einem skeptischen Unterton. „Ich wollte nur mal Hallo sagen, bin der Nachbar von da drüben!“, sagt er und deutet einen Platz weiter. Ich fühle mich etwas überrumpelt und sage: „Ah ok, hallo!“ Dann fängt er an zu erzählen. Er war schon mal hier, kennt Leute, die hier leben und ihn, so wie ich es interpretiere, eingeladen haben.
Er spricht nicht perfekt Deutsch, es ist ein Mix aus Niederländisch, Deutsch und Englisch. Ob wir schon auf dem Campingplatz weiter in den Wäldern waren, bei den Flüssen, will er wissen. „Nein, noch nicht!“, sage ich. Das müssen wir unbedingt machen, will er mich überzeugen und ich teile ihm mit, es sei durchaus möglich, dass wir das noch machen werden. Ich biete ihm ein Bier an, aber er will wieder zurück zu seinen Gastgebern. Kopfschüttelnd wundere ich mich über diese seltsame Begegnung, hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank, so leise wie möglich und schreibe weiter. In dieser Nacht werde ich kein weiteres Mal unterbrochen.

Mit Wehmut verlasse ich den schönsten Arsch der Welt. Killarney hat etwas, was andere Orte nicht haben. Ich kann es nicht genau definieren, kann es nicht benennen. Vielleicht ist es die Abgeschiedenheit, was den Reiz ausmacht, vielleicht ist es auch etwas ganz anderes. Nostalgie? Wäre möglich. Vielleicht sehe ich Parallelen zu Twin Peaks! Habe ich Bob in den Wäldern gesehen, seine Anwesenheit gespürt? Mag sein. Letztendlich kann ich es nicht sagen, nur so viel: „Killarney ist ein magischer Ort!“

Unsere nächste Station soll der Killbear Provincial Park sein, um genau zu sein, der Granite Saddle Campground. Den hat Jutta bereits recherchiert und wenn sie was recherchiert, dann macht sie es gründlich. Obwohl es eigentlich zu nah ist, nur etwas über 200 Kilometer und damit nur zwei Stunden zu fahren, wollen wir dort übernachten.
Hier mache ich es kurz, obwohl es wirklich strange ist, was ich erleben werde. Aber dazu komme ich etwas später. Beim Check In sitzen mal mehr, mal weniger qualifizierte Leute. Dieses Mal erwartet uns eine junge Frau hinter dem Schalter, die offensichtlich den Platz nicht kennt oder die Maße unseres Fahrzeugs nicht einschätzen kann. Wir bekommen eine Nummer zugewiesen, suchen den Platz, finden ihn und stellen fest, LEMMY ist viel zu groß. Da passt allenfalls ein Kleinwagen mit Iglu-Zelt hin. Ich könnte dort parken, aber dann wäre die Fläche komplett ausgefüllt. Kein Platz für Tisch und Stühle oder sonst was. Wir fahren zurück zum Check In und bekommen einen anderen, einen besseren Stellplatz.
Glücklich über diesen erfreulichen Ausgang gehen wir an den Strand und genießen die Sonne. Die Kids sind im Wasser und schwimmen, den Erwachsenen ist es wohl zu kalt. Wir sitzen mit unseren Campingstühlen im weichen Sand und sehen zu, wie die Sonne langsam untergeht.

Ich will noch schreiben, weil ich in Killarney voll in den Flow gekommen bin und diesen Ort inspirierend fand. Durch die Bäume sehen wir das Wasser und den Strand hinter unserem Lagerfeuer. Ein Waschbär huscht über unseren Platz und verschwindet so schnell wie er gekommen ist im Unterholz. Mein Schreibtisch steht, ich arbeite und irgendwann blinkt etwas auf dem Boden rechts von meinem Schreibtisch. Es ist mittlerweile stockdunkel, das Feuer ist fast erloschen und mein Laptop spendet nur wenig Licht.
Ist es ein Glühwürmchen? Die schweben doch in der Luft und liegen nicht auf dem Boden. Ist es ein abgestürztes Würmchen, welches ein Hilfesignal sendet? Ich schreibe einfach weiter, aber in sehr regelmäßigen Abständen blinkt es wieder, was meine Aufmerksamkeit erregt und mich aus der Konzentration reißt.

Ich zähle die Sekunden, bis es wieder zu blinken anfängt und meine genau zu wissen, wann es wieder soweit ist, aber der Rhythmus ist nicht immer exakt derselbe. Ich versuche das rätselhafte Etwas auszutricksen und tue so, als ob ich schreibe, doch eigentlich liege ich auf der Lauer. Es dauert nicht lange, dann habe ich das Gefühl selber ausgetrickst zu werden. Das Licht blinkt immer genau dann, wenn ich es nicht erwarte. Das Ding da ist doch nicht von dieser Welt, oder doch? Irgendwann, nach etlichen Fehlversuchen das „DING“ zu fotografieren bzw. zu filmen, gebe ich genervt auf. Es scheint so, als warte das seltsame Wesen genau den Zeitpunkt ab, wo ich das Handy beiseite lege. Ich finde nicht heraus, wer da die ganze Zeit versucht meine Aufmerksamkeit zu erregen, beende meine Schreibarbeit und gehe frustriert schlafen.

Beim Frühstück erzähle ich Jutta von meinem nächtlichen Erlebnis, möglicherweise etwas Sensationelles entdecke zu haben, vielleicht sogar eine neue Gattung, ähnlich den Lampyris Noctiluca, aber sie scheint nicht wirklich daran interessiert zu sein. Wenn ich Gedanken lesen könnte, dann würde ich sagen, sie denkt: „Der schon wieder…, wie viel hat er wohl getrunken gestern Nacht?“ Sie nickt interessiert und sagt: „Ja wirklich, einen Leuchtkäfer hast du gesehen, das ist ja toll?!“ Sie trinkt einen Schluck Kaffee, schaut wieder auf ihr Handy und ich lasse es damit auf sich beruhen.
Eigentlich wollen wir heute nach Toronto fahren, aber es ist starker Regen angesagt und echt mieses Wetter in der City. Wir sitzen schon im Auto, rollen über den Trans Canada Hwy und überlegen, einen Abstecher nach Parry Sound zu machen. Das ist nur eine halbe Stunde von hier entfernt und dort werden tolle Bootstouren angeboten. „Alles klar, klingt doch gut!“, sage ich und biege bald darauf rechts ab. Ich fahre unter einer alten, wahnsinnig hohen und malerischen Eisenbahnbrücke durch und parke direkt bei „Island Queen Cruise. Der Ort hat Flair, gefällt uns auf Anhieb und schnell keimt ein Gedanke in uns auf. „Wollen wir nicht mal fragen, ob wir hier auf dem Parkplatz über Nacht stehen bleiben können und nach der Bootstour abends schön Essen gehen?“, spricht Jutta das aus, was ich gerade denke. „Das wollte ich auch gerade vorschlagen!“, antworte ich.
Im Office von Islands Queen Cruise (das Schiff liegt schon am Pier) fragen wir, ob es Ok ist mit unserem Camper auf dem Parkplatz über Nacht zu stehen und wann heute die nächste Tour stattfindet. Die junge Dame am Schalter schüttelt den Kopf, es sei noch keine Saison und die 30 000 Island Cruises finden erst in einigen Tagen statt. Aber über Nacht dürfen wir gerne stehen bleiben, es ist ja reichlich Platz vorhanden. Ratlos schauen wir uns an. „Oh, shit!“, rutscht es mir heraus. Wir bedanken uns vorerst und überlegen draußen vor der Tür, was zu tun ist. „Ohne diese 30 000 Islands Tour brauchen wir hier wegen mir nicht bleiben. Den Ort haben wir in einer Stunde erkundet, danach langweilen wir uns bloß. Abends essen gehen ist ja schön und gut, aber das war`s dann!“, sage ich. Jutta ist meiner Meinung: „Dann lass uns fahren!“
Auf dem Highway schlage ich vor, noch nicht nach Toronto, sondern erst zu den Niagarafällen zu fahren. „Vielleicht haben wir Glück und dort ist besseres Wetter. Das ist zwar etwas weiter, aber dann machen wir Toronto eben danach, bei schönerem Wetter.“ Wieder werden wir uns schnell einig, fahren durch dunkle Wolken und Regen an Toronto vorbei. In der Ferne sehen wir verschwommen die Skyline und sogar den CN Tower. In Hamilton fahre ich ein Stück auf dem Queen Elizabeth WY über den Lake Ontario und der Himmel vor uns klart auf, je näher wir den Fällen kommen. Für die erste Nacht wählen wir einen teuren KOA Campingplatz mit WLAN, Dumpstation und Waschmaschine. Nach dem Einchecken stehen wir auf einer grünen Wiese mit nur wenigen Nachbarn. Der Abend klingt gemütlich aus bei einem leckeren Essen und einem Film. Es nieselt leicht bei angenehmen 21°.

