3. Akt

Chapter 25 – Going to Canada, into the wild

…und wie wir in Vancouver in eine Kolonie der lebenden Toten geraten…

Wir haben North Bend, Snoqualmie, Fall City und damit die Region des fiktiven Twin Peaks verlassen. Aber eine Sache steht noch an auf dem Weg nach Canada. Ein Besuch in Everett, das liegt fast an unserer Route raus aus den Staaten. Dort befindet sich das Elternhaus von Laura Palmer. Bob konnten wir nur knapp entkommen. Hoffen wir mal, dass Leland Palmer uns nicht begegnet, denn das wäre genauso fatal, als würde Bob uns auflauern. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich will nicht zu viel verraten, falls doch jemand nach der Lektüre des letzten Chapters auf den Twin Peaks Zug aufspringen möchte. Und die „Anderen“, die „Twin Peaks Freunde“ verstehen es ohne Erklärung.

In weniger als einer Stunde nach dem letzten schwarzen Kaffee im Double R Diner stehen wir vor Laura Palmers Haus. Dies hier scheint eine ruhige Wohngegend zu sein, sauber und friedlich wirkt es auf uns. Eine graue Betontreppe bahnt uns den Weg nach oben zum zweistöckigen Wohnhaus, flankiert von dichtem, grünen Rasen. Dann eine weitere Treppe aus roten Ziegelsteinen. Vor dem  Eingangsportal stehen zwei Stühle. Die Fenster im 2. Stock sind mit weißen Gardinen zugezogen. Das ganze Haus ist schneeweiß gehalten, bis auf die dunkelgrauen Dachschindeln. Es wirkt alles sehr gepflegt, die ganze Nachbarschaft hat nett angelegte Gärten und überall ist der Rasen frisch gemäht. Nicht dass es einen Grund für Gerede gibt, weil jemand seinen bürgerlichen Pflichten nicht nachkommt. Wir steigen aus und es scheint niemand Zuhause zu sein, was uns beruhigt. Ein Fußgänger führt seinen Hund Gassi und schaut uns im Vorübergehen misstrauisch an, dann blickt er zu unserem Auto und wieder zu uns. Er flüstert seinem vierbeinigen Gefährten etwas zu, das ich nicht verstehe, dann verschwindet er von der Bildfläche.

Laura Palmers Elternhaus

Augenblick mal, war da oben am rechten Fenster nicht etwas Bewegung in der Gardine? Ich könnte schwören aus dem Augenwinkel Laura Palmer gesehen zu haben. Nicht die komplette Laura Palmer, aber die Hälfte ihres hübschen Gesichts. Wie sie mit einem Auge hinter der Gardine hervorlugt, runter auf die Straße schaut und mir ein halbes Lächeln schenkt.

Laura Palmers Haus – Twin Peaks

Mit einem guten Gefühl verlassen wir Everett und nehmen den Freeway 5 in Richtung Canada. In Blaine wollen wir die Grenze von der USA nach White Rock überqueren, um heute Nachmittag Vancouver zu erreichen. Etwa 80 Minuten später sind wir an der Grenze und reihen uns ein. Die „Nexus“ Spur ganz außen ist Pendlern vorbehalten, die täglich zwischen den USA und Canada hin und her fahren.

Heute ist der 20. April 2022 und wir hätten noch bis zum 5. Mai in den USA bleiben dürfen, dann erst sind die erlaubten 90 Tage vorüber. Aber wir haben uns entschieden früher nach Canada einzureisen, in der Hoffnung dem Schmuddelwetter zu entkommen und um mehr Zeit für Vancouver Island zu gewinnen. Ein anderer Gedanke dabei ist auch, wenn wir schon immer wieder von Neuem in den Frühling fahren, dann evtl. mit Schnee in den höheren Lagen. Im Nachhinein betrachtet, wäre die einzige bessere Option gewesen, den Sommer im südlichen Kalifornien zu verlängern. Aber dann hätten wir mit Pam und Earl anders planen müssen und im Grunde ist es jetzt müßig drüber nachzudenken, was wir hätten anders machen können, um eine Schönwettergarantie zu haben. Wir haben vielleicht zu hoch gepokert und uns zu sehr darauf verlassen, dass die Jahreszeiten immer optimal verlaufen in Nordamerika.

Oh, wir sind gleich schon am Schalter des Grenzbeamten, nur noch zwei Autos vor uns. Es geht zügig voran und als wir an der Reihe sind, zeigen wir unsere Dokumente vor und werden nach mitgeführten frischen Lebensmitteln befragt. „Nur etwas Obst!“, antwortet Jutta. Ob wir „peaches“ dabei haben, werden wir gefragt. Jutta verwechselt „peaches“ (Pfirsiche) mit „pears “ (Birnen) und sagt ja. Ob wir wissen, wo es sich im Auto befindet, will er noch wissen und Jutta bestätigt. Dann weist er mir den Weg links raus zu einigen Mülltonnen, wo andere Beamte stehen, die die Entsorgung der deklarierten Lebensmittel überwachen. Erst jetzt erkennt Jutta ihre Verwechslung. Sicherheitshalber schmeißt sie die Birnen aber weg. Auf Erklärungen und Diskussionen mit den Grenzbeamten wollen wir uns nicht einlassen. Bevor wir unsere Papiere zurückbekommen, drückt der freundliche Zollbeamte Jutta ein kleines Päckchen in die Hand. Das sei ein PCR Test und Jutta müsse ihn innerhalb von 48 Stunden durchführen und abgeben. So ein Mist, ausgerechnet uns hat diese Stichprobe mal wieder erwischt.

Wir bekommen unsere Pässe zurück und weiter geht es auf kanadischem Boden nach Surrey, einem Vorort von Vancouver. Dort gibt es einen BestBuy Laden, in dem wir eine neue Simkarte kaufen wollen. Die Karte aus den USA funktioniert nicht in Canada.

Ich parke nach kurzer Fahrt auf einem riesigen Parkplatz vor dem Laden und wir hoffen auf einen guten Deal. Eine junge Inderin berät Jutta und uns fällt sofort auf, wie multikulturell es schon hier, so dicht hinter der Grenze zugeht. Im Geschäft sind viele verschiedene Nationalitäten anzutreffen, sowohl bei den Angestellten, als auch bei den Kunden. Sehr viele Menschen kommen aus dem asiatischen Raum. Meistens vermute ich, sind es Inder, aber auch Chinesen, Vietnamesen, Thailänder und so weiter. Es sind Leute aus allen Teilen der Welt und das liebe ich so an Canada. Jeder ist willkommen und das Land ist offen und tolerant. Das ist uns bei allen Kanadareisen zuvor schon aufgefallen, egal ob an der Westküste oder an der Ostküste. Obwohl es mir so vorkommt, als sei die Völkervielfalt im Westen noch größer als im Osten.

Jutta wird handelseinig mit der jungen Verkäuferin und wir können uns auf den Weg machen durch Vancouver zu unserem Stadtcampingplatz, dem Capilano River RV Park auf der westlichen Seite. Hinüber gelangen wir zunächst über die Iron Workers Memorial Bridge und kurz darauf checken wir ein. Angekommen in einer der wohl schönsten Metropolen der Welt.

Capilano River RV Campingplatz – Vancouver

Der Capilano River RV Campingplatz ist ein typischer Stadtcampingplatz mit viel Komfort. Es gibt einen beheizten Whirlpool im Innenbereich, einen Außenpool und saubere Sanitäreinrichtungen. Gegenüber der Rezeption ist eine Lounge mit Getränke- und Snackautomaten, einer Eiswürfelmaschine, einer Waschmaschine und freiem Wlan auf dem ganzen Gelände. Um uns herum haben wir eine prächtige Bergkulisse, den Pazifik vor der Tür und Einkaufsmöglichkeiten ohne Ende. Auch ein Kino und diverse Restaurants gibt es im großen nahegelegenen Einkaufskomplex. Hier bleiben wir auf jeden Fall erstmal einige Tage, um Vancouver zu erkunden, Wäsche zu machen, lecker zu kochen und auch mal wieder ausgiebiger einzukaufen. Eine unserer beiden Gasflaschen ist mittlerweile leer und die kann ich mir hier auffüllen lassen, denn draußen vor dem Pool steht ein großer Propangastank. Aber eins nach dem anderen. Heute kaufen wir nur noch ein, denn ich habe Lust zu kochen. Jutta muss innerhalb von 24 Stunden online einen Termin machen für den videoüberwachten PCR Test. Das ist bereits erledigt und morgen Vormittag um 11 Uhr ist das Appointment.

Parkdeck des Einkaufcenters

Wir machen einen Spaziergang zum Einkaufscenter und staunen über die grandiose Aussicht. Der Blick wandert rüber zur Lions Gate Bridge. Die Brücke verbindet Westvancouver mit dem berühmten Stanley Park, Coal Harbour und Downtown Eastside. Unter der Brücke fährt gerade ein großes Frachtschiff nach Vancouver Harbour ein. Egal in welche Richtung wir schauen, überall ragen die riesigen, schneebedeckten Berge in den Himmel. Diese Stadt ist gesegnet mit prächtiger Natur in der nahen Umgebung.

