Chapter 26 – Durch die verschneiten Rocky Mountains über den legendären Icefields Parkway in die Wüste

…und warum man besser nicht auf den gefrorenen Lake Louise geht, wenn Schilder vor dünnem Eis warnen…

Vancouver liegt schon ein ganzes Stück hinter uns und wir fahren straigth north. Über den „Sea to sky Hwy 99“ geht es zunächst nach Squamish um dort LEMMY gründlich zu waschen. Es ist perfektes Wetter für die Straße. Die Sonne scheint, nur gelegentlich ziehen ein paar Wolken vorbei und verdunkeln den blauen Himmel. Der Asphalt ist trocken und der Name des Highways hält was er verspricht.

Wir haben richtig Bock wieder weiter zu reisen und werden sehen, wohin der Weg uns führt.

Natürlich gibt es eine grobe Route und einige Eckpunkte sind gesetzt, aber wie ich uns kenne werden wir hier und da abweichen. Mehr will ich an dieser Stelle nicht vorweg nehmen, aber so viel sei gesagt: Vom Icefields Parkway in Alberta werden wir noch einmal umdrehen und zurück nach B.C. in die Wüste fahren. Und ja, Canada hat eine Wüste!

„Hey, war da links nicht gerade die Waschhalle?“, frage ich Jutta, als wir das Ortsschild Squamish passiert haben. „Könnte sein, sah irgendwie so aus. Wende doch da vorne an der nächsten Ampelkreuzung!“, erwidert sie.

Lunchtime after work at Tim Hortons

Ich drehe und fahre zurück. „Hast du gesehen, da gibt es auch einen Tim Hortons und Wendys!“

„Hast wohl Lust auf Chili, was?“, sagt Jutta.

„Absolutly und auf einen Coffee to go……., und einen Donut!“

Jutta kümmert sich um die Bezahlung am Automaten mit ihrer Kreditkarte und ich erledige das Einschäumen von LEMMY. Die Halle ist hoch und breit genug, dass ich gut ums ganze Auto herumlaufen kann mit der sperrigen Hochdruckpistole. Nach dem Schaum kommt dann die Vorwäsche und Jutta hält mich mit dem Zeitcounter auf dem Laufenden. „Noch dreißig Sekunden, gib Gas!“, ruft sie mir zu. Ich beeile mich sehr und schäume, schrubbe und reinige was das Zeug hält.

Danach nehme ich noch die Plane von den Bikes ab und hänge sie an der Wand auf, damit ich auch sie reinigen kann.

Car Wash in Squamish

„Ich brauche noch einmal kurz Schaum und dann klares Wasser!“, fordere ich. „Na gut, aber wir sind schon fast bei 20 Dollar. Ist kompliziert mit der Eingabe hier an dem Scheißapparat.“

Mit knapp dreißig Dollar war das nicht gerade eine günstige Autowäsche, aber jetzt sieht LEMMY wieder aus wie neu und das fühlt sich ziemlich gut an.

Ich verzurre die Bikes unter der Plane und parke LEMMY bei Tim Hortons. Es sieht nach Frühling aus, alles blüht so schön.

So sauber war LEMMY lange nicht mehr

Für mich gibt es das obligatorische Chili, einen Kaffee und den Boston Style Donut. Jutta wählt eine vegetarische Lunchvariante, Kaffee und einen Donut mit „Salted Caramell“ Geschmack.

Nach dem kurzen Lunchbreak geht es wieder auf die Straße. Gestärkt und voll motiviert setzen wir die Reise fort. Lange genug waren wir in und um Vancouver. THE WÖRLD IS YOURS is on the road again.

In Whistler verbringen wir nur wenig Zeit. Wir kennen den Ort und waren unter anderem bereits auf dem Black Comb Mountain. Ich fahre einmal in das Zentrum, um zu sehen wie es sich verändert hat und weil Whistler eine bedeutende Rolle in Frank Schätzings Buch „Der Schwarm“ spielt. Dies ist eines meiner Lieblingsbücher, das ich auf einer früheren Kanadareise an die Ostküste regelrecht verschlungen habe.

Weiter geht es für uns auf dem Hwy 99 und überall gibt es so unglaublich schöne Aussichten, dass mir wieder mal die Worte fehlen, um es angemessen zu beschreiben. Wir lassen den Daisy Lake hinter uns und den Brandywine Fall, der seinen Namen von den Entdeckern bekam. Eine Erzählung besagt, dass zwei Landvermesser mit einem Boot unterwegs waren. Der Eine von ihnen hatte eine Flasche Brandy im Gepäck, der Andere eine Buddel Wein. So tauften sie den Wasserfall „Brandywine“.

Somewhere at the Sea To Sky Hwy

Hinter Whistler fahren wir eine ganze Zeit am Green Lake entlang und Jutta ist bereits fleißig am Recherchieren, wo wir die Nacht verbringen können. Am Lillooet Lake schlägt sie vor. Die „Strawberry Point Recreation Site“ soll traumhaft sein und abgelegen an einer Dirt Road liegen. Vorher können wir sogar Brot kaufen, von einem deutschen Bäcker in Lillooet. Ich finde, das klingt großartig.

Unterwegs müssen wir immer wieder anhalten, um schneebedeckte Berge zu fotografieren und die Aussicht über verschiedene Seen zu bewundern. So werden aus einer 176 km kurzen Strecke, die nicht länger als 2,5 Stunden dauern sollte, mal eben 5 Stunden. Na gut, wir haben auch das Auto innerhalb dieser Zeit gewaschen und Lunchpause gemacht.

Der deutsche Bäcker in Lillooet existiert leider nicht mehr, also fahren wir direkt zum „Strawberry Point“ .Ich freue mich riesig über Juttas Wahl, denn ich habe etwas Offroadfeeling und wir werden wieder in einer wahnsinnigen Traumkulisse stehen.

What a view!

Am 6. Mai 2022 registrieren wir uns selbst auf einem riesigen Campground inmitten dichter Bäume, suchen uns unter wenigen anderen Campern einen geeigneten Platz aus und werden schnell fündig. Nachdem LEMMY steht und das Lagerfeuer für den Abend präpariert ist, laufen wir noch runter an den Lillooet Lake, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen und den Sonnenuntergang zu verfolgen. Mit unseren beiden kleinen Campinghockern und ein paar Büchsen Bier gehen wir los und staunen nicht schlecht über den Strand, den riesigen Baumstamm, der hier rum liegt und die „Gute Nacht!“ wünschende Sonne.

Strawberry Point

Mich erstaunt es immer wieder, wie es möglich ist, dass die schönsten Plätze an denen wir schon gestanden haben, immer noch übertroffen werden.

Nach einem imponierenden Sonnenuntergang am See steigen wir wieder hoch zu unserem vorbereiteten Lagerfeuer und lassen den Abend gemütlich ausklingen. Es gibt noch ein kleines Nachtmahl und wir beschließen eine weitere Nacht am Strawberry Point zu verbringen.

Lillooet Lake

Irgendwann verglimmt das Feuer und Jutta wird kalt, ich war wohl zu langsam mit dem Holznachlegen. Jutta verabschiedet sich ins Bett. Mir ist es noch zu früh zum Schlafen gehen und drum lege ich zwei Scheite nach. Holz zum Kleinhacken habe ich am Nachmittag genug gefunden. Ich hole mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank, wärme mich am auflodernden Feuer und höre etwas Musik vom Handy. Hier störe ich niemanden, höchstens Jutta. Aber mit den Kopfhörern, die ich später benutze, nicht mal mehr sie. Wir sind fast alleine, einige Nachbarn haben wir, aber weit entfernt.

Ich grüble vor mich hin, Kanada ist einfach riesig groß und dünn besiedelt. Kein Vergleich zu den vollen Campgrounds in den Staaten. Auf die Ohren gibt es die Live Version von Beth Hart – Setting me free. Gute Lagerfeuermusik! Dann fröstelt mich und ich überlege schlafen zu gehen. „Ach was, ein Bier noch!“ Ich pinkle in die Natur, genieße meine Musik und freue mich über die kleinen Dinge im Leben. Ein kaltes Bier am Lagerfeuer in den kanadischen Wäldern, dazu meine Lieblingslieder. Dann wird mir klar, so klein sind die Dinge nicht, die ich hier erlebe. Manche Menschen reisen vielleicht nur einmal in ihrem Leben nach Kanada und bleiben drei oder vier Wochen. Demütig und dankbar versuche ich das alles einzuordnen und irgendwie auch einen positiven Betrag zu leisten, merke aber, wie schwer mir das als Globetrotter fällt. Ich will und werde weiter darüber nachdenken, welchen Beitrag ich leisten kann die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Ein letztes Bier am Feuer nehme ich mir noch zum Nachdenken. Dann spiele ich „Through the glass“, von Corey Tayler, trinke mein Bier aus und gehe ohne eine Antwort zu finden ins Bett.

Sun goes down

Unseren Morgenkaffee genehmigen wir uns unten am Lillooet Lake und ich berichte Jutta von meinem Gefühlsdilemma letzte Nacht. Ab jetzt werden wir beide darüber nachdenken, wie wir unseren Fußabdruck etwas kleiner ausfallen lassen können. Wer diesen Blog von Anfang an verfolgt weiß, wir sind seit Beginn der Tour (und auch schon lange in unserem alltäglichen Leben zu Hause) damit beschäftigt, unsere Spuren gering zu halten. Aber wir nehmen auch bewusst in Kauf eine sichtbare Spur zu hinterlassen. Wir wandern nicht um die Welt, wir fahren. Wir buchen Flugreisen, sind mit dem Motorrad gefahren, nur zum Spaß und wir machen noch viele andere Fehler, aber der Anspruch sich zu verbessern ist da. Nur Müll einsammeln und den Platz sauberer zu hinterlassen als man ihn vorgefunden hat, das reicht einfach nicht. Im Augenblick muss ich mich noch dazu bekennen in vielen Bereichen eine Umweltsau zu sein, da nützen die besten Absichten nichts. Vielleicht bekomme ich noch eine Kehrtwende auf die Reihe.

Den Strand in dieser einmaligen Kulisse haben wir für uns alleine. Wieder dicht am Wasser, vor dem toten endlos langen Baumstamm, der hier vermutlich seit einer halben Ewigkeit liegt.

„Cheers!“

Mit Müsli und Kaffee in den Tag zu starten, mit so einem Blick, was gibt es Schöneres?

Ich nehme mir vor später etwas Holz zu hacken, damit wir für die kommende Nacht gerüstet sind.

Was uns beide immer wieder begeistert, ist die allgegenwärtige respektvolle Haltung der Umwelt gegenüber, dem Wildlife. So sind wir auch hier am Strawberry Point mit einer großen Informationstafel konfrontiert, an der u. a. Verhaltensrichtlinien im Umgang mit Bären stehen. Zum Beispiel lesen wir: „A FED BEAR IS A DEAD BEAR“, was im Grunde bedeutet: Wer Bären füttert, nimmt es in Kauf, dass sie erschossen werden. Denn diese Bären verlieren ihre natürliche Scheu vor dem Menschen. Sie verbinden Menschen mit leicht erreichbaren Futterquellen und nähern sich ihnen, was sehr gefährlich werden kann. Nirgends liegt Müll rum, wie wir es aus Europa kennen. Die Kanadier und deren Gäste packen ihren angefallenen Unrat nach dem Picknick zusammen und nehmen ihn mit oder entsorgen ihn entsprechend vor Ort in bärensicheren Mülleimern.

Info Tafel am Lillooet Lake – Strawberry Point

Wir machen einen langen Spaziergang, nachdem unser Frühstücksequipment im Camp abgeliefert ist und verbringen einen herrlichen Tag in traumhafter Natur. Als wir am Nachmittag zurück sind, erinnert Jutta mich daran Holz zu hacken. „Du hattest doch noch was vor, oder?“, sagt sie.

„Ja ich weiß, das hätte ich nicht vergessen. Mit meiner scharfen Husky Axt macht es sogar Spaß!“

Camp Fire

Am hell lodernden Lagerfeuer schauen wir uns die Route für morgen an. In den Wells Gray Provincial Park wollen wir. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird das mal wieder ein richtiger Road Day, ein langer Tag auf der Straße. 422 Kilometer erwarten uns und eine reine Fahrzeit von 5 Stunden und 24 Minuten, laut Google Maps. Dazu kommen erfahrungsgemäß einige Stops an attraktiven Orten und Viewpoints, Pinkelpausen, Lunchbreak und Kaffeepause und Einkaufen müssen wir auch mal wieder. „Das können wir gut in Kamloops erledigen!“, schlage ich vor. „Dort gibt es alles und viele Camper versorgen sich dort für ihre Outdoor Abenteuer!“ Jutta ist einverstanden und wir freuen uns auf morgen. Ich habe Bock zu fahren und aus dem Auto die grandiosen Bergwelten zu bestaunen. Und Jutta liebt es sowieso während der Fahrt die vorbeiziehenden Flüsse zu bestaunen, die Seen und die schneebedeckten Gipfel.