Am 08.06.2022 ist Entertainment angesagt. Die nächsten beiden Nächte wollen wir direkt bei den Fällen stehen, mitten im Epizentrum des Amüsements, auf kanadischem Boden, nahe bei den Horseshoe Falls, in Hörweite. Die amerikanischen Fälle sind etwas weniger beeindruckend als die Horseshoe Falls, aber trotzdem noch sehr beachtlich, besonders mit der Rainbow Bridge im Hintergrund, die Kanada und die USA verbindet. Allerdings will ich noch meinen Grauwassertank an der Dumpstation des teuren KOA Campingplatzes entleeren. Dabei werde ich leider von einem aufmerksamen, für meinen Geschmack etwas übereifrigen Camp-Angestellten aufgehalten. LEMMY steht perfekt über dem Ablauf, als ich gerade den Hebel des Abwassertanks öffnen möchte werde ich jäh unterbrochen.
„Hey, where is your hose?“, ruft jemand zu mir rüber. „Pardon?“, stelle ich eine Gegenfrage, weil ich nicht genau weiß, was der Typ von mir will. Er kommt etwas näher und erklärt mir, dass das, was ich da gerade mache, illegal ist. Ich schaue verwirrt und erwidere, ich möchte nur 40 Liter Grauwasser ablassen. Das sei ja alles schön und gut, aber doch wohl nicht OHNE Schlauch. Ich zeige auf mein Ablassrohr und auf das Loch direkt einige Zentimeter darunter. Ich versichere ihm, es wird nichts daneben gehen, ich kann den Strahl mit dem Hebel regulieren. Jetzt feuert er mit seinem härtesten Argument. „Sie“ (damit meint er sich und die KOA Campingplatzbetreiber) können die Konzession verlieren, wenn jemand vom Amt mein Treiben beobachten sollte. Ich schaue mich demonstrativ um, sehe weit und breit keinen Menschen, außer diesen eifrigen Mitarbeiter. Ich brenne mit meinen Augen ein Loch in seinen Schädel, torpediere ihn mit einem giftigen Blick, der da sagt: „Ernsthaft? Ist das ihr verdammter Ernst?“ und steige ins Auto, um diesen gastlichen Ort zu verlassen.
Wenig später stehen wir unter dem Skylon Tower auf einem riesigen Parkplatz. Auch andere Camper sind bereits hier, was uns immer ein gutes Gefühl gibt, ein vermeintlich Sicheres.


Ab jetzt steigt der „gute Laune“ Pegel rasant. Es ist leicht bewölkt, aber immer wieder blickt die Sonne durch. Regen ist nicht in Sicht und das Thermometer steigt über 20°. Nass werden wir trotzdem. Die Gischt von den mächtigen Horseshoe Falls weht zu uns herüber und das Dröhnen der Wassermassen wird lauter je näher wir kommen. In diesem Augenblick stehen wir zwischen den Fällen an der Promenade. Links von uns die amerikanischen, rechts, die wie ein Hufeisen geformten kanadischen Fälle. Einen Plan, was wir heute machen wollen haben wir im Augenblick noch nicht. Auf dem Skylon Tower war ich bereits einmal. Die Aussicht ist zwar schon spektakulär, aber zweimal muss nicht sein.
Auf den CN Tower in Toronto werde ich allerdings noch ein zweites Mal fahren, das lasse ich mir nicht nehmen, schließlich ist es ein modernes Weltwunder. Auf dem Weg näher an die kanadischen Fälle sehen wir von oben die „Maid of the Mist“, eines dieser großen Boote, die sehr dicht an die Fälle heran fahren, damit die solventen Passagiere in ihren blauen Ganzkörperkondomen eine ordentliche Dusche verabreicht bekommen. Auf der anderen Straßenseite blickt Nikola Tesla von seinem Sockel zu uns herüber. Dieses Multitalent war Erfinder, Physiker und Elektroingenieur. Von seinen fast 300 Patenten erhielt er 112 in den USA und es sollte mich nicht wundern, hätte er nicht auch seine Finger bei der Energiegewinnung mit Wasserkraft im Spiel.
Ein Plakat fällt uns auf, eine Attraktion, die wir noch nicht erlebt haben. „Behind The Falls“. Das wäre doch mal was Neues. Schließlich haben wir den ganzen Tag Zeit und wir sind schon nah dran.
Das Einzige, was für heute Abend gesetzt ist: eine coole Rock Bar mit guter Musik, im Idealfall Live und mit einem Pooltisch. Das „Maple Leaf Tavern“ bietet Beides, einen Billardtisch und Livemusik. Das hat aber noch ein paar Stunden Zeit.
Jetzt reihen wir uns ein in eine lange Schlange wartender Touristen. Wie schon vermutet, wollen auch eine Menge anderer Besucher die Wasserfälle von hinten sehen. Wir sind bereits mit einer langen Rolltreppe unter die Erde befördert worden, aber es wird noch weiter hinab gehen. Davor genehmigen wir uns eine Kleinigkeit zu Essen auf die Hand. Jutta wartet in Line, ich hole etwas von den in den Auslagen angepriesenen Leckereien.

Die Schlange wird immer kürzer und bald sind wir dran. Eine Gruppe nach der anderen verschwindet in einem Aufzug. Ein Instruktor holt ein knappes Dutzend Leute von vorne aus der Reihe und fährt mit ihnen in den Untergrund. Beim nächsten Mal werden wir mit zu den Auserwählten gehören. Es scheint eine endlose Zeit zu vergehen, bis der Aufzug aus der Versenkung auftaucht. Dann ist er da und die Türe öffnet sich. Er ist leer. Es wird abgezählt….3, 4, 5…, 7, 8…, jetzt Jutta und ich, dann noch jemand. Fertig! Wir bekommen gelbe Regencapes, Ganzkörperkondome. Dann geht es abwärts.

Wir befinden uns in einem Tunnelsystem hinter den Horseshoe Falls und durch den limitierten Zugang sind nicht viele Leute mit uns unterwegs. Wir spüren die Macht und die unbeschreibliche Kraft des Wassers, welches direkt vor uns in Millionen von Litern pro Sekunde in die Tiefe stürzt. Unablässig, unaufhörlich. Es ist höllisch laut und die Gischt spritzt uns ins Gesicht. Von einem langen Tunnel aus gibt es vier Abzweigungen, drei davon in jeweils einen kleinen anderen Gang hinter den Wasserfall, der Vierte führt auf eine Art Terrasse an die Seite der mächtigen Fälle, ganz nah dran. Ich komme mir vor wie in einem Bunker. Es ist schon ein Spektakel so dicht dabei zu sein und wenn man an die Prominenz denkt, die ebenfalls hier stand, dann ist es irgendwie auch ein geschichtsträchtiger Ort. Unter anderem war Marilyn Monroe hier, Princess Diana, John F. Kennedy und Harry S. Truman.

Ein paar Verrückte gab es tatsächlich auch, die sich in einem Fass die Fälle haben runterstürzen lassen. Die erste Person war Witwe, eine Lehrerin aus Bay City, Michigan. Mrs. Annie Edson Taylor wagte 1901 den Versuch und überlebte. Warum sie diesen Ritt über die Fälle ihrer Katze antat (sie befand sich mit im Fass) ist nicht überliefert. Der zweite wagemutige Stunter war Bobby Leach, im Jahre 1911. Auch er überlebte mit vielen Verletzungen, 23 Wochen Krankenhausaufenthalt und langer Rekonvaleszenzzeit. Andere hatten weniger Glück und starben bei den waghalsigen Versuchen.
Als Schulkind wollte ich selber Stuntman werden und hege insgeheim Bewunderung für diese tollkühnen Leute. Ob ich so ein Draufgänger wäre? Ich glaube nicht, nicht mehr. Bis zu meinem 31. Lebensjahr hielt ich mich für unverwundbar. Dann hatte ich einen schlimmen Motorradunfall. Mir wurde die Vorfahrt genommen und jegliche Kontrolle war nicht mehr in meinen Händen, sondern in den des Autofahrers, der mich übersah.
Ich spürte auf die harte Tour, dass ich doch verwundbar bin. Als Kind habe ich viele verrückte Sachen gemacht, viel mehr als alle meine Freunde und immer ist es gut gegangen. 1999 zum ersten Mal nicht. Da hat sich etwas verändert in mir. Aber auch erst später, noch nicht unmittelbar am Unfallort. Ich hatte eine Karte für ein Kiss Konzert in Bremen an diesem Tag und dachte noch so bei mir, als ich da auf der Straße lag: „Fuck, heute Abend tut dir bestimmt alles weh, wenn du vor der Bühne stehst. Ob sie wohl geschminkt sein werden?“ Den Abend verbrachte ich dann allerdings auf der Intensivstation im Krankenhaus in Bassum.