Bis ins Wintersportparadies Whistler ist es nur einen Katzensprung. Um nach Vancouver Island zu kommen, mit den leider nicht mehr ganz unberührten Regenwäldern (es wurde und wird viel abgeholzt) geht es von der Horseshoe Bay mit der Fähre nach Nanaimo. Und dann ist da noch der Pazifik. Welche Stadt hat so viel Flair, Natur und Ozean zu bieten? Rio de Janeiro vielleicht und meinetwegen auch Sydney und Kapstadt. Aber in Südafrika war ich noch nicht, das kann ich also nicht wirklich beurteilen.

Lions Gate Bridge

Im Asiasupermarkt bummeln wir gemütlich durch das reichhaltige Sortiment und kaufen frischen grünen Spargel, Tagliatelle, Parmaschinken und noch Einiges mehr. Hier scheint es so ziemlich alles zu geben. Eine Flasche Wein kommt auch noch in den Einkaufswagen und dann machen wir uns wieder auf den Rückweg.

Capilana RV Stadtcampingplatz West Vancouver

Weitere Aktivitäten heute sind nicht geplant, nur noch kochen und einen Film schauen. Vancouver steht morgen auf dem Programm, nach diesem blöden Appointment um 11 Uhr.

Für das Abendessen genehmige ich mir einen Küchenwein und mache mich daran ein leckeres Pastagericht zuzubereiten. Dabei fällt mir ein, dass ich mich morgen mal um das Auffüllen der Gasflasche kümmern sollte.

Tagliatelle mit Spargel und Schinken
Pasta & Wine

Beim Frühstück bemerke ich Juttas Anspannung. Der Wlan Empfang ist an unserem Platz nicht so wirklich gut und sie hat Bedenken, dass es für die Videoverbindung nicht reicht. Zum Glück wurde ich nicht ausgewählt für den Test. Ich muss sogar vor 11 Uhr das Auto verlassen, während Jutta den Videotermin wahrnimmt. Ich frage derweil an der Rezeption, ob mir jemand meine Propangasflasche auffüllen kann. „Yes sure!“, bekomme ich zu hören. Ich soll schon mal beim großen Propantank warten, es komme gleich jemand. Die kleine 2,7 Liter Aluflasche und einen Adapter habe ich dabei.

Dann kommt ein etwas untersetzter Mann mit gerunzelter Stirn auf mich zu. Er hat einen schmutzigen Blaumann an. Kritisch beäugt er meine Propanflasche und sagt: „I have no idea how it works!“ Ich zeige ihm meinen Adapter und er versucht sein Glück. Es funktioniert. Ich will wissen was mich der Spaß kostet und er runzelt erneut die Stirn. Das war so wenig Gas, das er mir da in meine winzige Flasche gefüllt hat, das kann er mir nicht berechnen. Ich bedanke mich vielmals und gut gelaunt verstaue ich die Flasche wieder im Gasfach im Auto. Auch der nette Blaumann Typ verabschiedet sich  bestens gestimmt, denn er hat mir mit der kleinen netten Geste, nichts zu berechnen, den Tag versüßt und bekanntlich kommt das Glück und die guten Taten, die man vollbringt, zu einem zurück.

Vorbereitet für den PCR Test

Jetzt klopfe ich an die Tür um zu sehen, ob Jutta mit ihrem Termin fertig ist und schon steht sie vor mir. „Hat alles gut geklappt, eine nette Inderin am anderen Ende der Leitung hat den Test mit mir durchgeführt. Ich musste ihr alles zeigen und jeder Schritt wurde von ihr sorgfältig beobachtet, kommentiert und dokumentiert. Jetzt müssen wir nur noch auf den Lieferanten warten, der den Test gleich abholen wird. “

Eine halbe Stunde später sehen wir einen weißen FedEx Lieferwagen an der Rezeption stehen. Der Fahrer wird vermutlich gerade nach uns fragen. Jutta geht schon raus und winkt ihn herüber. Pflichttermin ist abgehakt, jetzt haben wir den Rest des Tages zur freien Verfügung.

This way

Die Sonne scheint, es ist Frühling in British Columbia. Deshalb wollen wir mit den Bikes über die Lions Gate Bridge fahren, durch den Stanley Park, nach Downtown. Dass wir heute Abend vollkommen geschockt und deprimiert zurückkehren werden, davon ahnen wir jetzt noch nichts.

Die Räder sind startklar, der Luftdruck auf den Reifen ist gut, aber ich brauche neues Flickzeug. Unterwegs musste ich doch immer mal wieder die Reifen flicken, an so wundervollen Orten wie zuletzt in San Francisco vor Alcatraz oder am Santa Monica Beach in Los Angeles. Das sollte aber kein Problem sein, denn es gibt im Zentrum einen Fahrradladen. Jutta hat ihn schon rausgesucht. Wir haben auch noch einige US Dollars, die wir in der Bank gegen Canada Dollar tauschen wollen. Bestens gelaunt fahren wir los, in eine der beeindruckendsten Städte der Welt.

Doch bevor wir das Stadtzentrum erreichen müssen wir über die Lions Gate Bridge. Sie ist nur ca. 1,5 km lang, aber die Steigung die wir bis zum Scheitelpunkt zurücklegen müssen, die hat es in sich. Wir kämpfen uns hoch und treten ordentlich in die Pedalen, aber dann werden wir belohnt mit einem unglaublichen Blick auf Vancouver und den Stanley Park vor uns. Ab jetzt geht es abwärts und ich schalte in den höchsten Gang und trete richtig in die Pedalen. Das Tacho zeigt eine Geschwindigkeit von 47 km/h an. Ab jetzt lasse ich mich rollen und freue mich hier sein zu dürfen. Einen kurzen Augenblick bin ich ganz bei mir und unendlich dankbar, so eine Reise machen zu können. Unten angekommen warte ich auf Jutta, denn es gibt zwei Möglichkeiten weiter zu fahren, die ich mit ihr besprechen will. Wir entscheiden uns für den längeren Weg, nah an der Wasserkante, anstatt den direkten Weg mitten durch den Park. Zwischendurch halten wir immer mal an, um den wahnsinnigen Blick auf die Brücke zu bewundern, um uns künstlerische Totempfähle anzusehen oder um den Blick auf die Skyline zu bewundern. Ich kann nicht genug schwärmen für diese Stadt……, bis wir die Not in der East Hastings Street hautnah erleben.

Skyline von Down Town Vancouver hinter dem Stanley Park

Nachdem wir den Stanley Park linksseitig halb umrundet haben, kommen wir an die Waterfront von Vancouver Downtown. Die Wasserflugzeuge starten hier am laufenden Band und werden wie Taxis genutzt, denn viele Orte sind über Straßen nur schwer oder gar nicht zu erreichen. Vom Canada Place schauen wir rüber auf West Vancouver, auf die andere Seite von Vancouver Harbour. Neben dem angenehmen Sightseeing Programm haben wir allerdings heute noch etwas zu erledigen. Wir müssen eine Bus & Metro Karte kaufen, damit wir von unserem Campingplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln schnell, günstig und unkompliziert in die Stadt und zurückkommen. Das wird in Windeseile von Jutta am Canada Place erledigt. Einmal runter in die U-Bahn an den Automaten, Tickets ziehen und fertig.

Jetzt noch schnell in eine Bank, um unsere US Dollar gegen Canada Dollar zu tauschen. Das dauert leider etwas, weil die Schlange am Schalter ziemlich lang ist. Ich warte draußen vor der Tür und passe auf die Bikes auf, während Jutta sich in die Reihe der Bankkunden anstellt. Ich warte und beobachte das Treiben auf der Straße. Vancouver ist eine fahrradfreundliche Stadt, es gibt Spuren ausschließlich für Biker. Gewöhnungsbedürftig für uns nur, dass sie teilweise mitten zwischen den Autospuren verlaufen. Ist man vertraut mit dem System, kann man als Biker auf gut markierten Spuren durch ganz Vancouver radeln. Wir fahren, als Jutta mit frisch getauschten Geldscheinen aus der Bank kommt, zum Fahrradladen. Es geht nur zwei Blocks weiter, links um die Kurve und schon sind wir da. Ich kaufe zwei Packungen Flickzeug, für jede Fahrradtasche Eine.

Harbour Air

Jetzt wollen wir uns noch China Town ansehen und ich will unbedingt in die East Hastings Street. Die Sachen von der „To do Liste“ sind alle erledigt. Auf dem Weg fahren wir durch das alte Gastown. Vorbei an der Steamclock, die alle 15 Minuten (betrieben durch Wasserdampf) für die Touristen pfeift. Wir stöbern noch kurz durch einige Shops und kaufen unter Anderem einen Canada Sticker für LEMMY.

Steamclock in Gastown

Das mit der East Hastings Street ist eher mein Ding und ich will dorthin fahren, weil mich die Gegend interessiert. Ich weiß noch von unserem ersten Vancouver Besuch im Jahr 2004, dass dort der „No Go District“ für Touristen ist. Chinatown liegt allerdings direkt an dieser „Problemstraße“ und im Reiseführer stand damals, man solle sich dort fern halten. Wenn ich allerdings so etwas lese, dann erregt das in besonderem Maße meine Aufmerksamkeit und zieht mich magisch an, so auch heute. Und ich leite Jutta durch den wuseligen Stadtverkehr in Richtung Chinatown, von der West Hastings Street in die East Hastings Street. Diese Straße ist endlos lang, doch das Grauen spielt sich größtenteils in und um China Town ab. Schon auf dem Weg in diese Gegend werden wir immer schweigsamer, immer ruhiger. Die anfängliche Euphorie hier zu sein, löst sich in Luft auf. Das pure Entsetzen übermannt uns. Das was wir hier zu sehen bekommen, haben wir in dieser Intensität noch in keiner anderen Metropole der Welt gesehen. Wir befinden uns in einem Bezirk der Untoten.