„Wollen wir trotz der langen Fahrt noch mal unten am See frühstücken?“, fragt sie.

Ist der Papst katholisch?“, antworte ich lächelnd.

Diese Nacht bleibe ich nicht noch lange alleine am Lagerfeuer sitzen. Wir wollen morgen ausgeruht starten. Jutta macht sich im Bad schon mal fertig und ich lösche die letzten Flammen. Wer in den nächsten Tagen diesen Platz auswählt wird reichlich gehacktes Feuerholz vorfinden.

Morning

Mit unseren großen Kaffeemugs und geschmierten Butterbroten laufen wir runter an den Lake, bevor es dann endlich losgeht.

Wir folgen zunächst der „99“ und es geht immer höher hinauf. Der Schnee links und rechts der Straße wird mehr. Für die erste Pinkelpause klettere ich auf einen hart gefrorenen Schneeberg vor einem Schild mit der Aufschrift: „YOU ARE IN GRIZZLY BEAR COUNTRY“.

Das werden wir bald bestätigen….!

Zweispurig schlängelt sich die schmale Straße durch die Berge und wir kommen an die Gabelung der „97“ und haben die Möglichkeit Richtung Prince George zu fahren, geradewegs nach Norden oder die gestern abgesprochene Richtung Osten nach Kamloops, um dort einzukaufen. Wir überlegen einen Augenblick. Nach kurzer Bedenkzeit halten wir am Plan fest und fahren nach Kamloops.

Noch bevor wir den Ort erreichen, kommen wir am vereisten Kamloops Lake vorbei, der irgendwann darauf zum Thompson River wird. Zwischendurch halten wir immer wieder an, um die beeindruckenden Landschaften zu bewundern. Als wir schließlich das Ortsschild hinter uns haben, stocken wir großzügig die Vorräte auf. Es stimmt was im Reiseführer steht. In Kamloops gibt es alles, was das Herz begehrt.

Safety First!

Weiter geht es nach Clearwater und dahinter führt uns eine noch schmalere Straße hinein in den riesigen Wells Gray Provincial Park. Das Ziel für die Nacht ist der Falls Creek Campground, weit abseits der Zivilisation am südlichen Ende des Clearwater Lakes. Erreichen werden wir das Camp leider nicht.

Über die Clearwater Valley Road geht es immer weiter in den Provincial Park hinein. Links und rechts sind einige Wasserfälle ausgeschildert. Wir wollen allerdings nur zum schönsten von ihnen, dem Helmcken Fall. Hinter einer Steilkehre geht es runter zu einer kleinen Brücke, die uns sicher über den Murtle River trägt. Ich filme mit unserer DGI Kamera aus dem Auto und lasse Jutta hinter der Brücke aussteigen, damit sie mich von außen mit dem Handy filmen kann. Dann fahre ich zurück und wende oben in der Kurve. Jetzt nehmen wir die Fahrt von beiden Perspektiven auf, ich von innen mit der Dashcam und Jutta filmt von der anderen Seite der Brücke, wie ich aus sie zugefahren komme. Sie lässt mich dieses Manöver dreimal wiederholen, dann erst ist sie zufrieden mit der Aufnahme.

Der Helmcken Fall liegt nicht weit abseits unserer Route zum Clearwater Lake, also machen wir den kleinen Abstecher doch jetzt schon. Es scheint, als seien wir die einzigen Menschen in diesem großen Gebiet, denn gesehen haben wir weder andere Fahrzeuge noch Personen. Das wird sich vielleicht am Hotspot des Parks ändern, dem Wasserfall. Ich folge der Beschilderung, biege links ab und wir stellen LEMMY am Ende der Strecke auf einen verlassenen Parkplatz. Den Rest des Weges müssen wir laufen.

Das Rauschen des Helmcken Falls ist bereits zu hören und wird mit jedem Schritt lauter. Und dann sehen wir ihn endlich, alleine, niemand sonst ist hier. Die Wassermassen stürzen in eine Schlucht und die Gischt gefriert von unten nach oben. Ein weißes Band, der Clearwater River fließt durch die Bäume und ein nie enden wollender Strom ergießt sich in diesen runden Krater. Ab hier heißt der Fluss Murtle River. Wir bewundern eine Weile das Naturschauspiel, denn der Helmcken Fall ist wirklich einer der besonders schönen Wasserfälle.

Helmcken Fall – Wells Gray Provincial Park

Auf dem Trampelpfad wandern wir zum Auto und folgen der Straße zu unserem Ausgangspunkt. Jetzt ist die Zeit gekommen unser Tagesziel anzusteuern. Die Brücke liegt bereits weit hinter uns und die Clearwater Valley Road schlängelt sich nordwärts. Doch dann geht es nicht mehr weiter. Ein Schlagbaum versperrt uns den Weg. FUCK!

Hinter der gesperrten Straße türmt sich der Schnee. Ab hier wird offensichtlich nicht mehr geräumt. Jedenfalls jetzt noch nicht. Uns bleibt nichts anderes übrig als den ganzen Weg zurück zu fahren. Na was soll`s? So weit war es nun auch nicht, nur ein paar Kilometer. Jutta hat bereits eine Alternative parat, den Pyramid Campground. So wende ich also und wir fahren zurück, bis zu einem Hinweisschild, biegen links ab und folgen einer kleinen Piste in den Wald.

Kein Mensch ist hier. Registrieren müssen wir uns wieder selber. Jutta nimmt sich einen Umschlag für das Geld aus der Box an der Infotafel und dann verschaffen wir uns einen ersten Überblick. Ich fahre einmal im Kreis um den gesamten Platz. Wir sind alleine. Drei Stellplätze fallen in die engere Wahl, wir sind uns uneinig. Zuviel Auswahl ist nicht immer von Vorteil.

Der eine Platz ist etwas schräg, der Andere zu offen, wieder Einer hat die Feuerstelle nicht da, wo ich sie gerne hätte usw..

Wir entscheiden uns für einen Platz weit hinten, an dem wir ein wohliges Gefühl haben. Etwas Feuerholz liegt schon bereit und wir haben genug Abstand zu den nächsten Stellplätzen, was eigentlich völlig egal ist, da wir die einzigen Camper hier sind.

Nachdem LEMMY perfekt steht, plündere ich benachbarte Feuerstellen. In mir steckt wohl doch noch etwas von meinen wilden Vorfahren, den Wikingern. Es ist jetzt schon recht kühl, da wird uns das Feuer heute Abend ausreichend Wärme spenden. Jutta tütet einige kleine Dollarscheine in den Umschlag ein und spaziert über den weitläufigen Platz zur Selfregistration. Ich haue mich eine Stunde aufs Ohr. Heute war ein langer Fahrtag.

Beim Abendbrot hören wir Motorengeräusche. Dreht der Ranger seine Runde? Neugierig stürmen wir ans Fenster, versuchen unauffällig rauszuschauen. Zwei helle Lichtkegel kommen näher, bahnen sich einen Weg durch die Dunkelheit. „Das ist ein großes Auto!“, stelle ich fest. „Der Ranger ist das nicht, die fahren immer Pickups.“ Da kommt ein Leihcamper und stellt sich ausgerechnet auf den Nachbarplatz.

Wahrscheinlich sind sie froh nicht ganz alleine hier draußen zu sein.

Wir essen zu Ende, räumen ab und dann kümmere ich mich mal um das Lagerfeuer. Gesehen haben wir unsere neuen Nachbarn noch nicht. Das geplünderte Holz und das, was ich aus dem Wald gesammelt habe, sollte für einige Stunden reichen.

Ich spalte noch einige zu groß geratene Scheite mit meiner Axt in etwas gefälligere Stücke und kürze zu lange Stämme, die in der Nähe rumlagen.

Mit dem selbstgemachtem Anmachholz und etwas Bierkarton brauche ich selten mehr als einen Streichholz, um das Feuer in Gang zu bekommen. Als die Flammen sich gerade entwickeln und ich größere Stücke nachlegen will, höre ich Stimmen und Schritte auf mich zukommen. Na, wer kann das wohl sein?

Ich schaue vom Feuer auf und sehe ein junges Pärchen vor mir im Lichtschein unserer Außenbeleuchtung. „Hallo!“, sagen beide gleichzeitig. „Wir wollten mal fragen, ob wir uns mit zu euch ans Feuer setzen dürfen? Wir sind noch nicht so geübt mit Lagerfeuer machen!“, fährt sie fort. „Wir können auch ein paar Bier und etwas von unserem Feuerholz mitbringen!“, stimmt er ein.

Ich erhebe mich aus meiner gehockten Position und sage: „Selbstverständlich, herzlich willkommen!“ Dann rufe ich Jutta im Auto zu: „Jutta, wir haben heute Gäste!“

Sie stellen sich als Jana und Marcel vor. Jutta ist mittlerweile aus der Kabine gekommen und nachdem wir nun bekannt geworden sind, holen die Beiden ihre Stühle, einen Karton mit Bier und etwas von ihrem Feuerholz zu uns rüber. Das trockene, gekaufte Bündel ist besonders in der Anzündphase besser geeignet, als das feuchte, im Wald liegende Holz.

Mit dicken Pullovern machen wir es uns in den Stühlen bequem, mit einem Fell unter dem Hintern und im Rücken und einer Wolldecke über den Beinen. Sie haben sich tatsächlich sehr gefreut, als sie uns hier haben stehen sehen. Und besonders, dass wir aus Deutschland kommen. LEMMY ist ihnen sofort als ungewöhnlich aufgefallen und beim Blick auf das Kennzeichen war dann alles klar.

Somewhere on the road to the Wells Gray P. P.

Sie kommen aus Braunschweig und sind für drei Wochen in Kanada unterwegs, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Ihre Route geht von Calgary über den Icefields Parkway (den sie bereits hinter sich haben), dann über Jasper und den Wells Gray Provincial Park nach Vancouver Island und schließlich nach Vancouver um den Camper abzugeben und heimzufliegen.

Wir unterhalten uns prächtig, obwohl Jutta und ich wohl mindestens doppelt so alt sind wie Jana und Marcel. Die Chemie stimmt und wir sind uns sehr sympathisch. Unsere ersten beiden Kanadareisen haben wir ebenfalls mit so einem Leihmobil absolviert. Jetzt reden wir aber mehr über die aktuelle Reise und tauschen Insiderinformationen aus, z. B. wo Jutta und ich auf Vancouver Island gestanden haben, denn diese Information steht sicher nicht in einem herkömmlichen Reiseführer. Sie berichten uns von enormen Schneemassen auf dem Parkway und dass noch sehr viele Nebenpässe und Campgrounds gesperrt sind. Die Hauptstrecke sei aber geräumt.

Auch Privates und Berufliches wird bequatscht und zwischendurch muss ich gelegentlich Holz nachlegen, die ein und andere Pinkelpause machen und Bier aus dem Kühlschrank holen. Mein Bier muss immer eiskalt sein, so mag ich es am liebsten. In einer Bar in Singapore, in der ich mal war, wurde das Bier vom Barkeeper direkt aus einer Eismasse unter dem Glas Tresen serviert. „To cold to hold!“, stand da geschrieben. Zum Glück habe ich allzeit einen Beercooler dabei, der erstens das Bier auch bei 30° und mehr kalt hält und zweitens die Finger warm. Mit so einem Neopren-Beercooler fühlt sich die Flasche/Dose auch schön griffig an, das gefällt mir. Hier ist es leider weit entfernt von 30° Celsius und wir rücken näher ans Feuer. Marcel fotografiert auch viel und fast professionell. Wir tauschen unsere Instagram Accounts aus und folgen einander ab jetzt. So können wir auch unterwegs in Kontakt bleiben und uns auf dem Laufenden halten oder bei Problemen nachfragen.

Warum sie jetzt, so früh in der Saison schon auf Reisen sind, will ich wissen. Die Ferien haben doch noch lange nicht angefangen. „Weil wir jetzt Zeit haben und es nicht so voll ist. Außerdem ist es günstiger als in der Hauptsaison, sowohl die Flüge als auch die RVs.“

Das im Mai allerdings noch so viele Plätze geschlossen haben, das hat auch Jutta und mich überrascht. Marcel hat sogar bei dem RV-Verleiher nachgefragt, wo sie denn Campen sollen, wenn die meisten Plätze noch zu sind. Das wisse er auch nicht, wild campen sei jedenfalls verboten, hat er nur gesagt. Wir lachen uns alle kaputt darüber, denn irgendwie geht es ja doch immer. Als Jutta hört, dass die Beiden hauptsächlich mit der Park4Night App recherchiert haben, zeigt sie die IOverlander App. Marcel und Jana sind ganz begeistert, weil dort so viel mehr Stellplätze eingetragen sind. Sie ärgern sich ein bisschen, diese App nicht schon vorher gekannt und benutzt zu haben.