Nach so vielen Fassreitergeschichten bekommt man Hunger. Wir geben unsere Ganzkörperkondome in einer Recyclingbox ab und begeben uns zum Aufzug. „Behind The Falls“ hat sich total gelohnt, schwer begeistert fahren wir der Sonne entgegen.
Lunchtime ist angesagt. Wir lassen uns weiter treiben, jetzt mehr in der zweiten Reihe. Ein Lokal sieht sehr einladend aus. Die Terrasse ist umgeben von unzähligen Blumen, große Sonnenschirme spenden Schatten. „My Cousin Vinny`s, an Italian-American Eatery“ lädt zum Verweilen ein. Wir gehen rein und warten bis wir in Empfang genommen werden und einen Sitzplatz auf der geräumigen Terrasse auswählen dürfen. Ich mache es kurz, das Essen ist teuer und vorzüglich.

Nach dem Lunch wird noch gebummelt, hier und dort reingeschaut und geshoppt. Dann gönnen wir uns einen ausgiebigen Mittagsschlaf, bevor wir in das Nachtprogramm starten. „Die drei Fragezeichen?“, frage ich Jutta. „Nee, Sherlock Holmes!“

Der Abend bricht an, wir machen uns frisch und stellen beim Blick aus dem Fenster fest, alle anderen Camper sind verschwunden. Es stehen nur noch sehr wenige PKW auf dem Parkplatz. Das gefällt Jutta überhaupt nicht. Las Vegas rückt sofort in unser Bewusstsein. Ist dieser Platz auch sicher? Jutta recherchiert bereits und hat einige Augenblicke später einen anderen Platz auserkoren, nur zwei Minuten von diesem entfernt.
Ich parke um, fahre eine Rampe runter auf einen Bezahlparkplatz mit Nachtwächter. Wir stehen immer noch unter dem Skylon Tower, mit einer etwas anderen Perspektive. Und wir hören immer noch die Fälle, spüren die Gischt im Wind und fühlen uns sicher. Bezahlen müssen wir weniger als 10 Dollar. Der Nachtwächter macht einen sympathischen Eindruck und erzählt uns vom allnächtlichen Spektakel, dem Feuerwerk um 22:00 Uhr über den Fällen. Ich mache mir ein Bier auf während Jutta im Bad beschäftigt ist. Cheers. Twenty minutes later, ready to go!

Bis zur Maple Leaf Tavern sind es weniger als 2 Kilometer und etwa 20 Minuten zu laufen. Aufgrund der rechtwinklig angelegten Straßen ist die Orientierung kein Problem. Jetzt bekommen wir noch andere Eindrücke von Niagara. Dreckige. Abseits der Fälle, abseits des Strips, ähnlich wie in Vegas, wirkt es schnell heruntergekommen, abgefuckt. Besonders auf den Nebenstraßen. Wir fühlen uns trotzdem nicht unwohl. Vorbei geht`s an pleite gegangenen Motels, an verfallenen und verlassenen Häusern, aber auch an schicken Restaurants und schäbigen Kneipen. Dann erscheint ein Schild an einer Häuserzeile im Blickfeld. „Da ist das Maple Leaf Tavern, wenn wir Glück haben spielt heute eine Band!“, sage ich hoffnungsvoll zu Jutta.

Auf dem Weg zur Eingangstür unter dem Schild erhasche ich einen Blick durchs Fenster. Im Bruchteil einer Sekunde nehme ich Einiges wahr. Es gibt einen Billardtisch. Der Laden ist ziemlich abgefuckt. Die Stammtrinker sitzen an der Bar, so ca. 7-9 Leute, überwiegend Typen. Hinter dem Tresen ist eine Barfrau, die ihren Job augenscheinlich nicht erst seit gestern macht. Der Bar Alltag hat seine Spuren hinterlassen. Bespannt ist der Billardtisch mit einem versifften grauen Tuch, sehr ungewöhnliche Farbe.

„Wollen wir da echt rein?“, fragt Jutta. Ich wundere mich kurz, dann denke ich: „Vielleicht hat sie auch einen Blick durchs Fenster erhascht.“ „Ja klar!“, sage ich. „Auf jeden Fall!“
Wir betreten den Laden und steuern auf die Bar zu. Die Barfrau schaut uns an. Leise Rockmusik läuft im Hintergrund. Die anderen Typen sind verstummt und schauen ebenfalls, wer da gerade den Laden betritt. „Two beer please, local!“, sage ich. Sie macht sich am Zapfhahn zu schaffen und fixiert mich mit ihrem Blick. „Can we play pool?“, will ich wissen. „Sure!“, sagt sie und zapft das zweite Bier. Randvoll. Wir nehmen unsere Drinks, gehen an den Billardtisch und fangen an zu spielen. Die Jungs an der Bar setzen ihre Unterhaltung fort, sie sprechen offensichtlich auch über uns.
Ich inspiziere den Innenraum etwas genauer und erkenne die Bühne. Das Drumset wurde seit langem nicht von Spinnweben befreit und viel Staub bedeckt die PA Boxen und anderes Equipment, wie zwei alte Mikrophon Ständer und einige gestapelte Hocker. Es scheint seit geraumer Zeit keine Band mehr aufgetreten zu sein. Offensichtlich wird die Homepage der Bar nicht wirklich instand gehalten. Vermutlich ist der Administrator erkrankt, auf der Flucht oder hat sich die Fälle runtergestürzt.

„Hey Träumer!“, ruft Jutta. „Du bist dran!“ Die Bälle rollen relativ gefällig für mich, aber auch Jutta spielt sehr gut. Nach meiner zweiten Bierbestellung sind wir bereits beim dritten Spiel und jemand von der Bar ruft zu uns rüber: „Where do you come from?“
„We are from Germany!“, sage ich. Dann mache ich meinen Stoß und loche die Elf unten rechts ein. Ich habe die Halben. Die Neun verschieße ich aufs Mittelloch, obwohl es kein schwerer Ball ist. Lasse ich mich etwa ablenken? Jutta ist dran und locht ihren Ball. Die Jungs an der Bar setzen ihre Unterhaltung fort und schauen gelegentlich zu uns am Pooltisch rüber. Eine Barbesucherin hat sich mittlerweile zu ihnen gesellt, man kennt sich untereinander.
Drei Bälle hat Jutta versenkt, den Vierten verschießt sie auf eine Ecktasche. Ich analysiere kurz die Lage der Bälle auf dem Tisch und brauche nur wenige Sekunden um zu wissen, welche drei Bälle ich als nächstes Lochen will. Der Erste fällt. Der Zweite folgt und auch der Dritte bereitet keine Probleme. Ich bekomme die weiße Kugel genau dort abgelegt, wo ich sie für den nächsten Stoß brauche. Das schäbige Tischtuch hindert mich nicht am Lochen, aber jetzt muss ich mir die nächsten Schritte überlegen. Dabei kommt mir Kimble in den Sinn und für Bruchteile einer Sekunde bin ich wieder in Twin Peaks, in North Bend/Washington. Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Was war das für eine fantastische Woche dort in Twin Peaks und was für eine großartige Begegnung im Pour House Bar & Grill mit Kimble am Billardtisch. Ich wünschte, wir würden uns eines Tages wiedersehen. „Nun mach schon.“, drängelt Jutta. „Ja gut, alles klar.“, sage ich gedankenverloren. Den nächsten Ball loche ich sicher, aber die Weiße versteckt sich dicht hinter einem der feindlichen Bälle. Ich versuche einen waghalsigen Stoß über Bande, treffe meine Kugel, verfehle jedoch das Loch. Jutta ist dran.
Unsere Gläser leeren sich und das nächste Spiel geht zu Ende. Ich gehe an die Bar, um neue Drinks zu bestellen. Die Barfrau zapft local beer bis oben zum Rand und ich werde von den Stammtrinkern angesprochen. Woher aus Deutschland kommt ihr denn? Weil ich diese Frage schon sehr häufig gestellt bekommen habe, antworte ich nicht mehr mit: „We are from Bremen.“ Da ernte ich nur fragende Blicke, sondern sage: „We live close to Hamburg!“
Das kennen sie alle und sind begeistert. „Reeperbahn“ ist ein Begriff, so wie St. Pauli. Ich versuche ins Detail zu gehen und rede von Werder Bremen und dass wir ca. 30 Kilometer südlich von Bremen leben. Mittlerweile sind wir das einzige Gesprächsthema der Bar. Die beiden Deutschen abseits der Touristenpfade. Was hat die Beiden in diese Bar geführt, mögen sie sich fragen?