China Town Vancouver

Wir kennen das aus dem normalen Großstadtleben. Jeder hat schon einen Junkie gesehen, einen der an der Nadel hängt, der auf Crack ist oder einige der „Verlorenen“, die auf Meth abfahren. Die Methjunkies bilden hier wohl die größte Gruppe, die diese Gegend um Chinatown bevölkern, die wie lebende Tote umherziehen. Überall stehen Zelte auf den Bürgersteigen und direkt am Straßenrand. Kleidung, die zum Kauf angeboten wird, stapelt sich auf alten Decken und es wird gekauft, was für den ein oder anderen von Nutzen ist und verkauft, was sich noch irgendwie zu Geld machen lässt. Dies ist kein gewöhnlicher Flohmarkt, es ist ein Markt von Junkies für Junkies. 

Shop in China Town

Die Untoten stolpern umher, liegen in den Seitengassen, starren ins Leere und teilweise verhandeln sie einen Deal oder setzen sich einen Schuss. Auch das geschieht hier auf offener Straße und die Behörden scheinen völlig die Kontrolle verloren zu haben. Wir reden nicht, noch nicht. Ich fahre weiter vorweg, biege nach rechts ab, um weiter ins chinesische Viertel vorzudringen. Hinter uns bleibt ein Heer von Drogensüchtigen zurück, die etwas abseits der East Hastings Street die Straßen eher vereinzelt bevölkern. So etwas habe ich nicht erwartet und auch noch nie zuvor erlebt. Weder 2004, als wir in der selben Straße waren, noch sonst irgendwo anders auf der Welt. In der Main Street halten wir kurz, orientieren uns und versuchen das Gesehene zu verarbeiten. Einer der verloren Seelen schlurft vorbei, nimmt kaum Notiz von uns. Seine Jeans hängt in den Knien und seine Unterhose bedeckt nur notdürftig, was sie bedecken soll. Beschämt wenden wir uns ab.

Wir sehen jemanden, bei dem der Hintern in den Himmel ragt und der Kopf unterhalb der Knie hängt. So steht er da, kopfüber, weggebeamt in eine fremden Welt und ich frage mich, wie das anatomisch überhaupt möglich ist. Drumherum sitzen und stehen andere Süchtige, als wäre es das Normalste von der Welt, seinen Rausch in dieser Körperhaltung zu erleben.

Totempfähle im Stanleypark

Kein Trip der Welt ist es wert, so ein Leben führen zu müssen. Was rede ich? Das ist kein Leben, das ist eine Zwischenstation zwischen Leben und Tot. Denn das sind sie, lebende Tote. Sie vegetieren vor sich hin, leben nur von einem Augenblick zum Anderen. Von einem erlösenden Kick zum Nächsten, wenn es denn überhaupt noch einen Kick gibt. Wir sind geschockt. Chinatown in Vancouver ist eine Stadt der lebenden Toten und lässt uns entsetzt zurück. Wir halten erneut kurz an, verständigen uns, dass wir uns das große Tor ein andermal ansehen werden und verlassen dieses Viertel. Die Stadtverwaltung hat hier kapituliert und es scheint so, als sind sich diese armen Seelen selbst überlassen. Ganz bewusst verzichte ich hier auf Fotos.

Die Lions Gate Bridge vom Stanley Park nach West Vancouver

Es geht ähnlich zurück wie wir gekommen sind, durch den Stanley Park und über die Lions Gate Bridge. Von der Brücke werfe ich einen kurzen Blick zurück auf die Skyline und erkenne den Tower mit dem 360 ° Rundumblick. Dort haben wir damals gegessen. Das Restaurant befindet sich weit oben und dreht sich innerhalb einer Stunde einmal um seine eigene Achse, so dass man in jede Richtung schauen kann. Ich versuche an die Reise von damals zu denken, was wir da alles gemacht und erlebt hatten, aber die armen Menschen aus Chinatown tauchen immer wieder in meinem Kopf auf und ich fürchte, diese Bilder nicht mehr loszuwerden. Sie werden mich verfolgen, für eine sehr lange Zeit. 

Lions Gate Bridge

Zuhause versuchen wir mit dem Erlebten fertig zu werden und reden noch ein Weile darüber. Jutta recherchiert noch ein bisschen, ob und was für diese Menschen hier getan wird und ob wir dort etwas spenden können. Sie findet aber nicht so wirklich was und wirft mir vor, dass sie sich das schreckliche Elend nicht hätte „Live“ anschauen müssen und wollen. Viel später, in einigen Wochen werden wir mehr erfahren über die lebenden Toten von Vancouver. Bis dahin wende ich eine altbewährte Strategie an: Verdrängung. Verdrängung aus dem Bewusstsein. Bevor wir zu Bett gehen versuche ich mit viel Bier all das herunter zu spülen…

Lions Gate Bridge

Ein neuer Tag bricht an und die Geister der vergangenen Nacht sind für den Augenblick aus meinem Kopf verschwunden, schließlich hatte ich jahrzehntelanges Training. Meine Psychologin hatte mir während einer Verhaltenstherapie in einer 11-monatigen „Burn Out Phase“ oder wie es die Mediziner nennen „Akutes Belastungssyndrom“ erklärt, dass ich in meiner Kindheit zu meinem eigenen Schutz, die Strategie der Verdrängung erlernt habe. Weiter möchte ich an dieser Stelle nicht darauf eingehen, aber so viel sei gesagt: „Diese Art der Bewältigung hat mir wahrscheinlich den Arsch gerettet!“

Zunächst lassen wir es gemütlich angehen. Erledigen profane Aufgaben wie Wäsche machen, die Staufächer aufräumen, lesen, Sudoku und abhängen. Nach dem Mittagsschlaf gibt es noch Kaffee und Kuchen, dann eine heiße Dusche. Heute Abend wollen wir ausgehen in eine Metal Kneipe und ich habe mich für „The Moose“ entschieden. Jutta ist einverstanden und in der Regel ist es mein Privileg die Location auswählen zu dürfen. Manchmal sucht Jutta auch selber was raus, dann aber immer mit dem Hintergedanken, dass es mir dort gefällt und Metal, Punk, Hardcore und/oder Rock gespielt wird, gerne auch Live. Darüber bin ich sehr glücklich, denn mittlerweile wisst ihr, wie wichtig Musik für mich ist.

Zuhause

„Wie lange brauchst du noch?“, frage ich ungeduldig. Wir werden mit dem Bus fahren, der direkt oben auf unserer Seite der Lions Gate Bridge hält. Jutta ist noch im Bad und ich langweile mich immer ein wenig, wenn ich warten muss. „Bin gleich fertig, bleib ruhig. Nur noch ein paar Minuten!“, sagt sie.

Deine paar Minuten kenne ich, denke ich und hole mir ein kleines Bier aus dem Kühlschrank.  „Ziiiiiiiisch!“ Wie üblich ist es eine Dose und sofort nachdem ich sie geöffnet habe vernehme ich eine Stimme aus dem Bad: „Hast du dir etwa gerade ein Bier aufgemacht?“

„Ja, was hat mich bloß verraten?“

Dann ist es soweit, Jutta kommt top gestylt hinter dem Vorhang hervor und wir können los.

Bis zum Bus sind es keine 10 Minuten zu laufen. Wir müssen nur eine Treppe hoch auf die Brücke und in der Kurve am Anfang ist die Haltestelle. Das Timing ist perfekt, nach weniger als fünf Minuten sehen wir den Bus kommen. Kurzer Check ob die Nummer stimmt, OP Maske auf und die Karte aus dem Automaten an den Scanner beim Busfahrer halten.

Geht nicht. Es leuchtet rot auf. Irgendwas mache ich verkehrt. Der Fahrer hilft mir, anders rum funktioniert die Karte dann. Es leuchtet grün und ich kann eintreten und mir einen von vielen freien Plätzen aussuchen. Jutta hat beobachtet, wie es richtig geht und kommt zu mir an meinen Fensterplatz.

In der Abenddämmerung überqueren wir die Brücke und beobachten wie die Lichter in Downtown nach und nach angehen. Jutta behält auf ihrem Handy im Blick, wo wir aktuell sind und wie viele Haltestellen noch kommen, bis wir aussteigen müssen. Kurz vor der Granville Street verlassen wir den Bus. Genau an dieser Haltestelle ist ein ganzer Gebäudekomplex für einen Filmdreh abgesperrt. Überall stehen helle Scheinwerfer, Kräne mit Kameras und eine Menge Leute laufen geschäftig umher. Gedreht wird allerdings noch nicht, aber die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Ich bin durstig und so gehen wir zügig weiter. Wir sind im Nightlife District zwischen Downtown und Yale Town. Auf der Karte habe ich mir Zuhause schon angeschaut, wo wir lang gehen müssen und es ist nicht weit. Einmal rechts in die Granville Street und dann etwas weiter gen Norden und in die Nelson Street wieder rechts rein. Die ersten Nachtschwärmer sind unterwegs und immer mehr Lichter gehen an, während der Himmel sich weiter verdunkelt.