Morgen werden sich unsere Wege leider schon trennen, denn Marcel und Jana fahren weiter nach Westen. Unser Ziel wird der „Mount Robson Provincial Park“ sein, denken wir jedenfalls jetzt noch. Nach einigen Stunden am Lagerfeuer mit tollen Gesprächen und einem netten Paar geht der Holzvorrat langsam zur Neige. Wir verabreden, uns eventuell auf dem Reload Festival im August `22 in Sulingen zu treffen. Aber vorher verabschieden wir uns natürlich noch, nach dem Frühstück morgen früh.

Am späten Vormittag ist ,wie üblich, alles schnell verstaut, so dass jetzt nur noch der Abschied ansteht. Marcel und Jana waren etwas flotter fertig als wir und kommen gerade rüber zu uns, während ich in den letzten Zügen bin und gerade alle Klappen verschließe. „Hey moin!“, begrüße ich die Beiden. „Guten Morgen!“, sagen sie. Na, habt ihr gut geschlafen?“, fragt Jana. Jutta lugt zur Tür raus: „Guten Morgen!“

„Klar, hab geschlafen wie ein Baby.“, antworte ich. „Hatten ja ein paar schöne kleine Schlummertrünke.“

Dann geht es ans Umarmen und wir geben uns gegenseitig gute Wünsche mit auf den Weg. Die Tagesetappe von beiden Teams wird noch kurz erörtert und nun winken wir ihnen hinterher, bevor wir ein paar Minuten später selber den Pyramid Campingplatz verlassen. Noch immer sind alle Plätze unbesetzt und der große Run wird wohl noch ein paar Tage auf sich warten lassen oder gar Wochen?

Zunächst geht es wieder zurück nach Clearwater, den Weg nehmen auch Marcel und Jana, dort werden wir links abbiegen nach Nordosten. Marcel und Jana fahren noch eine ganze Weile weiter nach Süden, bis Kamloops und ab da auf die `99 in den Westen, den wunderschönen Sea to Sky Hwy. entlang.

Für uns geht es weiter in die verschneiten Rockies, die Berge werden höher und die Wolken hängen tief. Der Mount Robson ist mit 3954 Metern der höchste Berg der kanadischen Rocky Mountains, aber leider erkennen wir nur unten das Massiv, der Gipfel bleibt verborgen hinter dichten Wolken. Wir sind kurz davor die Landesgrenze von B.C. nach Alberta zu überqueren und damit auch eine Zeitzone, das wollten wir aber eigentlich erst morgen machen.

Mt. Robson

Der Mt. Robson Provincial Park ist geschlossen, ebenso das Visitor Center. Wir schauen noch nach einem Campingplatz auf der anderen Seite der Straße. Geschlossen! Als wir etwas abseits der Hauptstraße nach einem netten Ort zum Freistehen suchen, finden wir keine Stelle, die uns begeistert. Aber dafür erleben wir eine weitere Bärensichtung. Ein junger Schwarzbär ist auf Futtersuche und nimmt nur kurz Notiz von uns, bis er sich wieder seiner Beschäftigung widmet.

„Ach komm, wir fahren heute noch nach Alberta in den Jasper National Park. Da verlieren wir dann eine Stunde vom Tag, aber was soll´s? Verloren geht die Stunde morgen auch.“ Jutta überlegt kurz und sagt dann: „Na gut, wenn es dir nicht zu viel mit Fahren wird.“ Ich schaue rüber zu ihr und mein Blick sagt wohl alles. Ohne Worte versteht sie, dass es mir fast nie zu viel wird hinter dem Lenkrad. 363 Kilometer und etwas über vier Stunden in so einem Panorama zu fahren ist ein Vergnügen, selbst wenn das Wetter nicht perfekt ist. Ich freue mich auch den Ort Jasper wiederzusehen und den Whistlers Campground, denn der ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Dort fühlte ich mich damals schon ähnlich wie in Twin Peaks, in diesem dichten urwüchsigem Wald, wo der Wind nur so durch die Bäume rauscht und Bobs Gegenwart physisch spürbar ist.

Höchster Berg in Canada (3954 m)

Mir fällt auch wieder ein, dass wir unsere Uhren nicht sofort umgestellt hatten und später geriet es in Vergessenheit. Nach einem Kneipenbesuch in Jasper kamen wir dann eine Stunde zu spät zurück auf den Campingplatz, hatten aber Glück, denn die Schranke war noch nicht geschlossen. Eigentlich hätten wir nach 22:00 Uhr nicht mehr auf dem Platz fahren dürfen. Es war 23:00 durch und seit über einer Stunde Nachtruhe. Dabei wollte ich nur kurz auf zwei Bier und `ne Runde Billard unter Leute in eine Musicbar. War einfach mal nötig nach langer Zeit in den Wäldern.

Jetzt heißt es „Bye Bye British Columbia!“ und „Welcome to Alberta!“

In den kanadischen Nationalparks ist es wie in den der USA, man braucht einen Pass, um dort reinzukommen. Das gilt nicht für die Wilderness- , Nature oder Provincial Parks. Jetzt stehen aber gleich zwei Nationalparks an, der Jasper N.P. und der Banff N. P. Glücklicherweise kamen wir am Lagerfeuer gestern Nacht mit Jana und Marcel auf genau diesen Pass zu sprechen. Sie hatten sich den Jahrespass für ca. 140 Dollar gekauft, brauchen ihn aber jetzt nicht mehr. Für 70 Dollar haben sie ihn uns überlassen. Kritiker können uns jetzt vorwerfen, dass die Gebühr für den Erhalt der Wälder genutzt wird und sie haben Recht damit. Aus Eigennutz, um Geld zu sparen haben wir diesen Deal trotzdem gemacht. Manchmal glaube ich, wir sind unbelehrbar.

Eine halbe Stunde später kommt der Checkpoint. Schilder weisen darauf hin die Geschwindigkeit zu drosseln und in einem Häuschen in der Mitte der Spuren lächelt mich eine Rangerin durch ein offenes Fenster an. Ich greife zum Spiegel im Auto, da hängt der N.P. Pass, aber die Dame im Häuschen winkt ab. „I`ve seen your Pass already, have a great time in Alberta!“

Wenig später stehen wir an einer Kreuzung. Links geht es nach Jasper in den kleinen Ort, rechts geht es auf den legendären Icefields Parkway und vorher zum Whistlers Campground. Wir wollen einchecken auf dem Campingplatz und dann Feierabend machen für heute.

Wenigstens ist hier was los und auch andere Camper sind da. Aber es sieht irgendwie alles total anders aus als damals. Kann einem das Gedächtnis so einen Streich spielen? Ich zweifle an mir selbst. Sind wir überhaupt richtig hier? Wo sind die ganzen Bäume hin? Wir stehen auf einem riesigen Parkplatz und das Check In – Gebäude ist auf jeden Fall neu. Drinnen ist nicht viel los, zwei von fünf Countern sind besetzt. Wir kommen direkt dran und sprechen mit einem Mann hinter Glas, der uns eine Karte vom riesigen Camping Areal vorlegt. Wir sprechen kurz über unsere Wünsche, wie z. B. nicht so dicht am Waschraum, mit oder ohne Strom, naturnah und abseits gelegen usw.. Wir kennen das. Er markiert für uns relevante Sites und wir entscheiden uns. Dann macht er noch einen Kreis um die Feuerholzstelle. Wir dürfen nehmen soviel wir wollen, aber nur was wir hier verbrauchen werden. Das Mitnehmen von Feuerholz in andere Parks ist streng verboten.

Drei Tage wollen wir schon bleiben, ich reiche dem Mann hinter der Scheibe meine Kreditkarte und dann suchen wir unseren Platz. Jutta navigiert mich und ich frage sie, ob ihr das auch so fremd vorkommt. Sie hat diesen Ort auch ganz anders in Erinnerung. „Hier war doch alles voller Bäume, ich weiß es noch als wäre es gestern. Wir sind durch eine Schranke gefahren und dann einen schmalen Weg in den Wald hinein. Die Bäume waren so dicht, dass man seine Nachbarn kaum sehen konnte.“, bemerke ich. Wir kurven etwas herum, die Orientierung fällt leicht mit der Map und den nummerierten Plätzen und dann finden wir unsere Site. Sie ist wie gewünscht etwas abseits, mit viel Platz und einer tollen Aussicht auf nahegelegene Berge. Aber wo sind die ganzen Bäume hin? Früher konnten wir den Himmel über uns kaum sehen, geschweige denn die Berge um uns herum.

Whistlers Campground – Jasper National Park

Haben sie hier einen Kahlschlag gemacht, um mehr Leute zu beherbergen und den Gewinn zu steigern? Das kann ich mir so gar nicht vorstellen, das entspricht nicht meinem Bild von Canada.

Trotz der ersten Irritationen sind wir sehr zufrieden mit unserer Wahl. Auf dem Weg haben wir uns Feuerholz, von der auf der Map markierten Stelle, mitgenommen. Der Berg bestehend aus gehackten Scheiten hatte das gefühltes Volumen des Matterhorns, wirklich unglaublich. Ich lade ein was geht. Auch der Fußraum vorm Beifahrersitz wird so voll beladen, dass Jutta gerade noch reinpasst. Schließlich bleiben wir mindestens drei Tage.

Heute läuft nicht mehr viel, ich kümmere mich um das Lagerfeuer, Jutta zaubert noch was Leckeres zu Essen und zum Abschluss gibt es noch eine schöne Doku, die ich vor einer Weile bei Netflix runtergeladen habe: „Desert Coffee“. Unsere zwei Plätze weiter stehenden Nachbarn haben wir kurz zuvor flüchtig begrüßt, als sie bei uns vorbeigegangen sind. Sie scheinen nette Leute zu sein und sich für unser Auto zu interessieren. Jedenfalls wirkte es so auf mich, als sie winkend zu uns rüber sahen, während sie sich unterhielten.

Morgen wird ein aufschlussreicher Tag. Wir werden einiges über die Untoten von Vancouver erfahren und auch etwas über den Mountain Pine Beetle.

Heute Nacht erfahre ich auch noch etwas, und zwar, wo das Aussteigercamp in der Wüste Kaliforniens liegt, in die ich unbedingt wollte, aber deren Name mir nicht mehr eingefallen ist. Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich da unbedingt hin wollte und woher ich die Inspiration dafür hatte.

Aus einer Doku die ich vor Jahren gesehen habe. Sie trug den Titel „Desert Coffee“……

„FUCK!!!“

Ich fluche und schimpfe und ärgere mich über mich selbst, weil ich in Kalifornien zu blöd war, rauszufinden wo diese scheiß Wüste genau ist, bzw. wie der Ort heißt, wo sich das Camp befindet. Ich wusste genau, dass ich mal im Fernsehen eine Doku über Leute, die in der Wüste leben, gesehen hatte. Es hieß es sei „The Last Free Place Of America“. Aber mir fiel der Titel der Dokumentation nicht mehr ein. Ich wusste nichts mehr, nur eins: „Da musst du eines Tages hin!“ Jetzt bin ich schlauer, Slab City heißt dieser Ort.

Zuhause, bei der Planung der Amerikatour, dachte ich dann noch etwas überheblich: „Ach, das wird sich schon ergeben unterwegs, das wird nicht so schwer zu finden sein“. Pustekuchen! Wir hätten Rob und seinen Coffeeshop kennenlernen können und einige der schrägen Menschen, die dort leben. Es sind Outlaws, Freigeister, Drogenabhängige, Musiker, Künstler und Überlebenskünstler. Einige sind in Rente und woanders reicht das Geld nicht zum Überleben, hier schon. Man zahlt hier keine Mieten oder Pacht. Hier stellt man seinen Caravan ab und steht frei, kostenlos.

Am Wochenende wären wir gemeinsam mit ihnen feiern gegangen in Slab City, morgens hätten wir unseren Kaffee bei Rob getrunken. Wir hätten sie live erleben können, „off stage“ und „on stage“. Und jetzt, in diesem Augenblick, als ich auf meine Map schaue, sehe ich wie nah wir Slab City waren. Luftlinie mögen es etwa 35 Meilen sein, auf der Straße ca. 85 Miles. Wir sind nachts wegen Dieselmangels in Desert Center gestrandet, alte Geschichte, ihr habt es bereits gelesen.

Slab City ist direkt südlich von Desert Center, neben dem Salton Sea, an dem wir auch schon waren (2011), aber damals wusste ich nichts vom letzten freien Ort Amerikas. Ich könnte mich vor Wut in den Arsch beißen, aber Jutta versucht mich zu beruhigen: „Hör mal, dann haben wir doch noch einen Grund mehr, hierher zurück zu kommen!“ Damit hat sie mich und ich komme wieder etwas runter. Dann gehen wir schlafen.