Dann interessiert jemanden, was wir beruflich machen. Wir fühlen uns etwas unwohl, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Egal, ganz nüchtern sind wir nun auch nicht mehr, reden also ungehemmt drauf los. Jutta hat sich vom Pooltisch zu mir gesellt und sagt, dass sie Lehrerin ist und ich versuche zu erklären, was ein Requisiteur macht. Ich erkläre, dass ich Backstage arbeite mit actors, dancers, mit Solisten in der Oper und einem großen Chor und einem Orchester. Sie hören interessiert zu, sogar die Barfrau hat sich auf einem Hocker hinter den Tresen gepflanzt. Einer der Stammgästen schaut auf seine Uhr und sagt, es sei bald Zehn und um diese Uhrzeit ist jeden Abend ein fantastisches Feuerwerk über den Wasserfällen! Ob wir uns das nicht anschauen wollen?“
Ich haue raus, was mir in den Sinn kommt und sage: „Fireworks sucks!“, weil ich tatsächlich eigentlich kein Freund von Feuerwerken bin und von Wasserfällen auch nicht. Nur sehr selten habe ich beeindruckende Feuerwerke gesehen. Beim Reload Festival, nachdem der Headliner Five Finger Death Punch gespielt hat, das Jahr weiß ich nicht mehr genau, da wurde ein so grandioses Feuerwerk abgefeuert, dass ich Tränen in den Augen hatte. Isa und Chris, Freunde von mir, standen damals an meiner Seite. Einige Male musste ich als Pyrotechniker an Silvester auf dem Dach des Bremer Theaters ein Feuerwerk zünden. Aber das Budget war jedes Mal so dermaßen gering, dass damit kein Preis zu gewinnen war. Es war mir sehr peinlich, so ein lächerliches Feuerwerk zu zünden, in der Gewissheit, alle Gäste unten vor dem Haus schauen gerade erwartungsvoll hoch in den Himmel, hoch zu mir aufs Dach und zählen die Sekunden bis Mitternacht. Matthias vom Ton spielte den Walzer und das Publikum aus der Operngala tanzte im Schnee…..7,6,5,4,3,2,1….Feuer!
Ich war nur froh, dass mich niemand sehen konnte. Mit 800 Euro Budget braucht man nicht erst anzufangen. Nach wenigen Minuten war das dürftige, armselige Spektakel vorbei und ein gnädiges Publikum applaudierte. Wofür bloß?
Manche von den Stammtrinkern nicken zustimmend, andere gucken etwas verdutzt aus der Wäsche. Dann füge ich noch unbedacht hinzu: „And I`m a pyrotechnican too!“
Plötzlich grölen alle und lachen sich kaputt. Die Barfrau klatscht ihre beiden Hände auf die Oberschenkel und verschluckt sich fast vor Lachen. Ich weiß im ersten Moment gar nicht was los ist. „He`s a pyrotechnican, all right!“, ruft einer der Stammgäste lachend, klopft mir dabei auf die Schulter und mir wird klar, ich habe völlig unbeabsichtigt einen coolen Witz gemacht. Das ist mir zuvor noch nie passiert, aber es fühlt sich sehr gut an. Nun gehören wir irgendwie dazu und heben noch ein paar Bier gemeinsam. Diese Nacht in der Maple Leaf Tavern bleibt unvergesslich.
Nach einer Weile reißen wir uns los, von unseren neuen Saufkumpanen. Ich will noch über die Ausgehmeile bummeln und was trinken.

Über regennasse Straßen bummeln wir immer weiter hinein ins kunterbunte Zentrum des Amüsements. Das Empire State Building liegt auf dem Boden vor uns und King Kong wütet auf der Spitze des umgestürzten Wolkenkratzers. Alles spiegelt sich auf dem nassen Asphalt.

Der Joker sitzt verloren im Knast, während ich mich frage, wo ist das verdammte Popcorn? Vorbei geht es am Riesenrad, einer Achterbahn, Draculas Castle, vorbei an Frankenstein, Ripleys believe it or not!, am Haunted House und tausend anderen Attraktionen. Ich mache ein paar nette Schnappschüsse auf der verspiegelten Straße.

In einer Bar bestellen wir einen halben Meter Bier mit verschiedenen Sorten. So kommen wir noch in den Genuss von fünf unbekannten Bieren einer lokalen Brauerei. Dann bin ich endlich auch soweit, b(e)reit für den Heimweg.

Wir finden LEMMY unversehrt vor. Der Heimweg war relativ einsam und wunderschön unter dem klaren Sternenhimmel. Der Nachtwächter erkundigt sich noch, ob wir das Feuerwerk gesehen haben. „Not tonight!“, sage ich: „Maybe tomorrow….!“
„Die drei Fragezeichen?“, versuche ich mein Glück. „Nee, Sherlock Holmes!“, antwortet Jutta. Zum Einschlafen habe ich „Den Flottenvertrag“ gewählt, aus der Sherlock Holmes Reihe: „Die neuen Fälle“.

Bis Toronto Downtown sind es noch knapp 90 Minuten zu fahren.
Wir umrunden den südwestlichen Zipfel des Ontario Lakes und befinden uns auf der Zielgeraden nach Toronto. In Höhe des CN Towers verlassen wir den Gardiner Expy auf die Harbour Street. Jutta navigiert mich zu einem ausgewählten Parkplatz, ein Tipp von iOverlander. Der Verkehr in der Stadt ist zäh und die letzten Kilometer ziehen sich länger als erwartet. Das ist mir alles scheißegal, ich bin überglücklich wieder hier zu sein. Diese Stadt zählt seit fast zwei Dekaden zu meinen absoluten Favoriten der Metropolen der Welt. Warum das so ist, versuche ich mit diesem Chapter auszudrücken.
„Gleich musst du rechts abbiegen, da kommt der Parkplatz!“, fordert Jutta mich auf. Ich nicke. Langsam rolle ich auf die Einfahrt zu, werde aber von einer Schranke und einem Parkwächter ausgebremst. Der Platz ist gerammelt voll von Trailern und großen LKWs mit langen weißen Anhängern. Ich lasse meine Fensterscheibe runter und höre was der Parkwärter zu sagen hat. „No more space available Sir, this site is reserved for a movie production!“ „Ah, ok. Thank you. Have you any idea, where we can go now?“
Er empfiehlt uns einen Parkplatz etwas weiter, derselben Straße folgend. Ich fahre, wie uns geheißen und wir haben Glück. Ich biege bei 300 Remembrance Dr Parking rechts ab und erreiche einen löcherigen Schotterplatz. Ein gigantischer Bunker steht hinter mir, vielleicht ist es auch ein riesiges Wasserreservoir. Ich weiß es nicht, aber das Gebäude ist atemberaubend. Auch hier stehen viele Trailern, wie auf dem Platz zuvor. Sobald ich stehe kommt auch schon jemand vom Filmteam, der sich als Parkwächter vorstellt und uns willkommen heißt. Er weist uns darauf hin, dass wir ein Ticket am Automaten lösen müssen, es ist aber sehr günstig. Wir unterhalten uns etwas mit ihm, denn er scheint viel Zeit zu haben. Seine einzige Aufgabe sei es, erzählt er uns, Sorge zu tragen, dass das Filmteam im abgetrennten Bereich nicht gestört wird. Hinter den Pylonen sind die Trailer der Stars, das Catering, die Dressing Rooms und die Maske. Ich frage ihn, was sie denn aktuell drehen. „Oh, this is top secret, a brand new Apple TV daily soap!“ Er darf uns den Titel nicht verraten. Allerdings plaudert er über Hollywood und dass sehr viele Motive, die eigentlich in New York spielen, in Toronto gedreht werden, weil die Produktionskosten hier viel niedriger sind. Die Location sei sehr ähnlich, so dass niemand einen Unterschied bemerke. Ich habe fast den Eindruck, er freue sich über unsere Ankunft, denn er macht keine Anstalten sich wieder seiner Arbeit zu widmen, so plaudern wir noch eine Weile, bis er sich dann doch zurückzieht.

Ich sage zu Jutta, dass ich LEMMY noch etwas besser in Waage ausrichten will und dann eine kleine Mittagspause machen möchte. Bin schließlich noch etwas verkatert von gestern. Jutta lässt sich vom Parkwächter den Parkautomaten zeigen, hat aber Probleme ein Ticket zu ziehen. Ich rangiere etwas vor und zurück bis ich befinde, LEMMY steht perfekt. Jutta kommt ohne Parkschein vom Automaten. „Das geht nicht mit meiner Kreditkarte, da muss man mit dem Handy bezahlen“, sagt sie. Mit „Mobile Pay“ hatten wir auch schon in Liverpool Probleme wegen unserer ausländischen Handys. „Kannst du dich da bitte drum kümmern?“, frage ich. „Bin voll müde und möchte gerne noch etwas schlafen.“ Sie nickt verständnisvoll und ich lege mich ins Bett. Schlafen kann ich trotzdem nicht.
Ich höre, wie Jutta sich vor der offenen Tür unterhält. Aus dem Bett erspähe ich sie mit einem dieser Soap Stars, einer attraktiven jungen Lady mit knallroten Haaren, die wohl gerade eine Zigarettenpause macht und unser Auto interessant findet. Offensichtlich hat sie unser Parkticket mit ihrem Mobile Phone am Automaten bezahlt und Jutta hat ihr den Betrag in Bar erstattet. Sie erzählt, dass sie nur nebenberuflich als Schauspielerin arbeite, sie sei stolze Besitzerin eines Modelabels und ebenfalls eines Klamottenladens in der Stadt. Wie lange wir denn in Toronto bleiben, fragt sie und das Übliche, was alle immer so wissen möchten. Wenn wir Zeit haben, rät sie uns, dann schaut euch Harry Potter an und Hamilton. Ich kann null pennen bei dem Gequatsche da draußen, stehe wieder auf, ziehe mir was an und sage in der Tür stehend: „Hello!“ Sie lächelt mich an und erwidert: „Hello stranger!“ Zum Abschied hinterlässt sie ihre Visitenkarte. „Wie wäre es mit Kaffee?“, frage ich.