Vancouver

Je nachdem in welche Himmelsrichtung wir schauen, sehen wir durch schmale  Hochhäuserschluchten die weit entfernten, schneebedeckten Berge. Auf den Straßen ist ein geschäftiges Treiben von Leuten, die unterwegs sind zu einer Verabredung in einem Restaurant, in einer Bar oder Andere, die noch shoppen. Überall ist was los und eine Menge Leute bevölkern die Szenerie. In einer anderen Blickrichtung sind die Gebäude dann weniger hoch und keine Berge sind zu sehen, dafür aber endlose Straßen, die ins Nirgendwo führen, raus aus der Stadt, gesäumt von hell beleuchteten Diners. Darüber tiefblauer, sich verdunkelnder Himmel. Wir kommen vorbei an Kinos, Bars, Irish Pubs und vielen Restaurants, Shops, Museen und Nightlife Venues. Dann sehen wir endlich „The Moose Vancouver“ und gehen rein.

Night comes down…

Diese Bar ist auf Anhieb nach meinem Geschmack, die Musik ist laut, das Licht schummrig und der Tresen dominant. Wir setzen uns an einen kleinen Stehtisch mit hohen Hockern. Es ist die perfekte Mischung aus dirty, loud & cool. Keine zwei Minuten später ist eine Bedienung bei uns am Tisch. Ich bestelle mir ein Pabst Blue Ribbon und Jutta wählt ein frisch gezapftes local beer. Als die Bardame die Getränke serviert, prosten wir uns zu und freuen uns in der Stadt zu sein, aber auch auf die nächste Station: Vancouver Island. Mir schmeckt mein Bier ganz ausgezeichnet. Kein Wunder, denn Pabst Blue Ribbon ist immer noch eines meiner Lieblingsbiere. Jutta mag ihres nicht besonders. „Komm, dann tauschen wir!“, biete ich an und Jutta bekommt mein Pabst. Wir reden und beobachten die anderen Gäste. Die Bar ist ziemlich voll und am Tresen spielt sich eine kuriose Szene ab. Vom Plattenteller läuft Slipknot : „Psychosocial“.

The Moose Bar Vancouver

Ein Typ sitzt mit seiner Freundin an der Bar, aber unglücklicherweise haben die Hocker zwei unterschiedliche Höhen. Der Hocker der Freundin ist gut 30 cm höher als seiner und er muss die ganze Zeit zu ihr hoch schauen. Er geht durch den Pub und fragt auch an den Stehtischen nach freien Hockern. Leider hat er kein Glück. So kehrt er unvollendeter Dinge zurück und nimmt es mit Humor. Spaß haben die Beiden auch (oder vielleicht gerade wegen) der unterschiedlichen Aussicht.

The Moose

Wir planen grob den Trip nach Vancouver Island und reden darüber, was uns wichtig ist. Jutta will unbedingt Whale Watching machen und diesmal werden wir das auch durchziehen. Die Gelegenheit dazu hatten wir schon oft, sei es in Australien, in den USA oder auf früheren Kanadareisen, egal ob an der Westküste oder an der Ostküste. Nie haben wir uns dafür entschieden so eine Tour zu buchen. Ich war da immer so ein bisschen die Bremse, weil ich nie bereit war dafür so viel Geld auszugeben. Aber in Tofino soll es endlich soweit sein.

Mir ist wichtig nach Port Hardy ganz im Norden zu fahren und in die Hauptstadt von B. C., nach Victoria, im Süden von Vancouver Island. Wo wir Wale beobachten ist für Jutta unbedeutend, aber ich möchte gerne nach Tofino fahren, auf die Westseite der Insel, an den offenen Pazifik, gegenüber von Japan. Diese geographischen Details sind Jutta völlig egal, solange es Wale zu sehen gibt, aber mir sind sie sehr wichtig. Jutta bucht uns eine Fährpassage von der Horseshoe Bay nach Nanaimo. Das heißt, wir haben noch etwas Zeit für Vancouver, bevor wir in ein paar Tagen zur Fähre müssen.

„Ich würde gerne noch etwas durch die Stadt cruisen und die architektonisch interessante Bibliothek besuchen und dann müssen wir eigentlich auch noch einen Ölwechsel machen.“, sage ich. So schmieden wir Pläne für die nächste Zeit, bestellen uns Bier nach, wenn die Gläser leerer werden und genießen die laute Musik und die nette Bedienung, die flott Nachschub liefert. Aufgrund meiner Begeisterung für diese Bar plädiere ich dafür, nach unserem Abstecher auf die Insel unbedingt noch mindestens eine weitere Nacht in Vancouver zu verbringen, damit wir hier noch einmal einkehren können. Jutta ist einverstanden und es ist beschlossen. Aus den Boxen hören wir „Ramshackle Glory – Die the nightmare“. Schon etwas bierselig wird mir klar, wie sehr ich diese Stadt liebe und das Moose.

Da fällt mir eine Kneipe in Polen ein, ich glaube es war in Krakow. Es ist erst knapp ein Jahr her und Corona hält die Welt bereits in Atem. Wir wollten auf ein Punkkonzert gehen in einer kleinen Kellerbar und als wir die Treppe runtergegangen sind, stand dort ein Schild, dass man möglichst 2 Meter Abstand halten soll zur nächsten Person. Als wir unten angekommen sind und um die Ecke geschaut haben, standen dort ungefähr 50 Leute auf 20 Quadratmetern vor der Bühne. Da sind wir lieber wieder umgedreht und haben uns eine andere Bar gesucht. Auf dem Weg in die andere Kneipe haben wir beim Zurückschauen gesehen, wie die Polizei das Konzert mit mehreren Mannschaftswagen aufgelöst hat. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist das Passwort für das Wlan in der nächsten Kneipe, die auch echt gerockt hat, in der aber alles relativ coronakonform lief. Ich fragte die maskierte Barkeeperin bei meiner Bierbestellung, ob sie mir den Login in ihr Wifi verrät und sie sagte: „I LOVE THIS BAR!“ Ich verstand und antwortete: „Thanks Sweatheart, me too!“

Mein Bier ist fast leer und ein Gefühl des Unwohlseins überkommt mich, weil ich die Bedienung seit einer Weile nicht mehr gesehen habe. Jutta rutscht schon unruhig auf ihrem Hocker hin und her. „Wollen wir nicht bald los?“, fragt sie. „Die Busse fahren nicht die ganze Nacht durch!“

„Ja, gleich!“, sage ich. „Nur ein Bier noch bitte, Ok?“

„Na gut, eins noch!“

Restroom im Moose Vancouver

Glücklicherweise taucht die Bedienung wieder auf und ich bekomme ein letztes Bier im „The Moose“, dann verlassen wir die Bar und gehen zur Bushaltestelle. Jetzt müssen wir über eine Dreiviertelstunde warten, bis der Bus kommt. Jutta überwacht und kommentiert die aktuellen News von ihrem Handy. „Da kommt gleich ein Bus!“. Und dann: „Ach nee, der fährt woanders hin.“

Ich übe mich in Geduld und schweife ab mit meinen Gedanken. Um uns herum haben einige Obdachlose ihr Lager aufgeschlagen. Ich denke darüber nach, was eigentlich der Unterschied ist zwischen New York und Vancouver, denn beide Städte zähle ich zu meinen Favoriten. Vancouver ist wohl die schönere Stadt, die ruhigere und unaufgeregtere Metropole. Sie ist die spektakulärere Stadt, wenn es um die Umgebung geht, um die Berge, die Natur und die Wildnis. Vancouver hat einiges zu bieten, was das Nachtleben angeht, ist weltoffen und multikulturell, wie nur wenige andere Städte auf dem Globus. New York ist lauter, dreckiger, abgefuckter, größer und in jeder Hinsicht aufregender. NYC ist auch weniger weltoffen und nicht von so einer begnadeten Natur umgeben. Vancouver hat die East Hastings Street und damit einen Stadtteil, bevölkert von lebenden Toten. New York hat vermutlich nicht weniger Junkies, nur fällt es nicht so auf, weil sich die Untoten unter die Lebenden mischen und sich auf einer viel größeren Fläche verteilen, in Brooklyn, Manhattan, Queens, Hoboken, Jersey und der Bronx. Was ist aber nun besser, stelle ich mir die Frage? Wenn ich mich hier und jetzt entscheiden müsste, wo ich leben will, dann würde ich wahrscheinlich sagen: „New York City!“

Warten auf den Nachtbus

„Da kommt der Bus!“, ruft Jutta. Wir checken die Nummer, setzen unsere Masken auf und steigen ein. Karte an den Scanner, grünes Licht, richtiger Signalton und durch die Nacht geht es durch den Stanley Park und über die Lions Gate Bridge nach Hause. Und einmal mehr wird mir klar: Zu Hause ist dort wo LEMMY steht.

Jutta ist müde und macht sich bettfertig. Ich bin viel zu aufgedreht und will noch schreiben. Das Thema gerade ist New York. „Ziiiiisch!“

Nachtschicht am Laptop

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich heute Nacht schreiben werde…….