Beim Frühstück ärgere ich mich noch kurz über die verpasste Gelegenheit, im März in der kalifornischen Wüste bei Slab City gestanden zu haben und einige der interessanten Leute aus der Doku persönlich zu treffen. Doch beim Blick aus dem Fenster vergeht mein Frust von gestern und ich freue mich auf den heutigen Tag, der schön zu werden verspricht.

„Ich fange heute mein neues Buch an, das ich von dir zu Weihnachten bekommen habe!“, sage ich zu Jutta. Eigentlich ist es von ihren Eltern, aber Jutta hat es natürlich ausgesucht.

„Oh, tatsächlich?“, stellt sie fest. „Du hast ja schon ewig nicht mehr gelesen!“

„Ich weiß, aber jetzt habe ich Lust dazu und setze mich mit dem zweiten Kaffee schon nach draußen und mache mir das Feuer an.“ Sie schaut ernst rüber zu mir: „Aber vorher wird abgeräumt, klar?“ Ihr Blick duldet keinen Widerspruch. Ich will nichts Falsches sagen.„Selbstverständlich, das hatte ich sowieso gerade vor!“

Nachdem ich alles im Kühlschrank verstaut und den Tisch abgewischt habe, schnappe ich mir das Buch aus meiner Schublade, den zweiten Kaffee und lege draußen alles bereit. Das Feuer kostet mich nur ein paar Augenblicke, dann mache ich es mir in meinem Campingstuhl bequem.

Norman & Nicole, unsere Nachbarn

Ich schlage das Buch auf und ein kleines Pappkärtchen fällt raus. Es ist beidseitig bedruckt mit fast nackten Frauen. Melody auf der einen Seite, Mary auf der anderen. Telefonnummern sind auch dabei. Mir fällt der Mexikaner in Las Vegas ein, der mir auf dem Strip einen kleinen Stapel von diesen Kärtchen in die Hand gedrückt hat. Ich muss grinsen. Sind doch super Lesezeichen! Iich wusste vorher, dass ich mich irgendwann darüber freuen werde, wenn sie unerwartet auftauchen.

Ich stecke die Karte weiter hinten in das Buch, wo sie mir nicht dauernd rausfällt und fange an zu lesen: “Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit – Mai Thi Nguyen-Kim.

„Leg mal Holz nach, es qualmt ja fast nur noch!“, vernehme ich von innen durch das geöffnete Fenster. „Jaja, mach ich schon, das Buch ist voll geil. Mai schreibt super unterhaltsam!“, antworte ich.

Tatsächlich habe ich die ersten beiden Kapitel verschlungen, denn das sind auch Themen, die mich faszinieren. Mai Thi Nguyen-Kim ist Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin, ich kenne sie bereits aus dem Format „maiLab“.

In den ersten zwei Kapiteln geht es um die Legalisierung von Drogen und dem Zusammenhang zwischen Videospielen und Gewalt. Das alles wird wissenschaftlich geprüft und von Mai äußerst unterhaltsam und aufschlussreich erklärt. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich schmunzeln muss beim Lesen. Ich finde mich auch wieder in dem, was sie schreibt: „Das hab ich doch immer schon gesagt!“, oder „Wusste ich doch genau, das es so ist!“

Ich lege etwas Holz nach, steige um auf Tee, den ich mit einem Kessel auf dem Feuer zubereite und beginne mit dem dritten Kapitel: Gender Pay Gap – Die unerklärlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

Whistlers Campground

Irgendwann nehme ich ein Rascheln neben mir wahr und blicke mich fragend um. Eine Familie Wapitis grast relativ dicht neben unserem Platz, zwei große Tiere und drei kleine Kälber. Ich rufe so leise wie möglich und so laut wie nötig: „Juttaaa, guck mal aus dem Fenster!“ Sie liest drinnen auf dem Sofa und schaut raus zu mir. Ich deute mit der Hand in die Richtung, wo sich die grasenden Wapitis tummeln. Jutta kommt leise raus und setzt sich zu mir ans Feuer.

Ein fantastischer Tag hat begonnen.

Um mich etwas zu bewegen, sammle ich ein wenig rumliegendes Holz ein. Die Matterhornsammelstelle ist zu weit weg zum Laufen und ohne Einkaufswagen oder einer Schubkarre wäre es nicht möglich genug Holz zu holen, damit sich der Gang lohnt.

Es geht auf Mittag zu und unsere beiden Nachbarn kommen wieder auf dem Weg zu ihrem Caravan an unserem Platz vorbei. Sie grüßen uns vom Weg aus, bleiben stehen und zeigen auf LEMMY: „What a nice car! Where are you come from?“

„Oh yeah, thank you. We`re from Germany!“ Dann legt Jutta ihr Buch beiseite, ich schmeiße mein gesammeltes Holz neben die Feuerstelle und wir lernen Norman und Nicole kennen. Wir plaudern etwas und nach ein paar Minuten erhalten wir eine Einladung für den heutigen Abend bei ihnen am Lagerfeuer. „After Dinner?“

“ Yes sure, why not? See you later.“

Für uns geht der Tag total entspannt weiter. Die meiste Zeit verbringen wir draußen. Ich beginne noch ein weiteres Kapitel aus meinem Buch: Big Pharma vs. Alternative Medizin, dann essen wir einen Happen, werden müde und gönnen uns einen Mittagsschlaf. Vor unserer Verabredung genehmigen wir uns einen Kaffee und etwas Gebäck. In Kamloops haben wir uns gut versorgt, sollten wir einschneien, so könnten wir bestimmt zwei Wochen locker ausharren ohne zu verhungern.

Nach dem Abendessen packe ich ein paar Bier ein, obwohl Norman vorhin schon erwähnt hat, er habe einige leckere Biere kaltgestellt. Ich möchte allerdings nicht mit leeren Händen erscheinen. Jutta nimmt eine Flasche Rotwein mit. Norman ist bereits dabei sein Lagerfeuer in Gang zu bringen und Nicole sitzt neben ihm.

Ich fasse es kurz zusammen: Wir erleben einen großartigen Abend mit zwei tollen Menschen.

Zu Besuch bei Norm and Nicole

Sympathisch waren wir uns schon von Anfang an, aber jetzt lernen wir uns noch viel besser kennen. Sie wollen natürlich alles über unsere Reise wissen, über LEMMY, die Verschiffung, die Route und auch die Fragen : „Wo war es am Schönsten?“ und „Haben wir etwas Gefährliches erlebt?“ bleiben nicht aus. Wir erzählen bereitwillig und gerne, sie hören gespannt zu und stellen weitere Fragen. Hier sitzen wir nun zu viert am Lagerfeuer, Camper unter sich. Denn auch sie lieben es schon ihr Leben lang draußen in der Natur zu sein.

Dann erfahren wir auch Einiges über Norman und Nicole. Er kommt ursprünglich aus Quebec und sprach damals nur französisch. Nicole stammt aus Vancouver und mittlerweile leben sie gemeinsam in Prince George in B.C.. Sie sind bereits in Rente und fahren gerne mehrmals im Jahr zum Campen. Auch hier im Jasper N. P. waren sie schon häufig. Norm, wie Nicole ihren Mann nennt, musste der Liebe wegen von der Ostküste nach Vancouver ziehen und erstmal Englisch lernen. Ich erzähle von unserem ersten Besuch 2004 auf diesem Campground und das ich ihn kaum wiedererkannt habe, so kahl wie es aktuell aussieht. Dann frage ich, wo die ganzen Bäume geblieben sind. Norms eben noch fröhliche Erscheinung, immer mit einem Lächeln im Gesicht, verändert sich schlagartig. Es ist bereits dunkel, noch bei Tageslicht hat dieser Abend begonnen. Doch im Licht des Feuers verfolge ich, wie sich seine Miene verfinstert. Dann berichtet er uns vom „Mountain Pine Beetle“, einem Borkenkäfer (bei uns bekannt als schwarzer Bergkiefer – Käfer), der verheerend gewütet hat.

Der Borkenkäfer befällt hauptsächlich die Drehkiefer. Schon in den 90er Jahren gab es durch warme Winter starken Befall. Innerhalb von nur 10 Jahren bis Ende 2008 sind dem Bergkiefernkäfer knapp 620 Mio. m³ Drehkiefern-Stämme zum Opfer gefallen. In den letzten Jahren hat sich die Lage leider nicht verbessert und jetzt sind nach den geschwächten kommerziell genutzten Wäldern auch die Nationalparks betroffen. Überall unterwegs konnten wir abgestorbene Bäume sehen, aber hier im Jasper Nationalpark ist es uns besonders aufgefallen.

Wir können den Beiden ansehen, wie sehr sie diese Tatsache deprimiert und auch für uns fühlt es sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Das ist natürlich auch eine Erklärung dafür, dass man kein Feuerholz von einem Park zum Nächsten mitnehmen darf. Man könnte Schädlinge zu einer Gratisfahrt einladen und über weite Strecken transportieren. In Gegenden, wo sie noch nicht ihr Unheil treiben. Wow, das hat erstmal gesessen. Ich brauche eine Pinkelpause und gehe kurz zu uns rüber. Dann nehme ich erneut ein paar Dosen Bier mit und gehe zurück. Norm hat vor allem Craftbiere im Angebot, die mag ich nicht so sehr.

Als ich wieder in der Runde ankomme schlägt Nicole vor, dass wir uns ihren Caravan mal von innen ansehen können. Ich halte es für eine gute Idee, so kommen wir auch von dem deprimierenden Thema des Waldsterbens weg. Das Teil ist riesig und mit allem ausgestattet, was man sich nur wünschen kann. In den Kühlschrank passt eine Schweinehälfte und ne Kiste Bier. Das Sofa ist aus Leder und es trägt zurecht den Namen Sofa. Bei uns ist es eher eine Bank mit Polsterauflage. Auch das Bad und der Schlafbereich sind überaus komfortabel, fast luxuriös. Trotzdem würden wir nicht tauschen wollen, wir haben unterschiedliche Reisephilosophien. Beeindruckt begeben wir uns wieder nach draußen in die Nacht. Norm füttert das Feuer, ich biete ihm eins von meinen Bieren an und wir kommen zum nächsten ernsten Thema.

Da Norman und Nicole lange in Vancouver gelebt haben, komme ich nicht umhin nach den Untoten in der East Hastings Street zu fragen. Ich erzähle ihnen, dass wir vor fast 20 Jahren auch dort waren und es als ein „normales“ Problemviertel wahrgenommen haben, wie es sie vielfach in fast allen Metropolen der Welt gibt. Aber was wir vor wenigen Wochen dort gesehen haben, das war einzigartig und unvorstellbar bedrückend.

Tolle Nacht mit neuen Freunden

Auch über dieses traurige Kapitel wissen sie etwas zu berichten.

Bei diesem Thema übernimmt Nicole den Versuch einer Erklärung. Ich bemühe mich, es ebenso gut wiederzugeben, wie ich es verstehe. Ergänzt habe ich es mit einigen Informationen aus dem Netz (https://604now.com/vancouver-downtown-eastside). Es sei wie überall, wo sich Junkies treffen, da gibt es eine Nachfrage und entsprechend auch ein Angebot. Es begann schon in den 70er Jahren, als einige psychiatrischen Einrichtungen der Stadt, aufgrund fehlender öffentlicher Gelder, geschlossen wurden. Die Menschen mussten irgendwohin und in der langsam zerbröckelnden Eastside war Wohnraum erschwinglich, was auch Leute mit niedrigem Einkommen anzog. Dann kam 1986 die Expo nach Vancouver. Das zog viele Touristen an und hatte eine fatale Auswirkung auf die Einheimischen in den günstigen Wohnhotels. Sie mussten weichen. Von Februar bis April ’86 wurden 800 – 1000 Räumungen durchgeführt, damit Platz für solvente Touristen und Kunden, der sich ausbreitenden Geschäfte entsteht. Viele wussten nun nicht mehr wohin und landeten so auf der Straße.

Der Anziehungspunkt wurde größer und größer, doch eine Strategie gegenzusteuern hatte man (noch) nicht. Es kamen immer mehr Süchtige nach Vancouver, aus allen Teilen des Landes, aus allen Teilen der Welt. Der Drogenhandel gedieh prächtig, besonders in den ’90er Jahren, als zum Heroin immer mehr Kokain die Straßen überflutete. Und eines Tages hatte Vancouver die Kontrolle komplett verloren. So entstand schleichend eine Kolonie der Untoten in einer der faszinierendsten Städte der Welt. 1997 wurde in Downtown Eastside ein Gesundheitsnotstand ausgerufen. HIV, Hepatitis C und andere durch Blut übertragbare Krankheiten breiteten sich aus, denn viele Süchtige teilten ihre Nadeln untereinander.

So konnte es nicht weiter gehen, also entstanden Programme und verschiedene Initiativen wurden ins Leben gerufen, um die Not etwas zu mildern. Ein Weg war beispielsweise das „InSite“ Programm, das es Drogensüchtigen ermöglichte, legal Heroin zu spritzen. Sie bekamen kostenlos saubere Spritzen von Krankenschwestern in einem hauseigenen Reha Zentrum.