Heute machen wir nicht mehr viel. Wir sind überaus zufrieden in dieser Metropole angekommen zu sein. Einen tollen Stellplatz zu haben, mit Blick auf die Skyline, am Wasser, wo die Boote von Pioneer Cruises ablegen, auf den Ontario Lake, rüber nach Toronto Island, im Rücken einen beeindruckenden Giganten. Es sind 20° und der Himmel färbt sich in unwirkliche Töne zwischen lila, orange und rot. In den Pfützen vom letzten Schauer spiegelt sich der Regenbogen. Nebenan steht eine Schauspielertruppe. Ich fühle mich ein wenig wie auf einem Gastspiel.


Wir gehen spazieren. Bevor es dunkel wird kommen wir zurück, um uns was Leckeres zum Essen zuzubereiten. Wir genehmigen uns etwas Käse, Cracker, Früchte und Wein. Dazu schauen wir Black Mirror. Als Jutta ins Bett geht, mache ich noch einen Schnappschuss von der Skyline by night, fülle meinen Becher auf und suche nach einer meiner Lieblingsfolgen im Black Mirror Universum: „San Junipero“. Danach schaue ich noch „Playtest“ und „White Christmas“, dann gehe auch ich schlafen. Das Letzte was ich sehe, bevor der Schlaf mich einholt, sind die flimmernden Lichter der Großstadt….
Der heutige Tag scheint vielversprechend zu werden. Nach dem Frühstück wollen wir zur Harbour Front bummeln und nach dem Lunch auf den 553 Meter hohen CN Tower fahren. Am Abend erwartet uns ein Konzert in der Horseshoe Tavern. Drei Bands werden spielen, deren Namen mir komplett unbekannt sind, aber die Location ist großartig und die Bands werden rocken, soviel wissen wir dank YouTube. Gestärkt durch ein Vitalfrühstück und reichlich Kaffee starten wir in einen sonnigen Großstadttag.


Um mich etwas zu recken und zu strecken verlasse ich die gute Stube, trete noch mit Puschen vor die Tür und schaue, was sich von gestern auf heute so getan hat. Einige andere Camper parken in unmittelbarer Nähe, aber Overlander sind keine dabei. Im Filmcamp nebenan herrscht bereits reges Treiben. Im Catering Container ist am meisten los, alle scheinen irgendwie in Eile zu sein. Manche kommen schneller raus als sie reingegangen sind, mit nur einem Becher Kaffee in der Hand. Andere bleiben länger und wieder andere nehmen sich ein Lunchpaket mit an das Set.

Die, die im Dressing Room daneben verschwinden kommen nie wieder heraus, jedenfalls nicht als dieselbe Person. Wer Glück hat, trinkt seinen Kaffee entspannt bei der Maske, während das Styling von professionellen Händen routiniert vollzogen wird. Wie in einem Ameisenhaufen geht es für Außenstehende zu, aber wer genauer schaut, erkennt die Professionalität in dieser Maschinerie. Alles ist genau getaktet, jeder weiß was er zu tun hat, alle kennen den Ablauf. Der gelbe Schulbus steht bereit für den Shuttleservice vom Camp zu den jeweiligen Drehorten. Der Parkplatzwärter nickt zu mir herüber und hebt seine Hand grüßend an den Kopf, ich erwidere sein Nicken und entscheide, mich genug gedehnt zu haben.

Rein in bequeme Schuhe und auf geht`s. Bei bestem Wetter spazieren wir durch die Häuserschluchten, immer wieder erhasche ich durch die Wolkenkratzer einen Blick auf den alles überragenden CN Tower. Bis 2009 war es der höchste Fernsehturm der Erde. Soweit ich weiß hat ihn der Skytree in Tokyo mit 634 Metern als Rekordhalter abgelöst.
Auf dem Weg gibt es ein köstliches Eis auf die Hand und vorbei geht`s an kleinen und größeren Ausflugsbooten, die allesamt nach Toronto Island zu dem beliebten Vergnügungspark pendeln. Wer eine längere Anreise hat, kann dort sogar auf einem kleinen Flugplatz landen.

Das Rogers Center kommt ins Blickfeld. Heim der Toronto Blue Jays Baseball Major League. Das Dach dieses 49 286 Fans fassenden Stadions ist verschließbar und entsprechend bei passendem Wetter auch zu öffnen. Ich meine mal gelesen zu haben, dass es in etwa 20 Minuten dauert und ca. 25 000 $ Stromkosten verursacht, bis die Sonne ins Allerheiligste strahlen kann.

Nebenan steht er, der mächtige CN Tower und schaut man nach oben bekommt man schnell einen Krampf im Nacken und muss aufpassen nicht nach hinten überzukippen, ob dieses überwältigenden Bauwerks. Es ist eines der sieben architektonischen Weltwunder der Neuzeit. Eine lange Schlange steht vor dem Eingang und ein Ticketcounter befindet sich auf dem Vorplatz, wer hätte es gedacht, auch mit einer Schlange davor. Wir nehmen all das zur Kenntnis und kurz darauf folgt Juttas eindringlicher Blick in meine Richtung. Ich lese ihre Gedanken und antworte laut und deutlich: „Jaaa, ich will da hoch!“ Sie seufzt, weil ihr klar ist, zu diskutieren bringt hier eh nichts. Ich verleihe meinem Begehr trotzdem noch mehr Gewicht, indem ich sage: „Wer weiß, wann wir das nächste Mal in Toronto sind, außerdem war ich diesmal weder bei den Niagarafällen, noch in Calgary oder in Vancouver auf einem Tower, nicht mal auf der Space Needle in Seattle.“

Ripleys Aquarium of Canada befindet sich ebenfalls direkt hier zu Füßen des Towers. Eine Installation, ein riesiger Wasserhahn ragt aus der Wand und spuckt eine Flut an Plastikprodukten aus, die unten zu einem kleinen See aus Plastikmüll werden. Was uns der Künstler hiermit sage will bedarf wohl keiner Erklärung.

Wir kaufen uns zwei Tickets für beide Plattformen des CN Towers, bekommen einen Timeslot zugewiesen und haben dadurch noch Zeit für eine ausgiebige Lunchpause.
Schon auf dem Weg hierher haben wir die großen Dampfloks und den alten Rangierbahnhof gesehen, heute der Roundhouse Park mit dem Railway Museum. Was mich aber viel mehr interessiert, „The Rec Room“, eine Brauerei mit einladender Terrasse und vielen schattenspendenden Sonnenschirmen und einer verlockenden Speisekarte. Wie üblich stehen wir wieder in einer Reihe von Leuten, die alle Durst oder Hunger haben, vielleicht auch Beides. Fast alle Plätze sind belegt, ein Indiz für eine exzellente Küche. „Please wait to be seated!“ steht auf einer Tafel am Eingang. Das ist so üblich auf dem ganzen nordamerikanischem Kontinent. „In or out?“, fragt die Waitress, als wir an der Reihe sind. „Out, please!“ Wir bekommen einen Platz im Schatten auf einer langen Bierbank zugewiesen und können uns gegenüber sitzen. Beim Essen entscheide ich mich schnell, heikler ist die Beer-Frage. Es gibt so viele Sorten und welche Größe soll ich nehmen. Der Kellner kommt und ich handle intuitiv. Jutta wählt einen Pint Witbeer, ich nehme das große Honey Brown Lager, einen ganzen Liter. Meine Wahl rechtfertige ich mit dem besseren Preis gegenüber der halben Menge. Es kostet nicht das Doppelte, nur ca. ein Drittel mehr. Cheers!