Bei der Arbeit

Die Tage in Vancouver gehen zu schnell vorbei und der Tag des Abschieds überrumpelt mich irgendwie, obwohl ich genau wusste, was kommen wird. Manchmal hat es geregnet und wir sind einfach zuhause geblieben, obwohl diese galaktische Stadt vor unserer Tür liegt. Kann man das machen? Darf man zuhause bleiben, obwohl man in Vancouver ist? Darf man in seinem Camper sitzen bleiben, wenn es in einer der grandiosesten Städte der Welt regnet?

„Ja, man darf das machen!“ Aber nur, wenn man schon mal dort war. Geht raus in diese Stadt, erkundet sie, lebt sie und inhaliert sie. Vancouver ist einzigartig!“

Bibliothek

Unsere Fähre nach Vancouver Island legt erst am Nachmittag ab, der Termin mit dem Ölwechsel in der NS (North Shore Repair) Werkstatt ist gegen Mittag und vorher haben wir noch etwas Zeit ein letztes Mal durch die Stadt zu fahren und unter Anderem die Bibliothek zu besuchen. Leider läuft es mal wieder nicht nach Plan. Ich kann noch durch Downtown cruisen und auch der Termin in der Werkstatt für den Ölwechsel steht. Doch leider kommt es anders als zugesagt. Und das dieser Ölwechsel mehr als 10 000 Kilometer später an der Ostküste noch richtig Probleme verursachen wird, das ist eine andere Geschichte.

Downtown Vancouver

Im Internet haben wir schon erfahren, dass es wohl schwierig werden wird mit einem Ölfiltertausch in Amerika. Umso überraschter haben wir darauf reagiert, als es auf Juttas Frage vor Ort heißt: „Kein Problem, das können wir machen!“ Es dauert nur eine Stunde und wir können entspannt einen Kaffee trinken gehen. Sie rufen uns an, wenn alles fertig ist. Ich frage noch nach, ob es tatsächlich klappt, sogar mit dem Filter? „Ja ja, sicher!“

NS Auto Repair

Fröhlich spazieren wir an die nahegelegene Waterfront von West Vancouver, um zunächst mal die Aussicht auf Downtown zu genießen und danach tatsächlich einen Kaffee zu trinken und uns einen Lunch zu genehmigen. Nach dem Spaziergang, dem Lunch und dem Kaffee in einer wirklich netten Location werden wir langsam unruhig. Nach ca. 80 Minuten klingelt Juttas Telefon. Es wird leider doch nichts mit dem Filter. Wir können kommen und das Auto abholen. In der Werkstatt erfahren wir dann, den Filter, den wir brauchen, gibt es nur in Europa und Australien. Wir haben den europäischen Ford Ranger, der ist ganz anders als der Amerikanische. Wenn sie den Ölfilter wechseln sollen, dann müssen sie ihn erst bestellen und wir können uns auf zwei Wochen Wartezeit einstellen, oder länger. Außerdem rät uns der Mechaniker, nach spätestens 10000 Kilometern den nächsten Service machen zu lassen, da das amerikanische Motoröl nicht annähernd so gut ist, wie unseres in Europa. Wir sind trotzdem zufrieden mit der Leistung von North Shore Repair Service, da sie alles offen mit uns kommuniziert haben.

Vancouver Skyline

Jetzt machen wir uns auf den Weg zur Horseshoe Bay, (wo auch ein Teil der Serie „Bates Motel“ gedreht wurde) um von dort mit der Fähre nach Nanaimo zu fahren. Beim Bezahlen der Rechnung im Büro, erfahren wir noch, dass die Werkstatt ein Familienbetrieb ist und sie alle aus Bulgarien kommen. Die Dame am Schreibtisch fragt uns, wie wir unser Auto verschifft haben. „Mit Seabridge haben wir das gemacht, Roll on, roll off. Aber PKWs im Container sind günstiger. Und dann gibt es auch noch Firmen, wie Overlander Shipping, die ebenso Fahrzeuge aller Art, unter anderem von Hamburg in die ganze Welt verschiffen.“

Es dauert nur eine halbe Stunde bis zur Fähre und da wir reichlich Zeit bis zur Überfahrt haben, gucken wir uns Horseshoe Bay an, um Drehorte aus der Serie wiederzuerkennen. Das gelingt uns nur bedingt, aber die Serie Bates Motel zu schauen kann ich uneingeschränkt empfehlen, da die Darsteller total klasse sind. Die Story ist morbide, skurril und die Kulisse großartig.

Horseshoe Bay

Auf der Fähre stürme ich relativ schnell nach oben, um gute Plätze vorne mit einer schönen Aussicht zu sichern. Jutta will sich vorher im Auto noch die Nase pudern. Es gelingt mir in der ersten Reihe zwei Plätze zu ergattern. Doch das junge Pärchen links von mir hustet ordentlich. Mir ist ziemlich unwohl dabei neben ihnen zu sitzen, obwohl zwischen uns ein Platz frei bleibt. Jutta kommt dazu und setzt sich an meine Seite. Ich blende das Risiko aus, hoffe Corona verschont uns und bleibe optimistisch. Dann kommen wir in Nanaimo an und verlassen die Fähre. Ich vermute, die beiden jungen Leute, die bei uns gesessen haben, sind mit dem Zelt unterwegs. Sie sahen aus wie typische Backpacker, wie wir es selber früher waren.

BC Ferries Horseshoe Bay – Nanaimo

Wir fahren noch etwas raus aus der Stadt, auf einen Costco Parkplatz, wo wir für lau stehen können, aber auch hier treiben sich einige Junkies rum. Mich wundert es, wenn auf Inseln Drogensüchtige anzutreffen sind. Schon auf Vashon Island konnte ich das nicht verstehen. Denn sogar dort haben wir einen Junkie gesehen, der ja auch irgendwie an seinen Stoff kommen muss. Und die Nachfrage auf einer Insel hält sich vermutlich in Grenzen und das Angebot demnach auch, da lukrative Geschäfte eher unwahrscheinlich sind. Er wird wohl jedes Mal nach Seattle müssen, um Nachschub zu kaufen. Nun kann man das kleine Vashon Island natürlich nicht annähernd mit Vancouver Island vergleichen und ich verwerfe den Gedanken.

Vancouver Island

Hier und heute bleibe ich wachsam und beobachte aus dem Fenster, was um unser Auto herum geschieht. Die kleine Truppe von vier Junkies zieht weiter und das Sofa hinter dem Supermarkt bleibt diese Nacht unbesetzt. Wohlmöglich liegt es daran, dass wir uns in diese entlegene Ecke des Parkplatzes gestellt haben und wie Störenfriede wirken. Die einzigen Camper von der Fähre sind wir allerdings nicht, zwei andere nutzen diesen IOverlander Tipp ebenfalls. Einer ist ein alter VW Bus, der Andere ein klappriger Pickup mit Absetzkabine hinten drauf. Sie stellen sich etwas weiter entfernt von uns hin.         

Stellplatz beim Costco

Morgen wollen wir bis Campbell River kommen, immer dicht am Wasser entlang. Es sind keine 180 km zu fahren und der direkte schnelle Freeway würde ca. anderthalb Stunden dauern. Aber wir wollen den schöneren längeren Weg nehmen, obwohl es mindestens eine weitere Stunde im Auto bedeutet. Leider ist die Wetterprognose für morgen nicht besonders, viele Wolken und etwas Regen sind angesagt.

Ich mache noch einen Rundgang ums Auto, wundere mich etwas über die verschiedenen Stühle, die hier so in den Büschen rumstehen, außer dem Sofa wohlgemerkt. Dann entleere ich den Peetank in einem Abfluss in der Nähe des Wagens und wir gehen schlafen.

„Ich gehe mal eben in den Costco , gucken was sie dort so haben!“, sagt Jutta. Noch im Halbschlaf antworte ich: „Waaas, wo willst du hin? Gibt es schon Kaffee?“

„Nee, den kannst du ja heute mal machen!“

Auf mich alleine gestellt stehe ich auf, koche Kaffee und hoffe, dass Jutta nicht zu sehr in Shoppinglaune ist.

Dann bereite ich das Frühstück vor. Ist ja nicht so, dass ich dazu nicht in der Lage wäre.

Es dauert nicht lange, da ist Jutta schon zurück. „Ohne Kundenkarte kommt man nicht in den Laden. Scheint so etwas zu sein wie bei uns Metro.“, sagt sie. Ich verberge, wie erfreut ich darüber bin und sage: „Ach wie schade, naja, dann kommen wir etwas eher los!“ Jutta durchschaut mich, sagt aber nichts. Ihre Blicke sagen Alles.

Vancouver Island empfängt uns ungemütlich, stürmisch, bewölkt und mit viel Regen. Gelegentlich lassen die triefenden Wolken mal etwas Sonnenstrahlen durchblicken. Aber wir sind trotzdem bester Laune und erfreuen uns am Ausblick auf das Wasser während der Fahrt und an den schönen Häusern, die unsere Route säumen.

Strait of Georgia

Im Sommer wird Campbell River von Touristen, vor allem Anglern, überrannt. Aber jetzt, nach ca. zweieinhalb Stunden Fahrt sind wir ganz alleine am Pier. Es ist der 26. April und fühlt sich an, als würde der Winter sich gerade verabschieden und der Frühling erstreitet sich die Berechtigung in Erscheinung treten zu dürfen.

Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Dieses Erlebnis hatten wir bereits etliche Male. Normalerweise erlebt man den Frühling einmal pro Jahr, wir hatten das zweifelhafte Vergnügen in den letzten Wochen durch Amerika bereits dutzende Male. Vom tiefsten Winter in Kanada sind wir in den endlosen Sommer Floridas gefahren, in die subtropischen Everglades, nach Key West in die Karibik. Davor und danach ging es rauf und runter mit den Temperaturen. In Louisiana war es tagsüber heiß und abends kühl, in Texas begann dann der Frühling wieder mal von Neuem. Und in New Mexico gab es alles, von Schnee in Santa Fe und traumhaftem Frühsommer in den endlosen Weiten dieses unterschätzten Bundesstaates. In Utah, Arizona und Colorado glaubten wir dann tatsächlich irgendwann den Frühling hinter uns zu lassen, spätestens in den Wüsten Kaliforniens, aber das war wohl nichts. Der Frühling und sogar Schnee und Winterwetter werden uns noch lange begleiten und wir gewöhnen uns daran. Auch an den ständig wiederkehrenden Frühlingsanfang. Aber ich schweife ab, wir sind in Campbell River. Ich parke, wo Jutta mich hinnavigiert, auf den Parkplatz des örtlichen Museums. Dann wollen wir einen kleinen Spaziergang zum Pier machen.

Maritime Heritage Centre, Campbell River

Gerade ist es trocken und mit dickem Pullover und Schal gegen den Wind gewappnet, gehen wir über ausgebleichte, wettergegerbte Planken einen Steg für die Angler entlang. Der Kiosk aus blau gestrichenen Brettern, der im Sommer Eis am Stiel und Fish & Chips verkauft, hat geschlossen. Die Anglerpositionen sind unbesetzt. Wir laufen einmal den ganzen langen Steg entlang und schauen rüber auf die Inseln der Strait of Georgia. Zwischendurch sehen wir überdachte Waschstationen, an denen die Fischer ihren Fang säubern und vorbereiten können. Uns wird kalt und wir haben Lust noch was Leckeres essen zu gehen. Ob wir hier stehen bleiben werden, wissen wir jetzt auch noch nicht. Es gibt ein nettes Lokal in der Nähe, den Riptide Pub. Wir beschließen dort hinzufahren und dann zu entscheiden, wo wir die Nacht verbringen werden.

Campbell River Pier

Wir brauchen nur fünf Minuten mit dem Auto und stellen LEMMY auf einem schlammigen, nicht asphaltierten Parkplatz ab. Aber wie es aussieht ist es nicht erlaubt über Nacht stehen zu bleiben, glaubt man den Schildern. Einige ältere Motorhomes stehen zwar da, aber wir wissen nicht, ob die Menschen dazu hier leben und geduldet werden oder ob sie den Platz noch verlassen, bevor die Frist abläuft. Ich sage: „Wir fahren nach dem Essen zurück auf den anderen Platz, wo wir gerade herkommen. Dann trinke ich eben nur zwei Bier!“ Jutta findet das gut und somit ist es beschlossen. Das Riptide ist mehr ein Restaurant als ein Pub und das Publikum wirkt für meinen Geschmack etwas zu gediegen. Das Essen ist gut, ich habe Fish & Chips vor mir und Jutta isst Lachs und Reis mit Gemüse. Zum Trinken genehmige ich mir ein dunkles Alexander Keith Beer und Jutta den roten Hauswein. Nach dem zweiten Drink verlassen wir den Pub, fahren zurück auf den Parkplatz am Pier und gehen früh zu Bett. Morgen wollen wir tief in die Wälder von Vancouver Island eintauchen, in die Regenwälder, die Urwälder, die es immer noch sind, trotz immenser Abholzung.

Riptide Pub
Whale Watching and Grizzly Tours

Morgens gibt es nur ein kleines Frühstück, dann geht es los. Mit Vorräten haben wir uns in Vancouver eingedeckt. Der erste Stopp ist schon nach wenigen Minuten erreicht, der Elk Fall am Campbell River. Ich biege rechts von der Durchgangsstraße ab, auf den Parkplatz zum Wasserfall und sehe einen anderen Overlander dort stehen. Den kenne ich doch, denke ich. „Hallunke“, steht dort oben am Heck der Aufsetzkabine. Ich meine den Wagen schon mal in Utah im Arches N. P. gesehen zu haben, aber darauf wetten will ich nicht. Einige Sticker am Heck zeugen davon, wo er schon überall rumgekommen ist. Utah ist nicht dabei. Ich parke direkt neben dem Overlander, dann machen wir uns auf die Wanderung zum Wasserfall. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, sollten wir die Hallunken nicht treffen.

Hallunke Camper
Overlander

Das Wetter meint es gut mit uns. Die Sonne scheint und die Insel zeigt sich heute von ihrer lieblichen Seite. Uns kommen wenige Leute entgegen auf unserem Weg zum Elk Fall. Wir versuchen genau zu horchen, ob sie deutsch sprechen, aber das passiert nicht. Die Hallunke Camper werden wohl auf anderen Pfaden wandern. Jutta will sie später mal anschreiben. Sie haben einen Instagram Aufkleber am Auto.

Wir marschieren durch dichten grünen Wald, über schlammigen Boden und Brücken und die Sonne triumphiert über die Wolken. Bevor wir den Wasserfall erreichen, können wir das Rauschen hören und vor einer letzten Hängebrücke sehen wir ihn endlich. Treppen wurden gebaut, um uns den Zugang so angenehm wie möglich zu machen. Mir wäre es lieber, der Zugang wäre beschwerlicher und jeder der den Wasserfall sehen will, muss für sich seinen eigenen Weg finden oder den ausgetretenen Pfaden folgen. Wo bleibt hier das Abenteuer? Barrierefrei ist der Zugang zum Elk Fall schon wegen der vielen Treppen nicht, aber vermutlich will man wenigstens den Weg dorthin so angenehm wie möglich gestalten und gehbehinderte Menschen werden es begrüßen. Und natürlich geht es auch um Naturschutz. Würde Jeder seinen eigenen Weg suchen, dauert es nicht lange, bis alles plattgetrampelt ist. Ich denke, wie egoistisch meine Gedanken manchmal sind und nehme mir vor, mich zu bessern.

Elk Fall

Nach kurzer Verweildauer machen wir uns auf den Rückweg, denn wir wollen noch viel weiter in den Urwald eindringen. Die Hallunken finden wir nicht. Unsere Reise geht nach Gold River, um von dort einer Holzfällerpiste nach Woss zu folgen. Das ist eine Offroadstrecke auf der eigentlich nur Trucks aus der Holzindustrie fahren und Overlander mit Allradantrieb, die abseits an entlegenen Traumplätzen stehen wollen.

Jutta hat etwas Probleme mit der Navigation, denn die Straßen sind keine Straßen, es sind Dirtroads, die nicht in unserem Tomtom vorhanden sind und der Internetempfang ist sehr schlecht. Das Wegenetz in unserer offline App Maps.me ist ein Labyrinth. Wir haben nun unterschiedliche Möglichkeiten in verschiedene Richtungen weiter zu fahren und wählen intuitiv eine aus, die uns richtig erscheint.

Jetzt und hier wird uns klar, wir sind in der Wildnis unterwegs. Es ist holprig zu fahren, aber nicht wirklich anspruchsvoll. Gegenverkehr hatten wir schon auf der asphaltierten Straße kaum, nun wird es erst recht keinen mehr geben. Ich bin begeistert von der Strecke und freue mich mal runter vom Asphalt zu sein, obwohl die Schlaglöcher schon nerven. Jutta freut sich trotz der schlechten Piste über die Natur um uns herum. Besonders schnell kann ich nicht fahren und alle naselang führt eine Brücke über einen kleinen Fluss, mit einem nicht unerheblichen Höhenunterschied bei der Auf- und Abfahrt. Für mich bedeutet das: Aufmerksamkeit sehr hoch halten! Das tue ich eigentlich immer, aber manchmal ist es echt nötig noch ein Quentchen mehr zu geben, um Schäden am Fahrzeug zu vermeiden.

Piste von Gold River nach Woss

Unbeschadet kommen wir an, ohne einen Holzfällertruck zu sehen oder überhaupt Irgendjemanden. Wir stellen uns auf einen abgelegenen, verlassenen Stellplatz zwischen Gold River und Woss. Diese Recreation Area am Lower Klaklakama Lake ist fantastisch und wir haben den Platz für uns alleine. Theoretisch dürften wir hier für zwei Wochen stehen bleiben. Utopisch für mich. An der Feuerstelle wurde ein wenig Holz zurück gelassen. Das ist so eine nette Geste, die ich mir in Zukunft zu eigen machen werde. Ich fahre LEMMY auf die Keile, dann kümmere ich mich um das Lagerfeuer.

Klaklakama Lake

Am Feuer lassen wir den Abend ausklingen, mit einem wahnsinnigen Blick über den See. Alleine, umgeben von Bergen, Bäumen und vielleicht einem Bären in der Nähe oder einem Wolf? Es fühlt sich ein bisschen an wie im Paradies. Nur die Temperaturen könnten etwas höher sein.