Dann erfahren wir noch, dass seit einigen Jahren Fentanyl auf dem Vormarsch ist und Kanada und der Nachbar USA damit zu kämpfen haben. Dieses Opioid soll 100 mal stärker sein als Morphium und ist eigentlich ein Schmerzmittel. Mir kommen wieder Bilder in den Kopf, von den planlos umher wandelnden Menschen, von den kopfüber abgetauchten, deren Hintern in den Himmel ragt und deren Kopf zwischen den Knieen baumelt.

Mannomann, wieder so ein Schlag in den Magen. Jetzt weiß ich gar nicht, wie ich die Kurve kriegen soll weiterzuschreiben.

Aber ich will es versuchen. Wir wollen uns nicht unterkriegen lassen und reden auch über viele erfreuliche Dinge. Wir switchen hin und her zwischen verschiedenen Themen, besonders oft geht es natürlich ums Reisen und Erfahrungen rund um den Globus.

Thema ist natürlich auch Alaska, dass wir es auf dieser Reise nicht schaffen werden, aber unbedingt nachholen, wenn wir die Pan Americana runter nach Südamerika fahren. „Dann müsst ihr uns unbedingt besuchen kommen!“, sagt Nicole. „Prince George liegt auf dem Weg und das sage ich nicht nur so dahin, das meine ich ernst!“

Ich kaufe es ihr ab, sie haut das nicht nur so raus aus Höflichkeit. Norm stimmt mit ein: „Ja, dann MÜSST ihr uns besuchen!“ wieder mit seinem vertrauten Lächeln im Gesicht. Das ist echt, sie meinen es ernst.

So beschließen wir dann diesen wundervollen Abend mit neuen und eindrucksvollen Begegnungen, wie sie (fast) nur auf Reisen zustande kommen. Morgen im Laufe des Tages werden wir Adressen und Emaildaten austauschen.

„What a beautiful day!“, denke ich mir auf dem kurzen Weg nach Hause. „War das nicht ein schöner Abend?“, frage ich Jutta. „Oh yes, it was amazing!“, sagt sie lächelnd und nimmt meine Hand.

Jutta legt sich schlafen, ich setze mir noch die Kopfhörer auf und nehme ein Kokanee aus dem Kühlschrank. Dann höre ich Danko Jones – Just a beautiful day – auf meinem Sofa. Zufrieden und im Einklang mit der ganzen Welt drehe ich die Lautstärke hoch….

Der nächste Tag beginnt ganz genauso fantastisch, wie der Gestrige. Mit Norm und Nicole tauschen wir, wie verabredet, unsere Adressen aus, beobachten die umherstreifenden Wapitis, lesen und faulenzen. Abends ruiniere ich beim Outdoorcooking auf dem Feuer unsere beiden Kochtöpfe, weil ich die Hitze unterschätze. Ich schmelze die beiden Klappgriffe aus Kunststoff, aber egal. Die nächsten Töpfe werden feuerfest sein.

Outdoor cooking
Noodles, Vegetables & Fleischersatz

Mit gemischten Gefühlen verlassen wir Whistlers Campground, traurig über das Sterben der Bäume, glücklich über die Bekanntschaft mit Norman und Nicole. Next Destination: Athabasca Gletscher. Aber vorher werden wir noch Jasper besichtigen, durch den Maligne Canyon wandern, einen Grizzly sehen und den legendären Icefields Parkway befahren.

Wir beginnen mit dem nur wenige Minuten entferntem Jasper. Der Ort ist schnuckelig klein, hat aber auch Charme. Leider ist es wieder etwas bewölkt. Wir bummeln herum, nachdem ich einen Parkplatz gefunden habe und kaufen ein paar Kleinigkeiten ein. Ein Besuch im Souvenirshop muss auch sein. Jutta liebt es nach Mugs und Trinkflaschen zu stöbern und Taschen kann man schließlich auch nie genug haben.

Jasper Town

Nach dem kurzen Zwischenhalt geht es weiter zum Canyon. Wir fahren den Yellowhead Hwy. nach Norden. Norman und Nicole haben uns erzählt, man könne bei der „Sixth Bridge“ gut parken und von dort die Wanderung durch den Maligne Canyon starten. Genau das ist unser Plan. Auf dem Weg sehe ich gegenüber einen PKW am Straßenrand stehen. Das ist in der Regel ein Indiz für eine Tiersichtung, wenn es sich nicht um eine Panne handelt. „Guck mal da rüber, kannst du was erkennen?“, frage ich Jutta. „Ein Bär, ein Brauner!“, sagt sie. Ich gucke in den Rückspiegel und ziehe rüber auf die andere Straßenseite. Hinter dem PKW komme ich zum Stehen und dann sehe ich ihn auch. Ein großer, ausgewachsener Grizzly auf einer kleinen Anhöhe am Waldrand. Unser allererster Grizzly überhaupt. Im Internet haben wir geschaut, woran man einen Grizzly erkennen kann. Es gibt verschiedene Merkmale, wie z. B. einen kleinen Buckel hinter dem Kopf und die ausgeprägtere Schnauze. Dann ist da natürlich noch die beeindruckende Größe und die Farbe. Bei unserem Exemplar passt alles, das ist ein Grizzly. Wollen wir mal hoffen, so einem Bären nicht in freier Wildbahn zu begegnen.

Grizzly oben auf der Anhöhe

Freudestrahlend fahren wir zu unserem Ausgangspunkt für die Wanderung durch den Canyon. Leichter Nieselregen hat eingesetzt, aber das macht nichts. Wir packen unsere Regenjacken in die Rucksäcke und los geht es über die Sixth Bridge und entlang des Seitenarms des La Biche River. Bis zur Second Bridge überqueren wir auch die Fifth- Fourth- und Third- Bridge. Wir kommen vorbei an fließenden und an gefrorenen Wasserfällen. Mal führt uns der Pfad rauf und um uns herum bietet sich ein fantastisches Bergpanorama, dann geht es wieder runter und wir stehen an kristallklarem, eisigem Flusswasser. Wir fühlen uns ganz wohl auf diesem Trail, denn es sind auch andere Wanderer unterwegs.

Wären wir alleine in diesem Gebiet hätten wir eher ein mulmiges Gefühl, besonders nach der Grizzlybärensichtung vor wenigen Minuten. Remember: „You Are In Grizzly Bear Country!“ Schon manches Mal habe ich mich gefragt: „Was willst du eigentlich machen, wenn dich in der Wildnis ein Bär überrascht?“ Mit einem Schwarzbären könnte man eventuell noch fertig werden, mit einem großen Ast oder Ähnlichem als Waffe. Aber mit einem Grizzly?

Maligne Canyon Trail

Die erste Hälfte unserer Tour endet am Maligne Lookout. Nun müssen wir nur noch zurück zum Auto. Da das Wegenetz viel Abwechslung bietet, gehen wir (wenn möglich) andere Pfade als auf dem Hinweg. Angekommen an der Sixth Bridge, ohne weitere Bärenbegegnung, bereiten wir uns auf die nächste Etappe vor. Als erstes erleichtern wir uns von innerem und äußerem Ballast (Blase entleeren und dicke Klamotten ausziehen), dann packen wir uns ein paar Snacks für die Weiterfahrt ein und einige Softdrinks. Ich habe immer gerne etwas Icetea dabei.

Gut ausgestattet im Cockpit von LEMMY starten wir jetzt zu einem Highlight, auf das ich mich seit Wochen freue, dem legendären Icefields Parkway. Wir sind diese Strecke bereits einmal im Sommer 2004 gefahren und ich versuche mich nicht mit Superlativen zu überschlagen, denn es wird spektakulär. Das Panorama ist atemberaubend und hinter jeder Kurve bieten sich unglaubliche Ausblicke. Unser Tagesziel ist der Athabasca Gletscher, aber vorher halten wir am Athabasca Wasserfall, den haben wir damals ausgelassen.

Frozen Waterfall

Zunächst geht es zurück nach Jasper, um dann auf die `93 abzubiegen. Ab hier sind es nur etwas mehr als 100 Kilometer bis zum Gletscher. 100 Kilometer endlosen Staunens. Vorbei am Whistlers Campground entscheiden wir spontan die alte `93 A zu fahren, damals Haupt-, heute nur noch Nebenstrecke. Dieser Weg ist wesentlich schmaler und weniger befahren. Ich muss an ein Zitat von Walt Whitman denken: „Im Wald zwei Wege boten sich mir da. Ich ging den, der weniger betreten war.“ Ich liebe diesen Satz, den ich aus dem Film „Club der toten Dichter“ kenne. Inspiriert durch einen tollen Film machen wir es getreu nach Walt Whitmans Motto, nur das wir den Weg nicht betreten, sondern befahren.

Die alte Route `93 A endet ziemlich genau am Athabasca Fall und die Aussicht auf die umliegenden Berge ist nicht weniger sehenswert als die der Hauptroute. Gesperrt ist diese Strecke von November bis April und die Schranke ist oben, es ist ja bereits fast Mitte Mai. Der 233 km lange IFPW (Ice Fields Parkway) dürfte zu den Traumstraßen der Welt gehören und diese Panoramastrecke bietet in kurzen Abständen, ein Highlight nach dem Anderen.

Wir sind begeistert und beeindruckt, obwohl wir bereits hier waren und schon viel rumgekommen sind. Immer wieder muss ich anhalten, um Fotos zu machen oder einfach nur um den Augenblick zu genießen, in dieser bezaubernden Bergwelt. Ich muss mich zusammenreißen, nicht zu sehr ins Schwärmen zu geraten.

La Biche River

Die wenigen Abzweigungen der 93 A sind durch Schlagbäume gesperrt, aber einer ist offen, der zum Whirlpool Group Campground am La Biche River. Die Gelegenheit lassen wir uns nicht nehmen, um mal einen Blick zu riskieren, obwohl wir dort nicht übernachten wollen. Wir sind bloß neugierig. Der Campingplatz ist verlassen, aber möglich wäre es trotzdem unregistriert hier zu stehen. Einsam in grandioser Natur. Allerdings könnte es Ärger mit den Rangern geben, wenn sie kontrollieren kommen.

Unsere Fahrt geht weiter und endet dann schneller als erwartet. „Was ist das denn jetzt?“, sage ich entsetzt zu Jutta. „Siehst du das auch da vorne?“ Oh nein, scheint so als müssten wir umdrehen!“ Ich gehe vom Gas und schalte langsam runter. Wir nähern uns einer geschlossenen Schranke direkt vor uns. Dahinter hoher Schnee auf der ganzen Strecke, wie zuvor im Wells Gray Provincial Park. „Na was solls!“, sage ich ohne mich zu ärgern. „So haben wir jedenfalls ein gutes Teilstück der `93A gesehen und jetzt noch das Vergnügen den gesamten IFPW auf der Hauptroute zu fahren.“ Jutta stimmt mir zu: „Es gibt keine Umwege, der Weg ist das Ziel!“ Positiv gestimmt drehe ich um und freue mich tatsächlich über ein paar Extrameilen in dieser Kulisse.

Durch die verschneiten Rocky Mountains

Auf der Hauptstrecke ist schon etwas mehr Verkehr, aber nicht annähernd soviel, wie wir es aus dem Sommer 2004 gewohnt sind. Und wieder kommen wir aus dem Staunen nicht raus. Ein Gipfel ist schöner als der Andere und hinter jeder Kurve offenbaren sich neue, beeindruckende Ausblicke. Man kann sich nicht satt sehen an den Dreitausendern, es ist erstaunlich und kaum zu beschreiben. Jeder Berg ist besonders und die meisten haben wohl eine Höhe zwischen 3000 und 3500 Meter.

Die Rocky Mountains zeigen sich von ihrer schönsten Seite, überall liegt noch so viel Schnee. Davon können wir in Norddeutschland nur träumen. Ständig hören wir uns sagen: „Guck dir den an!“ oder „Hast du das gesehen?“

Panoramastraße Icefields Parkway

Dann fahren wir über eine Bergkuppe und das Spiel geht von vorne los: „Wahnsinn, schau mal da!“ Hinter der nächsten Kurve sehen wir denselben Berg und die Flanke sieht aus dieser Perspektive noch geiler aus als kurz zuvor. Manchmal sehen wir Mountain Goats, Schneeziegen an den Hängen der Berge oder auch auf der Straße. Wir halten Ausschau nach Grizzly- Braun- und Schwarzbären, haben damit leider bislang noch kein Glück. Aber egal, wir werden dermaßen verwöhnt mit grandiosen Landschaftsbildern, die für immer bleiben werden, die uns niemand nehmen kann.

Icefields Parkway – Alberta

Am Parkplatz des Athabasca Falls angekommen spazieren wir unter einigen anderen Touristen entlang des La Biche River zur Hauptattraktion, dem 23 Meter hohen Wasserfall. An verschiedenen Stellen gibt es Warnschilder, die auf nicht selten vorkommende Todesfälle hinweisen, weil Leute für das ultimative Foto die Absperrungen überschreiten und dann auf den glatten Steinen abrutschen und in die reißenden Fluten stürzen.