Nach dem Zahlen machen wir uns im Restroom des „The Rec Rooms“ etwas frisch, bestaunen die Größe des Innenbereichs und stöbern kurz im Merch Shop. Dann bummeln wir rüber in die nächste Schlange. Seit 9/11 im Jahr 2001 hat sich die ganze Welt verändert, da macht der CN Tower keine Ausnahme. Wir werden durchleuchtet, wie an einem großen internationalen Flughafen. Dann müssen wir unsere kleinen Stoffbeutel, die wir auf dem Rücken tragen zum Security Check abgeben.
Jetzt passiert etwas sehr ungewöhnliches, womit ich nie im Leben gerechnet hätte. Ich habe einen grauen Beutel von irgendeinem Hard Rock Café dabei. Darin ist eine halbvolle Wasserflasche, meine Sonnenbrille im Etui und sonst nichts. Mein Beutel ist offensichtlich ohne Beanstandung durchgegangen, ich erhalte ihn zurück. Jetzt nimmt der Officer sich Juttas Beutel vor. Er wühlt darin herum, holt auch mal was heraus und packt es nach Begutachtung zurück. Dann stutzt er. Ich überlege, woran er sich gestört haben könnte. Am Desinfektionsfläschchen für die Hände? Am leichten Pullover? Mag er die Farbe etwa nicht? Er schaut ernst zu Jutta und sagt: „We have a problem!“
Jutta schaut ihn irritiert an, ich schaue Jutta irritiert an. „Was ist denn los?“, frage ich. „Weiß ich auch nicht!“, sagt Jutta. Dann zum Officer gewandt: “What`s the problem, Sir?“ Er deutet auf das Bild der Mona Lisa. Den Beutel hat Jutta vor vielen Jahren von unserem Freund Marco geschenkt bekommen. Jetzt ist er leider nicht mehr mein Freund. Nicht wegen dem Vorfall hier am CN Tower, sondern weil er mir die Freundschaft gekündigt hat. Es hat was mit Corona zu tun, damit, dass ich mich habe impfen lassen und mit anderen unterschiedlichen Ideologien und Weltanschauungen. Ich bedauere es sehr, ihn als Freund verloren zu haben, kann es aber nicht ändern. Das nur am Rande. Er hat ihr den Beutel auf dem Reload Festival gekauft, als auch Five Finger Death Punch gespielt haben und es dieses grandiose Feuerwerk gab. Das Motiv auf besagtem Beutel ist die Mona Lisa mit einem schwarzen Balken auf den Augen, darauf in weißen Großbuchstaben: TRUST NO BITCH. Und genau dieser kurze Satz ist sein Problem.
„Serious???“, frage ich ihn. „Er antwortet so sinngemäß, hier sind viele Familien unterwegs, die haben kleine Kinder dabei. Die könnte das Wort „Bitch“ verstören. Er greift zum Telefonhörer. Werden wir jetzt verhaftet? Er ruft seinen Vorgesetzten an. Jutta ist dabei ihren Beutel auszupacken und schlägt vor ihn auf einfach links zu drehen. Der Officer hat das Telefonat beendet und gibt klein bei. „No problem, Madame, this is no longer necessary!“ Jetzt ist Jutta trotzig und zieht die Nummer durch. Mit auf links gedrehtem Beutel und einer blassen Mona Lisa, deren Schriftzug man nur noch im Spiegel lesen kann, marschieren wir weiter.

Die Aussicht von der ersten Plattform entschädigt bereits für alle Unannehmlichkeiten und die lange Wartezeit. Über den Preis hier hinauf reden wir besser gar nicht erst. Alles unter uns ist so winzig. Nur der Ontario Lake nicht, er reicht weiter als das Auge zu sehen vermag. Steil abwärts sehe ich das verschließbare Dach des Rogers Center und vor uns den Roundhouse Park mit dem „The Rec Room“. Wir gehen einmal um die ganze Plattform herum und staunen über diesen spektakulären Blick in alle Himmelrichtungen. „Guck mal, da hinten muss LEMMY stehen, irgendwo hinter den Hochhäusern.“, deute ich mit dem Finger in seine Richtung. Wir sehen Torontos Hauptbahnhof, die Insel gegenüber mit dem Flughafen und dem Vergnügungspark. Auf einigen Wolkenkratzern sind Hubschrauberlandeplätze, auf anderen Swimmingpools. Mit unserem Zusatzticket dürfen wir noch weiter nach oben fahren auf die höchste, kleinere Plattform. Hier oben gibt es den berühmten Glasboden, den Jutta allerdings nicht betreten mag. Mir macht das nichts aus. Im Gegenteil. Die Autos auf dem unter mir liegendem Gardiner Expressway sind so winzig, wie die Miniaturen im Hamburger Wunderland.

Das „John Street Roundhouse“, ein 1897 erbauter Ringlokomotivschuppen gibt dem Park seinen Namen und die tatsächliche Größe ist erst von hier oben in kompletter Dimension zu erkennen. Wahrscheinlich sieht man den Schuppen auch vom Mond noch. Wir drehen unsere Runde und dann geht es im Außenfahrstuhl blitzschnell abwärts. In 48 Sekunden bis zur Erde. Das war ein tolles Erlebnis, auch beim zweiten Mal. Don`t miss!

Jetzt bummeln wir weiter, mit einem Kaffee in der einen und einem Donut in der anderen Hand. Danke Tim Hortons! Den Distillery District haben wir bereits hinter uns, Old Toronto liegt vor uns und den Fashion District streifen wir am Rande. Wir sind auf dem Weg zur Horseshoe Tavern in der Queen Street W. zu einem Livekonzert. Unterwegs kommen wir unter anderem durch Down Town mit dem Toronto Sign, sehen die Old City Hall, die Art Gallery of Ontario, St. Andrew`s Church und St. Michael`s Cathedral Basilica. Es ist faszinierend, wie wunderschön die alte und die moderne Architektur nebeneinander harmoniert. Da hat sich jemand Gedanken gemacht das Alte zu erhalten und das Neue zu integrieren. Der Plan ist vollends aufgegangen. Zwischendurch reflektiert der CN Tower die Sonnenstrahlen durch die Häuserzeilen zu uns herüber, als will er sagen: „Ich bin hier, seht mich an!“


Bei einem Blick auf die Uhr, es ist bereits später Nachmittag, beschließen wir Kensington Market und Little Italy auf Morgen zu verschieben. Vor einer Weile sind wir an einer Bar vorbei spaziert, mit einer mit bunter Kreide beschrifteten Klapptafel vor der Tür. „PINT O`CLOCK“ stand da geschrieben. Nur 6 $ für ausgewählte Biere, Cocktails und Weine zwischen 16:00 und 18:00 Uhr. Das hat gewisse Gehirnregionen bei mir aktiviert und nun verlangt es mich nach einem kühlen Blonden, gut gezapft. „Auf zur Horseshoe Tavern.“

Ich erkenne sie schon von Weitem, 370 Queen Street W, Toronto, Ontario. Draußen auf dem Bürgersteig sind noch ein paar Tische frei und die Sonne scheint. „Setz dich schon mal hin, ich geh eben an die Bar und hole uns was zu trinken.“, sage ich zu Jutta. Der Tresen auf der linken Seite ist etliche Meter lang und nur wenige Leute sind an der Bar, auf der rechten Seite ist mehr los. An der Wand sind alle Tische besetzt. In der Mitte geht es in den hinteren Bereich der Taverne, in den Konzertsaal. Ich bestelle beim Barmann zwei Pints Beer und begebe mich zu Jutta auf die Terrasse, um vorbeikommende Leute zu beobachten. Wir stoßen an, prosten uns zu und genießen die Sonne.

Das Schöne an den kanadischen Metropolen ist die Lockerheit der Leute. Alle wirken so entspannt. Egal, ob es der Businessmann im schicken Anzug ist, den Aktenkoffer lässig baumelnd in der Hand, das Mobilphone am Ohr, die Punkerin mit den pinken Haaren und dem roten Lederminirock oder eine alte Dame mit Gehstock und ihren drei Einkaufstüten. Zwei Backpacker, ein junges Pärchen mit riesigen Rucksäcken auf dem Rücken kommen vorbei, entweder auf der Suche nach einer billigen Unterkunft oder sind sie auf der Abreise? Ein paar Meter weiter stehen vier Polizisten nett plaudernd zusammen. Es ist ein Schwarzer, zwei Weiße und der vierte im Bunde ist ein Inder. Der trägt allerdings statt einer Polizeimütze einen Turban auf dem Kopf. Alles harmoniert miteinander, alles ist im Flow. Jutta und ich nehmen einen großen Schluck, stoßen erneut an und lassen den Tag Revue passieren. Cheers!

Ein zweites Bier gönnen wir uns noch auf der Terrasse, schauen zu wer den Laden betritt, kommentieren hin und wieder Style und Auftreten mancher Konzertbesucher und sehen auch einige Musiker mit ihren Instrumenten ankommen. Wie die drei Bands heißen, vergesse ich immer. Eine halbe Stunde nachdem ich auf der Homepage geschaut habe ist es wieder weg, gelöscht aus meinem Gedächtnis. Es sind wohl eher Lokalmatadoren, von denen wir bisher nichts vernommen haben. Wir gehen rein.