Wir sehen natürlich auch die negativen Auswirkungen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Die abgeholzte Fläche sieht aus, wie der Geist vom alten Atari Klassiker Pac Man. Die wenigen intakten Wälder bilden ein einzigartiges, bedrohtes Ökosystem. Es handelt sich um alten Küstenregenwald mit riesigen Bäumen im Alter von bis zu 2000 Jahren. Trotz großer Proteste von Umweltschützern und Menschen der First Nation wird weiterhin Profit vor Naturschutz gestellt.

Sun goes down in Paradies

Da wir bereits zeitig mit dem Lagerfeuer angefangen haben, geht mir das gesammelte und das wenige bereitgelegte Holz aus. Im Dunkeln will ich keinen Nachschub mehr suchen, also begeben wir uns ins Auto und ich entschließe mich, das dritte Chapter zu beginnen. Jutta macht sichs gemütlich und ich fahre mein Laptop hoch und versorge mich mit einem Bier und einem White Russian. Der Mond scheint hell über dem See. Das Lagerfeuer glimmt nur noch etwas vor sich hin, bei meinem Kontrollblick aus dem Fenster.

Ich beginne ein neues Chapter: DOWN THE EAST COAST TO KEY WEST, 90 MILES CLOSE TO CUBA……Hannah Montana does the African Savannah und was meine Freundin Maddi damit zu tun hat…

Into the wild

Da ich bis in die Morgenstunden geschrieben habe, schlafe ich lange. Jutta sitzt schon lesend draußen am See, als ich mit meinem ersten Kaffee dazustoße. Wir verbringen einen weiteren Tag im Paradies und weil ich mit meiner Schreibarbeit der letzten Nacht ganz zufrieden bin, muss ich heute nichts tun, außer die Natur genießen. Na gut, etwas Feuerholz sammeln muss ich auch, das ist halt mein Job.

Beim Nachmittagskaffee folgt eine, mir mittlerweile liebgewonnene Routine: das Besprechen der nächsten Tage: Whale Watching in Tofino, vorher nach Port Hardy, wo unter anderem die Fähre für die Inside Passage nach Alaska ablegt. Für Alaska, den größten US Bundesstaat haben wir leider keine Zeit. Das ist auf dieser Reise gecancelt und wird in den nächsten Jahren nachgeholt. Von Port Hardy aus wollen wir dann weiter nach Port Alice, Richtung Westcoast. Das soll eine traumhafte Strecke sein, die wir allerdings auch wieder zurück fahren müssen, weil sie dort im Westen endet. Das nächste Ziel ist dann Telegraph Cove, wo wir auf dem Weg nach Tofino halt machen werden. Danach noch ein Stop in Victoria. Eigentlich will ich auch eine Nacht in der Hafenstadt Nanaimo verbringen, aber Jutta ist nicht begeistert von dieser Idee.

Wir waren bereits 2004 dort. Es war eine kombinierte Reise. 3 Wochen hatten wir einen Camper von CanaDream für B. C. und Alberta. Danach ging es für eine Woche mit einem Leihwagen, einem dunkelblauen GMC Envoy, nach Washington in die USA , nach Seattle und Twin Peaks.

Während der damaligen Reise, bei der Jutta auch nur einen Bruchteil der Strecke gefahren ist, ausgerechnet auf dem Rückweg von Twin Peaks nach Vancouver hat es geknallt. Ich war etwas verkatert von der Abschiedsnacht in North Bend und wollte am nächsten Morgen mit dem Restalkohol im Blut nicht fahren. Jutta war bereit, den GMC Envoy über die Grenze zu bringen, obwohl sie große Autos nicht gerne fährt.

In Arlington (Washington/USA) ist es dann passiert. Sie steuert den Wagen auf eine große Ampelkreuzung zu. Es herrscht wenig Verkehr und alles ist gut einzusehen. Vor der Kreuzung über der Straße ist, wie üblich in Amerika, eine große Warntafel mit orangefarbenen Leuchten, die zu blinken anfangen, wenn die Ampel in Kürze auf Rot wechselt. „Prepare to stop!“, steht da drauf. Jutta passiert dieses Schild und die Lichter fangen kurz davor an zu blinken. Ich sitze mit Kopfschmerzen neben ihr auf dem Beifahrersitz. Weit hinter uns fährt ein Dodge Van. Wir lassen die blinkende Warntafel im Rückspiegel verschwinden und kommen der Ampel immer näher. Das Signal wechselt von grün auf gelb. Jutta bremst kurz an und beschleunigt dann. Ich gucke irritiert und denke: „OK, dann gib mal Gas“. Gesagt habe ich nichts. Was jetzt geschieht spielt sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Jutta tippt auf die Bremse, löst diese wieder um dann doch vor der Ampel hart in die Eisen zugehen. Der Dodge Ram Van kommt schnell näher und scheint das Bremsmanöver nicht richtig mitzubekommen, obwohl er eigentlich die rote Ampel gesehen haben müsste. Dann knallt es, er ist uns in den Kofferraum gefahren und hat uns über die Ampel mitten auf die Fahrbahn für den Querverkehr gedrückt.

Ich gucke rüber zu Jutta, ob sie unversehrt ist. „Ist alles OK bei dir?“, frage ich. Etwas benommen antwortet sie: „Ja, ja, mir geht´s gut!“

„Du musst eben über die Straße fahren, wir stehen mitten auf der Kreuzung!“ Auf der anderen Seite fährt sie rechts ran und ich stürze raus aus dem Envoy und laufe über die Kreuzung zum Fahrer des Dodges. Ich reiße die Fahrertür auf und frage: „Are you ok?“

Er nickt langsam, ohne mich anzusehen. Dann sagt er nach einer Weile: „It was my fault!“ Jetzt kommt auch Jutta dazu und ich registriere die Latschen an ihren Füßen. Eine Sirene ist aus der Ferne zu hören. „Geh noch mal schnell rüber zum Auto und zieh dir feste Schuhe an!“, höre ich mich sagen. „Ihm geht es gut.“

Klaklakama Lake

Zwei Minuten später erreicht ein Krankenwagen die Unfallstelle und ein Streifenwagen folgt sofort darauf. Wir sind alle unverletzt und ein Policeman nimmt das Protokoll auf. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie alles so schnell gehen konnte und wer die Polizei und die Rettungskräfte gerufen hat. Wir bedanken uns bei den Einsatzkräften, bekommen einen „Report“ von der Polizei ausgehändigt, den wir dem Autoverleiher vorlegen sollen und verabschieden uns vom Vanfahrer. Er entschuldigt sich bei uns, weil er gepennt hat, obwohl ich tatsächlich Jutta für mitschuldig halte, da sie sich nicht entscheiden konnte entweder zu stoppen oder Gas zu geben. Ohne Frage aber ist es klar, wer auffährt hat Schuld, auch in den USA.

Wir gehen zurück zum Auto, um die Schäden beim Leihwagen zu begutachten und stellen mit Schrecken fest, dass er hinten am eingedrückten Kofferraum eine Menge Flüssigkeit verliert. Es ist aber nur die Styroporkühlbox aus dem Hardware Store, aus der das Eiswasser ausläuft. Zum Glück sind die meisten Bierflaschen und Softdrinks unbeschädigt. Wir können weiterfahren und unverzüglich nach dem problemlosen Grenzübertritt tauschen wir am Airport von Vancouver den Wagen. Am Avisschalter geht es dann auch erstaunlich schnell. Ob wir einen Polizeireport vom Unfall haben, will die Avis Dame wissen. Wir händigen den Zettel aus und dann sagt sie noch, dass sie sowieso alle Fahrzeuge abstoßen, die älter sind als 6 Monate. Nach weniger als dreißig Minuten sind wir mit einem neuen GMC Envoy wieder auf der Straße.

Campfire at Klaklakama Lake

Wir wollen mit dem neuen Auto rüber nach Nanaimo, nach Vanvouver Island, aber vorher müssen wir eine Styroporkühlbox, Bier, Softdrinks und Eis zum Kühlen kaufen. Ich will in Downtown Vancouver gerade in eine Tiefgarage fahren, da fällt mir die Höhenbegrenzung von 1,80 m ein. Zehn Zentimeter bevor es innerhalb eines Tages zum zweiten Mal zu einem Crash gekommen wäre, fahre ich rückwärts die Rampe wieder hoch und suche einen anderen Parkplatz.     

Ich schweife schon wieder ab, eigentlich will ich nur kurz von unserem ersten Besuch in Nanaimo berichten. 2004 ist es eine kleine abgefuckte Hafenstadt mit düsteren Spelunken und miesen Motels. Wir finden eine einigermaßen akzeptable Unterkunft und eine coole Hafenkneipe. Nachdem der rote Envoy vor unserem Motel geparkt ist, gehen wir in eine dieser Bars. Ich fühle mich auf Anhieb pudelwohl und bin glücklich hier zu sein, aber Jutta sitzt der ganze Stress des zurückliegenden Tages im Nacken.

Auf den Nachbartischen sehe ich die großen Pitcher voller goldgelber Glückseligkeit stehen und versuche Jutta zu überreden, auch einen davon zu bestellen. Sie meint nur: „Wenn es denn sein muss!“, und „Schaffen wir den denn auch?“ „Na klar, locker schaffen wir den!“, sage ich. Die Bestellung muss ich allerdings aufgeben, da Jutta eigentlich nur noch ins Bett will. „Ach komm schon!“, sage ich. „Ich bin die meiste Zeit gefahren, kannst du nicht bestellen gehen?“, frage ich. „Nööö, ich muss nichts mehr trinken, nur wegen dir sind wir hier!“, erwidert sie. Dem habe ich nichts entgegenzusetzen.