Es ist kalt und sehr bewölkt, aber immer mal wieder öffnet sich die Wolkendecke und die Sonne scheint für einen Augenblick hervor. In diesen Momenten sehen die schneebedeckten Berge noch fantastischer aus und ich versuche genau dann, mit einer guten Lichtstimmung meine Fotos zu schießen. Das klappt aber leider nicht immer, da ich kein Profifotograf bin und oft zu ungeduldig, um auf das richtige Licht zu warten. Nach diesem netten kleinen Abstecher machen wir uns auf den Weg zum Auto, um unser heutiges Tagesziel anzusteuern.

Dabei halten wir weiter gelegentlich an besonders schönen Aussichtspunkten, machen hier und dort einen weiteren kleinen Minitrail am Wegesrand und genießen die Sonne, die sich immer häufiger zeigt, je weiter die Nachmittagsstunde vorrückt. Auch der „Goats and Mountain Lookout“ wird nicht ausgelassen.

Umgeben von Dreieinhalbtausendern

Wir genießen jeden Kilometer, staunen hinter jeder Kurve und fragen uns, wie es sein kann, dass jeder weitere Berg uns dermaßen begeistert, als hätten wir so etwas nie zuvor gesehen. Eine Antwort darauf finden wir nicht. Aber soviel ist sicher, die Rocky Mountains sind purer Rock `n` Roll und dieser Weg ist auch beim zweiten Mal ebenso beeindruckend wie damals schon, vor fast 20 Jahren.

Den „Sunwapta Fall“ lassen wir aus, ein Wasserfall reicht uns für heute. Ich halte nur kurz am „Columbia Icefield Skywalk“, einer bogenförmigen Plattform mit Glasboden über einem schwindelerregenden 280 Meter hohen Abgrund. Wir finden den Eintrittspreis ganz schön happig und Jutta ist kein Fan von Höhe, schon gar nicht auf einem durchsichtigen Skywalk.

IFPW im Mai

Und dann sind wir auch schon angekommen. Ich parke auf dem riesigen Parkplatz vom „Jasper National Park Icefield Information Center. Der benachbarte Campingplatz ist noch geschlossen, also lassen wir es darauf ankommen und bleiben über Nacht, obwohl es eigentlich nicht gestattet ist. Wir sind auch nicht die einzigen Camper hier, ein Pickup mit Kabine steht etwas von uns entfernt und dann noch ein großes RV. Ansonsten parken nur einige PKWs hier, vermutlich Angestellte des Information Centers.

Jasper N. P. Icefield Information Center

Von meinem bewusst ausgewählten Stellplatz sehen wir den majestätischen Athabasca Glacier aus dem Fenster. Um uns herum türmt sich der Schnee zum Teil mehrere Meter hoch.

Athabasca Glacier

Einen schöneren Platz, umgeben von Dreitausendern, kann man sich kaum vorstellen und das auch noch völlig kostenlos. Es ist bereits später Nachmittag und wir machen`s uns gemütlich. Die Heizung wird aufgedreht, rein in die Jogginghose und der Abend kann beginnen. Wir lassen den Tag Revue passieren und sind einfach nur glücklich. Mag sein, das ich mich wiederhole, aber dann liegt es einfach daran, das es immer wieder passiert.

Für heute genügt uns der Blick aus dem Fenster, morgen früh wollen wir auf das Icefield und an den Gletscher wandern. Ein Ranger fährt mit seinem Pickup Truck an uns vorbei. Er sagt nichts, also wird es wohl in Ordnung sein, hier die Nacht zu verbringen.

Wir bereiten uns das Abendessen zu, unaufwendig und lecker soll es sein. Da bieten sich Cracker und Käse an, etwas Wein und Obst. Dazu schauen wir einen Film vom Tablet und werfen gelegentlich einen Blick aus dem Fenster. Es wird dunkel da draußen, aber der Vollmond taucht die schneebedeckten Gipfel in ein mystisches Licht, irgendwie nicht von dieser Welt.

Parkplatz am Information Center

Bevor wir zu Bett gehen, drehe ich noch eine Runde ums Auto, entleere den Peetank in einem Gully und genieße die eiskalte Nachtluft. Eine weiße Wolke strömt aus Mund und Nase beim Ausatmen. Jetzt sind nur noch wir drei Camper hier, alle Pkws haben den Platz verlassen. Ich spüre den eisigen Hauch des Gletschers. Was für eine wundervolle Stimmung hier oben herrscht, gerade in diesem Augenblick. Es ist so still. Es gibt nur mich, den Mond und die hohen Berge um mich herum. Sonst nichts. Ich weiß nicht genau, wie lange ich in diesem Zustand verharre, aber bald wird mir kalt und ich gehe wieder zurück in die kuschelige Kabine.

Die Nacht kommt über uns und ich schlafe unruhig. Im Traum irre ich durch den Schnee an einer imaginären Bergflanke. Ich bin alleine unterwegs und habe völlig die Orientierung verloren auf der Suche nach dem rechten Weg, finde ihn aber nicht….

Lost in my dreams….

Ich liege im Bett und will mich umdrehen, da rieche ich frisch aufgebrühten Kaffee. Träume ich immer noch? „Guten Morgen!“, begrüßt mich Jutta. „Morgen!“, antworte ich unausgeschlafen.

Der Tag beginnt mit viel Sonne und nur wenigen Wolken am blauen Himmel. Und mit reichlich Kaffee. Beim Frühstück besprechen wir den Tagesplan. Als erstes wollen wir auf den Gletscher gehen, danach fahren wir zum Peyto Lake, um wiederum eine Wanderung zum See zu machen. Dann steht Lake Louise auf dem Programm und der Touristenort Banff. Dort wollen wir auch die Nacht verbringen, wo genau ist allerdings noch nicht klar. Erste Wahl wäre eine Tankstelle im Ort. Ist ein Tipp aus dem Internet. Ansonsten gibt es verschiedene Campgrounds.

Wie klein wir sind, inmitten von Giganten!

Frühstück und „Washroom – Business“ ist erledigt, jetzt geht es rein in die ganz warmen Klamotten, inklusive lange Unterwäsche. Handschuhe, Schal, Mütze und die guten Wanderschuhe an, fertig ist der Gletscherlook.

1844 reichte der Gletscher noch bis zum Visitor Center und diesem Parkplatz, wo wir unsere Tour beginnen. Einmal über die Straße und schnurstracks Richtung Athabasca Glacier. In den Wanderschuhen fühlen wir uns wohl und haben einen sicheren Tritt. Irgendwie verliert sich der anfängliche Pfad etwas und ich wittere eine Abkürzung. „Guck mal da rüber!“, sage ich und zeige mit dem behandschuhten Finger nach schräg rechts vorne. „Wollen wir da nicht runter, dahinten ist ein Weg, der uns rauf zum Gletscher führt. Da laufen auch schon ein paar andere Leute, siehst du?“

„Na gut, wenn du meinst!“, erwidert Jutta.

Meine Idee stellt sich als etwas waghalsig heraus. Wir stolpern über Geröll, kleine Wasserläufe und große Schneeflächen. Zum Umkehren sind wir allerdings schon zu weit vorangekommen. Ich gehe vor und Jutta folgt mit Abstand. Manchmal muss ich etwas springen, um keine nassen Füße zu bekommen. Das das, was wir hier gerade machen ganz schön gefährlich ist, erfahre ich später auf dem richtigen Weg, der mit diversen Informationen flankiert ist und mit den Warnhinweisen vor Abstürzen in schneebedeckte Gletscherspalten. Wir kommen gesund und heile auf dem richtigen Pfad an, ohne verstauchte Füße und vor allem ohne in einer Spalte zu verschwinden.

Ist ja nochmal gut gegangen!

Die Wetterbedingungen sind perfekt. Die Sonne steigert die gute Laune, die dicken Sachen halten uns einigermaßen warm, solange wir in Bewegung bleiben. Einen deprimierenden Beigeschmack hat das Ganze allerdings schon, denn der Gletscher schmilzt, so wie alle anderen Gletscher auf der ganzen Welt auch. Und das wird mit farbigen Markern, auf denen jeweils eine Jahreszahl steht, sehr deutlich gemacht. Bis hierher reichte der Gletscher noch im Jahre 1992. Er verliert pro Jahr ca. 5 Meter. Für uns sieht es deshalb heute folgendermaßen aus, seit unserem letzten Besuch ist er um fast 100 Meter geschrumpft.

Wir erreichen eine Schutzhütte und ein Toilettenhäuschen. In der Hütte machen wir kurz Rast, um einem Moment dem Wind zu entkommen, dann geht es weiter. Der Aufstieg wird beschwerlicher und steiler. Dazu kommt noch der Schnee, der jetzt den ganzen Boden bedeckt. Ich merke wie Jutta langsamer wird. Der Weg ist noch relativ weit und es geht nur langsam voran. „Wie weit willst du denn noch hoch laufen?“, fragt Jutta. „Na soweit es eben geht!“

Der beschwerliche Weg nach oben

„Dann gehe ich zurück, mir reicht das bis hier.“ „Bist du sicher?“, frage ich. „Ja ganz sicher, ich warte im Auto auf dich.“ „Schade, aber wie du willst. Ich zeige dir nachher die Fotos.“

Dann geht sie abwärts und für mich beginnt der Aufstieg. Zwischendurch lege ich eine Atempause ein und bewundere die umliegenden Berge. Links von mir liegt der 3491 Meter hohe Mt. Athabasca, daneben der Mt. Andromeda mit 3450 Metern. Vor mir befindet sich der Gletscher und rechts daneben der Mt. Snow Dome mit einer Höhe von 3456 Metern und der Mt. Kitchener, 3505 Meter hoch. Zwischen diesen beiden Gipfeln noch ein Gletscher, der Dome Glacier. Ich marschiere weiter und beim nächsten Durchatmen schaue ich runter auf den Parkplatz. Winzig klein erkenne ich LEMMY in weiter Ferne. Das ist eine ganz neue Perspektive, von hier oben nach unten zu schauen. Nicht nur die Höhenluft ist atemberaubend, auch die Ausblicke sind es. „Nur noch zehn Schritte!“, motiviere ich mich zum Weitergehen. Und dann wieder von vorne…., „Nur noch zehn Schritte….., nur noch…..“

Immer wieder am Wegesrand – Infotafeln

Irgendwann stehe ich auf einem Plateau vor einem Absperrseil. Bis hier ist der Gletscher geschrumpft, wie traurig! Vor allem, weil wir wissen, er wird weiter schmelzen, unaufhaltsam, unwiderruflich.

Mit gemischten Gefühlen mache ich mich an den Abstieg. Ich bin alleine hier oben. Drei Mädels sind mir bei meinem Aufstieg entgegen gekommen, jetzt bin nur noch ich hier. Irgendwie so ähnlich wie in meinem Traum letzte Nacht. Aber ich kenne den Weg, der Trampelpfad ist gut zu erkennen im Schnee.

Hope to see you again my Glacierfriend….

Die nächste knappe Stunde fahren wir weitere 84 Kilometer überwältigend schöne Panoramastraße, den IFPW runter nach Südosten.

Ich verzichte auf weitere Superlative, denn ich würde mich zwangsläufig wiederholen.

Wir rollen auf den vom Schnee geräumten Parkplatz des Peyto Lake Trails und ich finde eine Lücke in die LEMMY gut rein passt. Der Platz ist von drei Meter hohen Schneemauern umgeben. Eine Menge Leute sind unterwegs, im Gegensatz zum Athabasca Gletscher. Kein Wunder, das Wetter ist mittlerweile nahezu perfekt für eine Bergwanderung. Aber was für eine? Das soll sich schnell herausstellen.

Peyto Lake Parkplatz

Uns wird sofort klar, hier liegt viel Schnee, sehr viel Schnee, hoher Schnee. Der Trail ist nicht geräumt und es geht fast nur aufwärts, relativ steil. Durch die vielen Menschen, die trotzdem unterwegs sind zum Peyto Lake, ist der schmale Trampelpfad fest und vereist. Der zum Teil nur zwei Fuß breite Weg ist glatt wie Schmierseife. Jutta muss ganz schön kämpfen, um nicht auszurutschen, da sie nicht so trittsicher ist und auch etwas Angst hat zu stürzen. Bei Gegenverkehr muss an Engstellen, von denen es sehr viele gibt, immer Einer warten, bis der Andere vorbei ist. Verlässt man den schmalen Pfad und tritt in den unberührten Schnee links oder rechts des Wegs, dann verschwindet man schon mal schnell mindestens bis zum Knie, manchmal bis zur Hüfte. Dreimal kündigt Jutta den Rücktritt an, hat Angst auszurutschen, sich etwas zu verdrehen oder zu brechen. Ich versuche sie zu motivieren mich weiter zu begleiten. Ich glaube sie ringt innerlich mit sich selbst und dreht nur deshalb nicht um, weil sie schon auf dem Weg zum Gletscher einen Rückzieher gemacht hat. Hätte sie vorher gewusst, was uns hier erwartet, dann wäre sie bestimmt mit bis zum Gletscherrand aufgestiegen. (Anmerkung Jutta: „Nö, da wär ich trotzdem nicht weiter mit hochgekommen und ich hab auch nicht mit mir gerungen ;)“ )

„Nur noch zehn Schritte!“, sage ich laut, drehe mich um zu Jutta. Dann rutsche ich aus und finde mich auf allen Vieren wieder. „Nichts passiert, mir geht’s gut!“ Ich stehe auf, halte mich an einem Baum fest und reiche Jutta die Hand, um diese schwierige Stelle zu überwinden. Nach einer dreiviertel Stunde haben wir den Aufstieg geschafft und werden belohnt mit einer grandiosen Aussicht über einen weißen Peyto Lake.