Am langen Tresen bestelle ich zwei weitere Biere ohne warten zu müssen. Es ist erstaunlich wenig los. Vor der überwiegend in rot gehaltenen Bühne stehen nur wenige Gäste. Ich kürze hier etwas ab. Die erste Band rockt ganz gut und das Publikum geht voll mit. An den Drums sitzt eine junge Lady die ziemlich reinhaut und ihre Spielfreude steckt an. Die zweite Band, zwei Jungs und eine Keyboarderin, ist nicht schlecht, aber der Funke springt, bei uns zumindest, nicht über. Also bleiben wir etwas weiter hinten sitzen. Einigen Anderen gefällt es und sie tanzen. Die dritte Band ist skurril und ziemlich extravagant. Es sind drei Jungs, einer an den Drums, der Normalo, die beiden anderen an Gitarre und Bass. Sie tragen lange Bärte, haben lange Haare und dunkle Hüte auf dem Kopf. Mit ihren dunklen Jeansanzügen sehen sie ein wenig wie aus der Zeit geraten aus. Das Outfit mag ZZ Top inspiriert sein, die Musik ist es nicht. Sie singen beide und das in einer Tonlage, die nur Axl Rose übertrifft. Es ist wohl so eine Art experimenteller Blues. Hin und wieder lächeln sie, allerdings wirkt es inszeniert, damit man ihre glänzenden Platinschneidezähne aufblitzen sieht. Vier oder fünf Songs bleiben wir noch und sind dann schnell gelangweilt von dem was die Drei da oben veranstalten. Der Top Act des heutigen Abends enttäuscht am Meisten. Nur ein extravagantes Aussehen und Blinkezähne reichen mir nicht. Ich will Rock`n`Roll! Thema verfehlt, bye bye.

Statt ein Taxi zu nehmen, wollen wir lieber durch die Nacht spazieren. So weit ist es ja nicht und diesmal machen wir keine Umwege. Ich liebe Großstädte und bei Nacht sind sie irgendwie noch friedlicher und ruhiger. Na ja, nicht alle Metropolen sind nachts ruhiger, wenn ich da an New York denke, Bangkok oder Tokyo. Aber Toronto ist da anders. Entspannt schlendern wir zu unserem Parkplatz zurück und genießen den lauen Wind in den Schluchten der Wolkenkratzer. Wir kommen am Iron Building vorbei, am beleuchteten TORONTO Sign und entdecken hier und da neue Perspektiven. Unwohl fühlen wir uns zu keinem Zeitpunkt.



Nach einer knappen Stunde sehe ich schon die gigantischen Victory Soya Mills Silos auf unserem Parkplatz, die ich irrtümlich für einen Bunker gehalten hatte. Die Filmcrew schläft wohl schon zum größten Teil, das Lager ist nur dürftig beleuchtet und die meisten Trailer haben die Jalousien runtergezogen. Nur vereinzelnd scheint noch etwas Licht durch einen offenen Spalt im Fenster. Wir ziehen uns ebenfalls zurück, aber ich will noch etwas aufbleiben und ein Bier trinken nach diesem erlebnisreichen Tag. Jutta macht sich gerade im Bad bettfertig, da vernehmen wir ein Geschrei und Gerumpel vom Ende des Parkplatzes.

Wir sehen aus dem Fenster und entdecken jemanden an einem großen Müllberg, etwas abseits des Filmcrew Camps. Ein Typ mit zerlumpter Kleidung scheint den Müllhaufen umzuorganisieren. Er wirft Sachen durch die Gegend, räumt Dinge von A nach B und brüllt laut, als sei er stinksauer. Wir wissen nicht genau, was los ist, aber wohlmöglich hat er dort sein Lager aufgeschlagen und ist unzufrieden mit der Situation. Vielleicht ist er obdachlos und lebt dort oder er hat das Lager anders vorgefunden, als er es verlassen hat. Möglicherweise ist er auch psychisch krank und es gibt keine vernünftige Erklärung für sein Handeln. Jutta legt sich ins Bett und versucht zu schlafen, ich mache mir eine Dose Pabst auf, nehme meine Kopfhörer und lausche Marilyn Manson – Running To The Edge Of The World.
„Wie lange hat der Typ da hinten in der Nacht denn noch herumgetobt?“, frage ich beim Frühstück. „Och, keine Ahnung, bin relativ schnell eingeschlafen.“, sagt Jutta. „Na das ist ja gut, ich habe ihn mit Musik übertönt. Hoffentlich konnte er auch wieder zur Ruhe kommen. Als ich ins Bett gekommen bin, war er jedenfalls still.“
„Wollen wir gleich nach dem zweiten Kaffee schon umparken?“, fragt Jutta. Umparken? Ja, heute werden wir den Stellplatz wechseln. Jutta hat Tickets für eine Theatervorstellung gekauft. Harry Potter and the cursed child im Ed Mirvish Theatre. Da können wir für wenig Geld in Downtown auf einem öffentlichen 24/7 Parkplatz stehen, nur einen Block vom Theater entfernt. Besser geht es nicht. Von dort sind wir schnell in China Town und Kensington Market, können die Innenstadt erkunden und wenn wir wollen auch Little Italy. Am Abend ist es nur einen Katzensprung bis ins Theater und zurück zum Auto ebenso. „Von mir aus gerne, dann fangen wir mit Kensington Market an, China Town liegt eh auf dem Weg.“, antworte ich. Abgemacht.

Wir packen zusammen, ich gleiche LEMMYS Luftfedern wieder auf ein straßentaugliches Niveau an und ohne die Schauspielerin von vor ein paar Tagen wiederzusehen oder den Schreier von letzter Nacht, verlassen wir diesen schon ein bisschen lieb gewonnenen Stellplatz. Vom redseligen Parkwächter auf seinem Hocker verabschieden wir uns im Vorbeifahren selbstverständlich noch.
Durch die Victoria Street fahre ich direkt am Theater vorbei, biege kurz links ab in die Shuter Street und dann sehen wir schon die Einfahrt zum Public Parking Lot. Da wollen wir hin. Die Schranke wird geöffnet und ich suche mir einen Platz. Nee, der ist nicht gut, probieren wir einen Anderen. Einer der beiden Jungs aus dem Kassenhäuschen hat allerdings andere Pläne mit uns. Wir sagen ihm, dass wir gerne über Nacht bleiben wollen und morgen am späten Vormittag die Stadt verlassen werden. Er überlegt kurz und weist uns einen anderen Slot zu. Da könnt ihr gut stehen und erschreckt nicht, wenn ihr morgen zugestellt werdet, das regeln wir dann schon. Morgens ist es immer sehr busy hier und alle suchen einen Parkplatz in der Innenstadt. Ich kann mir ein kleines, innerliches Lächeln nicht verkneifen, wenn ich an all die denke, die einen großen Truck fahren. Sie kommen niemals in den Genuss mitten in der Stadt zu parken.
Jetzt stehen wir perfekt und machen uns im Bad fertig. Der Tag kann kommen….
Zähne sind geputzt, Haare gekämmt und bequeme Schuhe warten darauf einige Kilometer zu absolvieren und die Sohlen glühen zu lassen. Schon auf dem Parkplatz geht es mit einem geilen Graffiti los und das Nächste lässt nicht lange auf sich warten. Es werden noch viele weitere folgen, Streetart wird in Toronto groß geschrieben.

Die Orientierung ist kinderleicht. Ein Blick auf die Map im Handy reicht meist aus, um weit voran zu kommen. Wir gehen noch einmal am Ed Mirvish Theatre vorbei, um dann am Yonge-Dundas Square nach links abzubiegen Richtung China Town und Kensington Market. Aber was ist denn hier los? Auf dem Trinity Square, in der Innenstadt, umgeben von hohen Häusern ist eine große Menschenmenge versammelt. Eine große Bühne ist aufgebaut und an mehreren Hochhäusern prangen riesige Screens mit Regenwaldmotiven aus unterschiedlichen Teilen der Erde. Es sind bewegte Bilder und dazu ertönt ein Vogelgezwitscher und Urwaldgeräusche aus riesigen P.A. Boxen, die den Straßenlärm übertrumpfen. Das ist eine gewaltige Installation, eine Umweltkampagne wie es scheint. Die Bühne ist im Augenblick leer, aber vermutlich wird im Laufe des Tages und abends einiges an Programm dargeboten. Wir nehmen uns vor, auf dem Rückweg wieder hier vorbei zu schauen, bevor es ins Theater geht.