Peyto Lake

Sogar die Besucherplattform ist mit hohem Schnee bedeckt. Auch hier ist nirgends geräumt und der Aufstieg erfolgt auf eigene Gefahr. Der Peyto Lake wechselt, je nach Jahreszeit und Stand der Sonne die Farbe, zwischen blau, grün und türkis, was dieses Ausflugsziel wohl auch so attraktiv macht. Im Winter kommt eine weitere Farbe hinzu: weiß. Heute ist der 14. Mai und wir befinden uns in den schneebedeckten Rockies, augenscheinlich noch immer im Winter.

Vorsichtig begeben wir uns auf den Rückweg. Jutta hat inzwischen meine Technik übernommen, die es ihr ermöglicht, ohne viel Schlittern und Rutschen nach unten zu kommen. Sie stößt bei jedem Schritt die Hacken tief in den Schnee und freut sich, als das andere Wanderer, vor allem Frauen, kommentieren und nachmachen.

Unversehrt kommen wir unten an und ich freue mich darüber, dass wir beide gemeinsam den Aufstieg gemeistert haben und die Aussicht auf den Peyto Lake genießen konnten. Geteilte Freude ist doppelte Freude. Paradox, aber wahr.

Schnee, wohin man blickt

Weiter im Programm geht es mit dem Lake Louise. Den IFPW haben wir hinter uns gelassen, nun fahren wir auf dem Trans Canada Hwy. Eine halbe Stunde und 44 Kilometer später sind wir da. Unterwegs fahren wir unter vielen begrünten und baumbewachsenen Brücken durch. Nachdem wir uns zunächst nichts dabei gedacht haben und sie noch für „normale“ Übergänge über die Autobahn hielten, kamen wir dann doch ins Grübeln.

Hat es vielleicht etwas mit dem Wildlife zu tun? Der Trans Canada Hwy ist stark befahren, oft mehrspurig und die Leute sind zügig unterwegs. Auf den Brücken stehen Bäume aller Art und links und rechts des Highways sind nur Wälder. Diese sind auf der ganzen Strecke des Highways eingezäunt. Über diese Brücken können alle Tiere umherziehen, ohne den Verkehr zu gefährden und selber Opfer eines Rasers zu werden. Wir sind begeistert über die Liebe der Kanadier zu ihren Wildtieren und hoffen, dass es Mensch und Tier zugute kommt.

Lake Louise

Der Parkplatz am Lake ist kostenpflichtig und es gibt eine Menge Ausweichparkplätze weiter abseits, sollte dieser überfüllt sein. Heute ist er es nicht, aber voll ist es trotzdem. Lake Louise ist eben auch ein Touristen Hotspot. Ich will mal versuchen mich etwas kürzer zu fassen, damit dieses Chapter nicht den Rahmen sprengt. Am Automaten zahlen wir die Parkgebühr, nachdem uns ein Ordner einen Platz zugewiesen hat. Dann spazieren wir den kurzen Weg zum See vor dem Grandhotel „The Fairmont – Chateau Lake Louise“.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Kulisse traumhaft ist. Wir wagen uns auf den zugefrorenen Lake, weil bereits schon viele Andere auf der Eisfläche sind. Als wir damals hier waren durften wir nicht alleine im Wald um den See herum wandern, wegen erhöhter Grizzlybären Warnung. Es war nur Gruppen mit 6 Personen aufwärts gestattet. Dann ist der Geräuschpegel höher und die Gefahr einer Attacke deutlich geringer. Aber wandern wollen wir heute eh nicht mehr. Wir wollten nur einen kurzen Abstecher hierher machen. Ich will noch das Hotel von vorne sehen und deswegen verlassen wir die Eisfläche, die nicht durchgängig ist, sondern nur Teile des Sees bedeckt. Auf dem Weg am Rande des Lake Louise sehe ich jetzt auch Warnhinweise vor dünnem Eis.

Ich weiß auch nicht, warum ich manchmal so blöd bin…

Aha, denke ich. Na und, was geht mich das an? Gerade waren wir doch drauf und viele Andere auch. Man sieht doch, wo das Eis ist, und wo das Wasser beginnt. Ich mache mein Bild vom Grandhotel und weil ich nicht ganz zufrieden bin mit dem Bildausschnitt, es ist etwas zu nah, gehe ich auf die Eisfläche, um den Abstand zu vergrößern. Noch etwas weiter zurück, dann müsste es gut sein. Ich gehe rückwärts, um das Hotel im Visier zu behalten und dann geschieht es. Es knackt und ich breche ein. „FUCK!“, schreie ich innerlich, mein linkes Bein ist bis zum Knie im Eiswasser. Glücklicherweise ist der rechte Fuß noch nicht eingebrochen und panisch ziehe ich das linke Bein raus. Ich versuche entspannt zu wirken, keine Ahnung, ob es mir gelingt. Schleunigst verlasse ich die dünne Eisfläche und wundere mich mal wieder über meinen Leichtsinn.

Mit einem nassen und einem trockenen Fuß verlassen wir den Lake Louise.

In Banff ist „Overnight Parking“ generell verboten und explizit auch an der Tankstelle, die im Internet als Geheimtipp galt. Wir steuern einen Campingplatz an. Der vordere Teil ist gut für eine Zwischenübernachtung mit großen RV`s, aber nichts für uns. Beim Check In bekommen wir den Tipp, in den Teil des riesigen Campingplatz zu fahren, der etwas tiefer im Wald und schöner gelegen ist. Er heißt „Tunnel Mountain Village I. Dankend nehmen wir die Empfehlung an und fahren weiter. Nach wenigen Minuten sind wir dann dort, checken ein und werden gebeten wachsam zu sein, denn gestern noch wurde ein Grizzly im Camp gesehen. Ruhig lassen wir den Abend ausklingen, mit einem wachsamen Auge.

Einen Bären sehen wir nicht in dieser Nacht. Leider?

Wie soll es jetzt weiter gehen? Diese Frage haben wir uns gestern Abend gestellt. Schnee und Winterfeeling hatten wir jetzt genug. Wir könnten von hier aus direkt nach Calgary fahren, diese Stadt ist für mich gesetzt. Dort will ich unbedingt ins „Broken City“, eine ziemlich coole Bar. Dann würden wir bereits jetzt Richtung Osten weiterreisen. Eine andere Option ist Osoyoos, Canadas „warmest place“ und einzige Wüste des Landes. Das würde allerdings bedeuten, dass wir erst nach Süden fahren bis an die US amerikanische Grenze und dann zurück in den Westen nach British Columbia. Eine Tour von 730 Kilometern und einer reinen Fahrzeit von weit über acht Stunden. Wir kennen und lieben Osoyoos und haben Lust auf Sommer, T-Shirt und kurze Hosen. Es geht sehr schnell, dann ist es entschieden. Es gibt keine Umwege, wir fahren in die Wüste.

Heute ist der 15. Mai und uns steht ein sehr langer Road Day bevor, wahrscheinlich der bisher längste auf dieser Tour. Ich will soweit wie möglich kommen, eventuell sogar bis ans Ziel, zum Haynes Point Provincial Park in Osoyoos. Der Weg führt uns durch den Kootenay N. P., vorbei an den Radium Hot Springs und durch dichte, nebelverhangene und gespenstische Berge. Wir haben eine weitere Bärensichtung weit oben, irgendwo an einer einsamen Bergstraße. Es ist ein Schwarzbär auf der Suche nach Futter.

Wir kommen vorbei an riesigen Seen in abgelegenen Wäldern und sehen traumhafte Häuser am Ufer, alle mit einem eigenen Bootsanleger und Terrasse über dem Wasser. Könnten wir da leben? So einsam und weit ab von jeder größeren Ortschaft? Jutta würde das bejahen, ich vielleicht für eine gewisse Zeit, zum Schreiben zum Beispiel, aber nicht auf Dauer.

Für eine kreative Pause die perfekte Location

Bei einer Pinkelpause halte ich an einem kleinen Rastplatz und sehe ein Plakat von einer vermissten Person. Als wir dann weiterfahren beschäftigt mich das Schicksal von Madison Scott und ihrer Familie eine ganze Weile. Sie ist erst 20 Jahre alt und sieht hübsch aus auf dem Foto, welches auf dem Plakat abgebildet ist. Verschwunden ist sie schon vor langer Zeit, am 23. Mai 2011. Zuletzt gesehen wurde sie in dieser Nacht um drei Uhr früh. Es war bei einem Campingurlaub am Hogsback Lake im nördlichen British Columbia. Ihre Eltern haben 100 000 Dollar als Belohnung ausgesetzt, für Hinweise die zur Ergreifung der/des Täters führen. Ich vermute das Verbrechen ist bis heute noch nicht aufgeklärt, denn das Plakat sieht neu aus, obwohl Madison vor fast genau 11 Jahren verschwunden ist. Ihre Eltern werden die Hoffnung sicher niemals aufgeben und ich schließe sie und Madison mit in meine Gebete ein.

Nothing to say

Es ist ein trüber, regnerischer Tag und wir sind bereits seit vielen Stunden unterwegs. Jutta sorgt sich, wie üblich, um meine Verfassung. Wir sind ausgestattet mit verschiedenen Knabbereien und Nüssen, mit Icetee und Energie Drinks, die ich gerne an langen Fahrtagen konsumiere.

Irgendwann kommt an solchen Tagen immer die Frage: „Wie lange willst du denn noch fahren? Bist du auch noch fit genug?“ Wir sind seit über 6 Stunden unterwegs. „Ja, danke. Mir geht es gut und ich will noch ein paar Stunden weiter fahren, alles bestens.“

Wir wären eigentlich eine andere Route gefahren, über Golden, Revelstoke und Kewlona. Aber dort waren noch einige Pässe gesperrt, wahrscheinlich weil noch zuviel Schnee liegt. Und irgendwie bin ich jetzt ganz froh darüber, denn diese Route gefällt mir ganz ausgezeichnet, trotz oder sogar wegen des trüben Wetters. Das macht die Fahrt durch die wolkenverhangenen Berge irgendwie mystisch.

Wir halten nur für notwendige Bedürfnisse und Kaffee. Ernährt wird sich während der Fahrt fast ausschließlich von Snacks und Softdrinks. Manchmal unterhalten wir uns, manchmal sind wir auch still und genießen den Blick aus dem Fenster. Meine Musik läuft vom Stick. Ich könnte ewig einfach immer so weiter fahren…..

Jutta recherchiert bereits nach möglichen Übernachtungsplätzen, während ich immer noch unschlüssig bin, ob wir heute durchziehen sollten bis zum Haynes Point.

Eine weitere Stunde verstreicht. Ich werde tatsächlich auch etwas müde und mir ist bewusst, dass es meine Verantwortung ist uns heil ans Ziel zu bringen. Mit beginnender Müdigkeit geht oft die Konzentrationsfähigkeit flöten. Jutta plädiert dafür eine Zwischenübernachtung einzulegen und argumentiert, wir seien dann ja auch früh dort, weil die Fahrstrecke nur noch kurz ist. Wenn wir jetzt bald halten, dann wären es morgen tatsächlich nur noch etwa 90 Minuten bis zum Ziel. Damit hat sie mich überzeugt. Heute würden wir eh nichts mehr unternehmen und morgen haben wir dann noch den ganzen Tag und das sogar ausgeruht.

„In einer halben Stunde erreichen wir Grand Forks, dort können wir auf einem „Safe-On-Foods“ Parkplatz stehen. Dann können wir morgen früh mal wieder einen Großeinkauf machen, bevor wir losfahren.“, schlägt sie vor. Ich schaue rüber zu ihr und sage: „Check!

Es ist längst dunkel als wir in Grand Forks einfahren, einer typisch amerikanischen Kleinstadt am Kettle River. Nur noch kurz über die Brücke und da vorne rechts ist schon der Parkplatz vor dem Supermarket. Ich parke unter einer Straßenlaterne (Spitzbuben scheuen das Licht) und beschließe jetzt Feierabend zu haben. Jutta bereitet uns noch eine richtige Mahlzeit zu und bei einem Film endet dieser lange Fahrtag nicht besonders spät.