Da das Frühstück schon eine Weile hinter uns liegt, denken wir über eine Lunchpause nach. An der Grenze zu China Town sehen wir einen einladenden Pub, wo wir überdacht sitzen und offen auf die Straße schauen können. Es wird auch schon Bier getrunken, was mir den Laden noch sympathischer macht. Ich bestelle mir ein Pint und Fish & Chips, Jutta einen vegetarischen Burger. Bevor wir den Pub verlassen, will ich mich noch kurz erleichtern. Als ich den Restroom betrete, muss ich tatsächlich lauthals lachen. Über den Pissoirs hängen gerahmte Bilder mit attraktiven Damen, die mit weit aufgerissenen Mündern erstaunt nach unten blicken, als würden sie etwas Unglaubliches sehen. Mit einem breiten Grinsen trete ich an unseren Tisch, während Jutta gerade die Rechnung begleicht und sage: „Das musst du sehen!“


Beim anschließenden Spaziergang durch China Town kommen bei mir Bilder hoch aus Vancouver. Aus dem District der Untoten, der Fentanyl Zombies. Aber hier scheint es dieses Problem nicht zu geben. Ich bin ganz glücklich darüber und schiebe die düsteren Gedanken beiseite, darin bin ich ganz gut, wie ihr bereits wisst. Konzentrieren wir uns lieber auf die großartigen Graffiti, die es an jeder Ecke zu bestaunen gibt und auf die Exotik des fernen Ostens. Wie schnell es doch manchmal geht, gerade eben noch ist die Stimmung exzellent und im nächsten Augenblick droht sie zu kippen.
Einige Blocks weiter ändert sich das Stadtbild abrupt. Wir sind in Kensington Market. Dieses multikulturelle Viertel sprüht nur so vor Lebenslust. Es erinnert mich ein wenig an mein Viertel in Bremen, an das Steintorviertel, wo ich arbeite.
Hier, in Toronto, leben viele alternative Leute, Punker, Freigeister, Künstler und Träumer. Viele alte viktorianische Häuser prägen Kensington und seit 2006 ist es eine „National Historic Site Of Canada“. Wir lassen uns treiben und erfreuen uns an den bunten, leider oft abgerockten Villen, an der Musik, die aus manchem Fenster dröhnt und an den Leuten in den Biergärten, die sich angeregt unterhalten und Fremde mit offenen Armen empfangen. Wir gesellen uns dazu und trinken Bier in irgendeinem Vorgarten. Wahrscheinlich werden hier auch viele Existenzen gescheitert sein, das ist dem Viertel anzusehen. Und der Hauch des Versagens weht durch manche dieser Straßen. Viele werden gekommen sein, um zu feiern, andere haben sich mit Fleiß und Ehrgeiz ein kleines Business aufgebaut und können davon leben. Reich scheint hier niemand zu sein. Es ist ein Viertel für sich, anders als ich es sonst kenne. Hier lungern keine Drogendealer aus Nigeria oder einem anderen afrikanischen Land an jeder Ecke rum, wie es im Steintorviertel in Bremen der Fall ist oder wie ich es aus Jakarta kenne, aus Vientiane in Laos oder aus Sao Paulo in Brasilien. Kensington ist ein Mikrokosmos in einer großen Stadt, ein etwas abgefucktes Viertel, genauso wie ich es mag. Die Menschen hier trinken vielleicht mal einen über den Durst, dröhnen sich eventuell auch mal zu, aber im Grunde wollen sie nur eins: Weltfrieden und ungestört feiern.


Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Fuck, es wird höchste Zeit sich auf den Rückweg zu machen.“ Es reicht gerade noch, um sich ein wenig aufzufrischen. Das Nickerchen vor der Vorstellung können wir vergessen. Es ist Sonntag und Harry Potter beginnt um 18 Uhr. Wir haben jetzt keine Zeit mehr für den Trinity Square, das muss warten bis nach der Vorstellung. Little Italy können wir ebenso abhaken.

Zuhause machen wir uns ein wenig frisch und dann geht es sofort weiter. Zum Glück müssen wir nur um den Block und schon sind wir im Mirvish Theatre. Die Eintrittskarten hat Jutta auf dem Handy. Stolze 120 $ hat sie pro Ticket bezahlt. Ich bin nicht so scharf auf die Veranstaltung, habe weder die Bücher gelesen, noch die Filme gesehen. Nur einen habe ich ihr zuliebe mal mitgeschaut. Harry Potter und der Stein der Weisen, glaube ich. War nicht schlecht, aber mein Ding ist das nicht. Ich hasse auch die Hörbücher, die Jutta gerne zum einschlafen hört. Mich nervt die Stimme von Rufus Beck, der alle Rollen selber spricht.
Und heute ist auch noch Familiensonntag. Überall wuseln kleine Potters und Hermines rum. Na egal, in ein paar Stunden ist das ausgestanden. Tatsächlich dauert der Abend über drei Stunden. Es ist auch kein Musical, wie ich es erwartet habe, sondern ein Schauspiel. Für mich ist es ziemlich anstrengend, da ich die Geschichte nicht kenne, sie mich nicht im Geringsten interessiert und Harry Potter nur englisch spricht.


Ich denke zurück an unseren letzten Besuch in Toronto, als wir Lord Of The Rings in einem anderen Theater der Stadt gesehen haben. Das war toll. Ich kenne die Tolkien Bücher auswendig, liebe die drei Filme von Peter Jackson und es wurde als Musical aufgeführt. Ich konzentriere mich also mehr auf die Bühne und die Tricks, die uns vorgeführt werden. Jutta hat Spaß und ich lasse mir mein Missfallen nicht anmerken. Sie soll doch einen tollen Abend haben. Technisch ist das schon extrem aufwendig gemacht. So etwas können wir in einem Stadttheater nicht leisten, nicht wenn wir jeden Abend eine andere Vorstellung spielen. Diese Bühne wurde konzipiert für Harry Potter und hier spielt auch nur Harry Potter. Jeden Abend, manchmal zweimal hintereinander. In einer Kampf-Szene fliegen die Darsteller nur so durch die Luft (ähnlich wie in Matrix oder Kill Bill) und das sieht echt spektakulär aus, aber mein geschulter Blick enttarnt die Illusion.
In einer aufwendigen Choreografie agieren helfende Hände von komplett schwarz gekleideten Personen, die im dunklen Hintergrund und im perfekt beleuchteten Szenenbild kaum zu erkennen sind. Sie wirbeln die Akteure durch die Gegend und die Illusion entsteht, als können sie fliegen, sich in Zeitlupe bewegen oder in der Luft stehen. Diese technischen Tricks und das ganze Drumherum entschädigt mich für manche Dialoge, die ich nicht komplett verstehe. Alles in allem haben wir einen schönen Theaterabend. Jutta verlässt voll begeistert den ausverkauften Saal und ich freue mich, dass es ihr so gut gefallen hat. Jetzt wollen wir aber auch noch zum Yonge-Dundas Square, einen Block weiter.
Wieder auf der Straße vor dem Theater hören wir Livemusik.

Ich weiß genau, wo das herkommt. Leider packt die Band gerade zusammen, als wir den Platz erreichen. Ist aber halb so wild, denn die riesigen Screens, wie aus einem Science Fiction Film à la Blade Runner, nehmen uns sofort gefangen. Es werden unterschiedliche Szenarien dargestellt, untermalt von einem beunruhigenden, aber passenden Sound. Der Platz ist sehr belebt und viele Leute wirken betroffen. Heute Mittag haben wir den Regenwald gesehen mit lautem Vogelgezwitscher und den Geräuschen des Dschungels.
Jetzt sehen wir Vulkanausbrüche, Slums und überbevölkerte Städte. Wir sehen gigantische Baumaschinen, die die Natur ausbeuten, sehen wie die Wälder abgeholzt werden und Überschwemmungen. Die Wälder brennen und das Wasser der Flüsse ist rot. Vulkanasche überzieht die Erde. Heiße Lava fließt die Berge hinab ins Meer. Die Videos auf den Monitoren gehen ineinander über, als wären diese fünf gigantischen Screens miteinander verbunden und als hätten wir einen Rundumblick darauf, obwohl sie in allen vier Himmelsrichtungen hängen. Ich deute das als böses Omen, als Botschaft. Egal wohin wir unseren Blick auch wenden, wir sehen überall den Untergang. Das Unausweichliche? Das ist meine Interpretation von dem, was ich hier wahrnehme.
Weil ich Jutta nicht den Abend verderben will, reden wir über etwas anderes und machen uns auf den Heimweg.

Eine Sache ist mir den ganzen Abend schon eigenartig vorgekommen, es wird nicht so richtig dunkel in dieser Nacht. Ich spreche Jutta darauf an. „Das ist mir auch schon aufgefallen!“, sagt sie.

In dieser Nacht schlafe ich schlecht, wälze mich hin und her. Daran ändert auch die Nähe zur St. Michael`s Cathedral nichts. Am nächsten Morgen wache ich auf, wie gerädert. Jutta sagt: „Guck mal raus, wir sind komplett zugeparkt! Wie sollen wir hier so aus der Stadt kommen?“
….und was als nächstes geschieht….
Chapter V: Montreal, Quebec und der unglaubliche St. Lorenz Strom….,
….und wie uns Corona doch noch erwischt und was D.O.A. damit zu tun hat…
The following Chapter is dedicated to Mr. Chi Pig – R.I.P. (16.07.2020)