Gut ausgeschlafen gönnen wir uns ein kleines Frühstück. Mit knurrendem Magen wollen wir keinen Großeinkauf wagen, das könnte sonst teuer werden. Mit vollem Einkaufswagen stehen wir schließlich an der Kasse, da fällt Jutta ein, dass ihr noch etwas fehlt. „Mach du das hier, ich muss noch mal los!“, sagt sie nur und schon ist sie verschwunden. Ich gucke etwas verdutzt, bin aber entspannt, weil jeder seine eigene Kreditkarte hat. Ich habe bereits alles auf das Laufband gelegt, wieder in den Wagen sortiert und bezahlt, von Jutta keine Spur. Am Ausgang warte ich und halte Ausschau, da kommt sie um die Ecke und stellt sich an die Kasse. Wir bekommen Blickkontakt und ich rufe zu ihr rüber: „Das hat aber gedauert, hast du alles gefunden?“ „Jaja, alles gefunden!“, sagt sie.

Ich bemerke, wie ein älterer Herr mich mustert. Habe ich zu laut gerufen, ob Jutta alles gefunden hat? Er kommt zu mir rüber und sein Blick lässt nicht ab von mir. „Kommen Sie aus Deutschland?“, fragt er mich auf deutsch mit amerikanischem Akzent. Erstaunt sage ich: „Ja, ich komme aus Deutschland, 30 km südlich von Bremen. Eine nette Unterhaltung entwickelt sich zwischen uns und er hat viele Fragen unsere Reise betreffend. Er ist selber auch aus Deutschland, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Canada. Ich zeige ihm durch die Tür unseren LEMMY auf dem Parkplatz und er ist ganz begeistert. Er will auch demnächst eine Campingtour machen, in den Yukon. Dafür hat er sich seinen Kombi umgebaut. Er sagt, er brauche nicht viel. Eine Matratze liegt hinter den Vordersitzen, dann nimmt er noch ein Zelt mit, einen Gaskocher und viele eingemachte Lebensmittel. Mehr benötige er nicht. Ob wir nicht mit auf ein Bier mit zu ihm kommen wollen, fragt er mich. Überrascht und erfreut über diese spontane Einladung lehne ich aber dankend ab. „Wir müssen weiter nach Osoyoos und wollen nicht so spät dort ankommen. Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich nehme an er lebt alleine. Vielleicht ist seine Frau schon verstorben, sonst würde er doch nicht auf eine lange Reise in den Yukon starten, oder? Wir plaudern noch etwas auf dem Weg zu unseren Autos und dann zeigt er mir seinen weißen Kombi. Er muss ein sehr genügsamer alter Herr sein. Ich finde ihn sehr sympathisch und bin etwas traurig, weil wir seine Einladung ausgeschlagen haben. Wahrscheinlich hätten wir einen interessanten Tag bei ihm gehabt, aber ich kenne mich, nach dem ersten Bier hätten wir ein Zweites getrunken und wir wären heute nicht mehr in die Wüste gekommen. So bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu verabschieden und uns gegenseitig alles Gute zu wünschen. Ich hoffe wirklich, das er eine großartige Tour durch den Yukon erlebt.

Ich tanke noch voll, mache einen kleinen Abstecher in einen Beerstore und dann geht es ab nach Osoyoos.

An einem „Welcome to Osoyoos“ Schild halte ich kurz. Wir sind auf einem Berg und schauen runter auf den See. Er zieht sich schmal und lang von Nord nach Süd und ein gutes Drittel des Lakes reicht über die Grenze in die USA. Auf der kanadischen Seite ist eine Halbinsel, ebenfalls schmal und lang, ungefähr so geformt wie ein Schuhlöffel, der Haynes Point Provincial Park. Dort wollen wir hin. Die Temperatur geht stramm auf die 20° zu und weiter unten werden wir sie hoffentlich noch toppen.

Canadas only desert

Vorbei an einem Wohngebiet geht es direkt auf die Halbinsel. Wir sind angekommen. Links und rechts von uns ist Wasser. Zuerst wird die Lage sondiert. Es sind fast alle Plätze belegt, damit hätten wir jetzt nicht gerechnet. Drei freie Stellplätze sind noch verfügbar. An manchen leeren Plätzen sehen wir „Reserviertkarten“ an den Nummernpfosten und hinter uns folgt schon ein Pickup Camper.

Wir fackeln nicht lange und belegen eine Campsite, die uns auf Anhieb zusagt. „Yes, geschafft!“

Mal wieder ein Traumstellplatz

Ich baue draußen alles auf, was die Staufächer zu bieten haben. Tisch und Stühle, ist ja klar und auch das Tarp wird endlich mal wieder aufgespannt. Der Kühlschrank wird mit ein paar Bieren befüllt. Es weht ziemlich stark und wir befinden uns am Anfang von Haynes Point, an der sehr schmalen Stelle, wo uns der Wind von allen Seiten trifft. Wir gehen zu Fuß rüber zu den freien Stellplätzen weiter hinten, wo der Bewuchs stärker ist und mehr Windschatten bietet. „Diese Campsite ist doch noch schöner als unsere.“, stellen wir fest. „Und auch viel geschützter. Bleib du hier und halt den Platz für uns frei, falls ein anderer Camper kommt. Ich hole eben zwei Stühle rüber und stelle sie hier ab, dann holen wir das Auto nach!“ Gesagt getan. Ich bringe unsere beiden Campingstühle und reserviere damit die neue Campsite und dann packen wir alles zusammen und ziehen um. Jetzt sind wir richtig angekommen. Cheers!

Blick von oben auf den Haynes Point P. P.

Wir überlegen, wie lange wir bleiben wollen und ich bin für 5-6 Tage. Jutta ist sofort dabei. Hier können wir mal wieder so richtig abschalten und Pause vom Reisen machen. Die Temperatur ist bei angenehmen 22°, wenn die Sonne scheint. Ich habe vor ein neues Chapter zu beginnen und freue mich darauf draußen zu schreiben. Wir fühlen uns pudelwohl und sind glücklich so einen tollen Stellplatz ergattert zu haben. Nach uns sehen wir andere Camper an uns vorbei fahren, die keinen freien Platz finden. Wir sehen sie kommen und gehen. Wie gut, dass wir kein Bier mehr in Grand Forks mit dem netten alten Herren getrunken haben. Das hätte uns diesen Platz gekostet.

Der Ranger kommt vorbei und registriert uns. Wie lange wir bleiben wollen, will er wissen. „So 5-6 Tage.“, antworten wir. Er schüttelt den Kopf, das tue ihm sehr leid, aber am 20. Mai müssen wir abreisen. Ab da beginnt die Saison und alles ist reserviert und ausgebucht. Da ist nichts zu machen. So ein Mist, aber nützt ja nix. Wir haben dann eben nur 4 Tage, das ist doch nicht schlecht. Ich bestelle noch zwei Bundle Firewood, die er später vorbeibringen will.

Wir haben eine fantastische Zeit am Haynes Point. Ich schreibe oft und das neue Chapter macht richtig viel Spaß. Es geht um New Orleans in Louisiana (NOLA) und ich switche zwischen den Identitäten hin und her. Es ist etwas abgedreht und für mich auch experimentell. Mal bin ich ich und mal bin ich Lincoln Clay, ein fiktiver Charakter aus der Mafia PC Spielwelt. Die meiste Zeit verbringen wir im French Quarter, wo auch (unter anderem) das Mafia III Universum angesiedelt ist. Ich liebe NOLA und ich liebe Mafia. Was liegt also näher als beides miteinander im neuen Chapter zu verknüpfen?

Ein neues Chapter wird geboren…

Jutta liest viel und wir lassen es uns gut gehen. Manchmal weht der Wind von Nord nach Süd und trifft uns mit voller Wucht von der Seeseite aus. Dann muss ich das Tarp abbauen, aber die Handgriffe sitzen und es geht alles sehr schnell. Die Wasserpumpe hat auch wieder ihren Geist aufgegeben, wie zuletzt in der Türkei auf dem Dragon Camp, aber das stresst uns nicht mehr. Wir haben eine Ersatzpumpe im Gepäck und bis ich die einbaue, benutzen wir den Wassersack, den Jutta mitgenommen hat. Abends sitzen wir gerne am Lagerfeuer und schauen über den See, wenn auf der anderen Seite langsam die Lichter angehen.

Osoyoos auf der kanadischen Seite

Manchmal grillen wir Mais, Paprika, Zucchini und für mich darf es auch mal eine Bratwurst sein, über der Feuerstelle. So vergehen die Tage schneller als uns lieb ist, aber ich komme ganz gut voran mit dem Schreiben. Morgen werde ich mal die Wasserpumpe tauschen und dann müssen wir uns noch eine andere Simkarte besorgen, mit einer besseren Netzabdeckung. Jutta hat schon einen Laden dafür rausgesucht, wir müssen dann allerdings mit dem Auto los, da es nicht eben um die Ecke ist.

Das Tauschen der Wasserpumpe klappt auf Anhieb und es fühlt sich gut an, wenn alles nach Plan läuft und im Fahrzeug die Sachen funktionieren, die wir täglich brauchen.

Das gute Gefühl wird mitgenommen auf dem Weg zum Telus & Koodo Store in Oliver. Unterwegs will ich noch nach einem bestimmten Café suchen, wo wir damals eingekehrt sind. Es sollte direkt gegenüber unseres Stellplatzes auf der anderen Seite des Sees sein und Mr. Elvis Presley himself ist schon dort gewesen. Viele Fotos schmückten die Wand, auf denen Elvis genüsslich seinen Kuchen verspeist. Leider finde ich das Café nicht wieder. Wahrscheinlich existiert es nicht mehr, denn ich bin mir sicher, dass es genau hier an der Uferpromenade war.

Wenigstens haben wir Glück im Telus Shop. Wir werden von einer netten Dame gut beraten und müssen auch nicht lange warten. Das Freischalten der Karte will Jutta dann Zuhause erledigen, sie ist routiniert darin.

Die Landschaft hier erinnert mich stark an die Weinregion in California, überall sind Winerys, die zur Verkostung einladen. Wir genießen den kleinen Ausflug bei offenem Fenster und spüren den lauen Wind durchs Auto wehen.

Zurück im Camp baue ich das Tarp wieder auf, damit ich im Schatten schreiben kann. Jutta kümmert sich um die Simkarte. Da gibt es allerdings Probleme, sie kann die Karte nicht freischalten, weil unsere deutschen Kreditkarten nicht akzeptiert werden. So was Blödes, jetzt müssen wir morgen noch mal in den Laden fahren, um dort zu bezahlen und das Freischalten von der netten Dame vornehmen zu lassen.

Am Lagerfeuer bei einem Drink besprechen wir schon mal, wie es demnächst weiter gehen soll. Wie gesagt, Calgary ist gesetzt. Wir wollen aber die 731 Kilometer nicht am Stück fahren und auch keine achteinhalb Stunden. Wie wäre es denn, wenn wir jetzt die Strecke über Kelowna, Revelstoke und Golden fahren, die auf dem Hinweg noch gesperrt war? Da kommen wir dann auch durch den Glacier National Park of Canada. Wir finden die Idee großartig und wollen es genauso machen, wenn die Route bis dahin wieder freigegeben ist.

Beim zweiten Besuch in Tom Harris Telus & Koodo Store zahlen wir bar und alles läuft reibungslos.

Wir haben rausgefunden, dass es auch hier Geld für leere Bierdosen und Wasserflaschen zurückgibt, wenn man weiß, wo man sie abgeben kann. So erledigen wir das eben auch noch und dann geht es wieder zum Haynes Point. Ich mache gute Fortschritte mit meinem NOLA Chapter und will heute Nacht noch fertig werden. Ich baue wieder alles auf, hole mir das Laptop raus und einen frisch gebrühten Kaffee. Für Bier ist es noch zu früh und mich erwartet eine lange Nacht. Der Schreibtisch steht. Mit einem genialen Blick über den See nehme ich Platz in meinem Outdoor Office. Jutta sitzt in der Sonne und liest. Ich schaue rüber zu ihr und sage: „Bitte nicht stören in den nächsten Stunden, ich begebe mich jetzt nach New Bordeaux.“ Dann beginnt meine Transformation, unter dem Tarp im Schatten. Jetzt sitzt nicht mehr Jürgen Godt an der Tastatur……. nein……., jetzt haut Lincoln Clay in die Tasten…. „Yes, he is back!“

Lincoln Clay at work….

…und was als nächstes geschieht…

CHAPTER III – AUF DEM 7821 KILOMETER LANGEN TRANS CANADA HWY, VON WEST NACH OST

…und wie ich mit einem bekannten Neurologen über einen besseren Rausch mit Tilidin Tropfen philosophiere…

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