Als es mir gelungen ist der Barkeeperin mitzuteilen, dass ich einen großen Pitcher Bier möchte, will sie wissen, welches Bier es denn sein soll. „Kokaini!“, sage ich. „What?“, fragt sie nach und ich sage lauter „Kokaini!“ Sie schaut mich fragend an. Ich sage erneut und noch etwas deutlicher: „KOKAINI!“ Die Bar ist voll, die Leute reden und die Musik ist laut. Sie schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Mir kommt der rettende Einfall, ich zeige mit dem Finger auf den Zapfhahn am Tresen. „Oh Kokanee!“, sagt sie und spricht es völlig anders aus, als ich es getan haben.

Nun, der Abend wurde noch relativ lang und ich musste den Pitcher fast alleine austrinken. Möglicherweise lassen wir eine Übernachtung in dieser Hafenstadt aus, weil wir ja schon dort waren und Juttas Erinnerungen daran nicht die Allerbesten sind.

Der zweite Abend am Klaklakama Lake endet wie der Erste. Das Lagerfeuer knistert, die Sonne geht und der Mond erscheint. Hohe schneebedeckte Berge hinter einem tiefen Bergsee beeindrucken bei Sonne wie bei Mondschein gleichermaßen.

Vom Lake nach Woss sind es noch 18 km Piste, die ich Kilometer für Kilometer genieße. Bis Port Hardy benötigen wir knapp anderthalb Stunden. Mahr als 100 Kilometer fahren wir auf langweiligem Asphalt.

Port Hardy fühlt sich irgendwie an, als wären wir am Ende der Welt. Das mag zum Teil am trüben Wetter liegen, auch meinetwegen an der Jahreszeit. Es ist noch immer keine Saison. Die Sommertouristen sind noch lange nicht auf dem Weg und wenn das Schiff nach Alaska nicht ablegt, was will man dann hier?

Am Arsch der Welt

Ich weiß die Antwort: Fotos machen. Hier gewesen sein, am nördlichsten Ende von Vancouver Island. Eine Historic Site weist mit einer aus einem Baumstamm geschnitzten Karotte und einem Schild darauf hin. Wir sind am Ende aller Straßen auf Vancouver Island, ganz im Norden. Übernachten müssen wir hier nicht, es sieht nicht so aus, als gäbe es hier einen netten Pub. Dann können wir uns auch gleich auf den Weg nach Port Alice machen.

End of the Road

Selbstverständlich schauen wir uns noch die Totempfähle an, verschaffen uns einen Eindruck vom Ort und den Hafen, wo die Inside Passage beginnt. Aber dafür brauchen wir nicht allzu lange und schon sind wir wieder auf dem Rückweg, zunächst nach Port Alice, um eine wahrlich traumhafte Strecke zu fahren. Es geht rauf und runter, eine Kurve folgt der Nächsten. Selten kommt uns einer entgegen und noch seltener werden wir überholt. Jutta schreibt immer mal wieder mit den Hallunken Campern, die meist in der Nähe sind, aber doch nicht so in Reichweite, dass es zum Treffen kommt. Weit ist es nicht bis nach Port Alice und würden wir diese Strecke im Zeitraffer aufnehmen, dann wäre es eine rasante Achterbahnfahrt. Übernachten wollen wir auch hier nicht. So entscheiden wir uns kurzfristig für einen abgelegenen Naturcampingplatz am Lake Alice.

Alice Lake

Jutta navigiert mich wieder abseits gepflasterter Straßen durch den Urwald an eine abgelegene Location. Jetzt geht es auf Dirt Roads genauso auf und ab wie zuvor, aber mit viel mehr Fahrspaß für mich, denn ich kann zügig fahren. Es sind kaum Schlaglöcher auf der Strecke. Wir kommen an am Alice Lake und sind begeistert. Bis auf einen Platz ist alles frei und wir haben die Qual der Wahl.

Alice Lake

Die Entscheidung für einen Stellplatz am äußeren Ende ist schnell getroffen, obwohl noch nicht mit anderen Campern zu rechnen ist, die uns auf die Pelle rücken könnten. Ich checke die Plätze in der Nähe und sammle rumliegendes Holz, da die Rezeption unbesetzt ist und ich nichts kaufen kann. Jutta fragt inzwischen den anderen Camper mit seinem Pickup und den beiden Jungs, ob sie sich registriert haben. Er verneint und meint, jetzt würde noch niemand kommen, um die Selfregistration zu checken. Erst ab Anfang Mai werden sie den Platz offiziell eröffnen und die Rezeption besetzen. Heute ist der 29.04 2022.

Dieser Stellplatz ist noch perfekter als am Klaklakama Lake und wir sind uns einig, hier wiederum mindestens zwei Nächte zu verbringen. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir faulenzen, Jutta liest, ich schreibe und immer mit diesem grandiosen Blick über den Alice Lake. Erstaunlicherweise haben wir, seit wir auf Vancouver Island sind, an den schönsten Plätzen immer Glück mit dem Wetter.

Guter Platz zum Arbeiten…

Wieder verlassen wir einen Ort, an dem wir uns so sauwohl fühlen, eine Oase im wilden kanadischen Regenwald. Dieser Platz wird sich in wenigen Tagen füllen und es werden Camper kommen, die hier ein oder zwei Wochen verbringen. Mich zieht es weiter. Unsere Zeit ist begrenzt. Wir haben noch den langen Trans Canada Highway vor uns, bis an die Ostküste. Alaska mussten wir schon streichen von meiner Wunschliste, weil es einfach nicht möglich ist, alle Pläne in den zwölf Monaten zu realisieren, bei den enormen Entfernungen. Noch rechne ich mir eine Chance aus, Newfoundland und den Endpunkt vom Trans Canada Highway zu erreichen, aber ob es klappt bleibt ungewiss.

Homeoffice

Es bleiben noch unzählige Ziele offen, die zum Teil aufgeschoben werden und realistisch sind. Andere werde ich nicht mehr erreichen, das ist mir klar. Es soll auch nicht undankbar klingen, mir ist durchaus bewusst, wie glücklich wir uns schätzen dürfen diesen Trip machen zu können.

Wochenlang in der Einsamkeit könnte ich eh nicht verweilen, wie schön es auch sein mag. Sogar auf einer Trauminsel würde mich der Inselkoller überkommen und ich habe das Bedürfnis weiter zu ziehen. Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich beobachte, wie lange manche Globetrotter an einem Ort hängen bleiben. Andererseits finde ich es auch bewundernswert, wenn man nicht so getrieben ist, wie ich es bin.

Am Lagerfeuer

Mit einem weinendem Auge verlassenen wir den Alice Lake, aber wir freuen uns auf Telegraph Cove. Was uns den Weg dorthin zu einem unvergesslichen Erlebnis macht, ist die erste Bärensichtung dieser Reise auf amerikanischem Boden. Ein großer ausgewachsener Schwarzbär ist unterwegs entlang der Straße und sucht nach Futter. Dies ist nicht die letzte Bärensichtung, weitere Schwarzbären werden folgen und auch der ein und andere Grizzly.

Erste Bärensichtung

Unglaublich glücklich fahren wir weiter, so eine Bärenbegegnung macht was mit Einem. Sogar dann noch, wenn man es schon erlebt hat. Bis nach Telegraph Cove ist es nicht mehr weit.

Telegraph Cove scheint noch im Winterschlaf zu sein, aber eine Handvoll Touristen sind schon unterwegs, um es daraus zu erwecken. Ab Mai starten die Boote zu den Whale Watching Touren, das Hotelrestaurant wird vorbereitet, aber ansonsten ist der Ort ausgestorben. Wir haben dieses Pfahldorf beinahe für uns und genießen das einzigartige Gefühl fast alleine zu sein an einem Touristenhotspot. Wir wandeln über die wettergegerbten Stege und sehen uns alles an, vom geschlossenen „Old Saltery Pub“ bis zum gerade eröffneten „Prince of  Whales Center“. Die größeren Whalewatchingboote werden klargemacht für die anstehende Saison, ein paar kleine Zodiaks für 8 – 12 Leute sind schon unterwegs. Nachdem wir alles gesehen haben, wollen wir weiter nach Tofino, Weil das aber ungefähr fünfeinhalb Stunden Autofahrt ohne Pause bedeutet, wird Jutta unterwegs nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau halten.

Telegraph Cove

Nach einigen Stunden Fahrt genehmigen wir uns eine kurze Pause. Am Straßenrand steht ein Schild vom „Cypress Tree Inn“. Das kommt gerade zur rechten Zeit um einen Kaffee zu trinken. Die Betreiber scheinen neu im Geschäft zu sein und wirken relativ unorganisiert. Der junge Mann, der uns bedient sagt ständig: „Absolutly!“ Fragen wir nach etwas Milch heißt es: „Sure, absolutly!“ In einer Ecke des Ladens haben sie einen kleinen Shop mit Mützen, Holzfällerhemden und ähnlichem Stuff eingerichtet. Allerdings sieht der Verkaufstresen noch nicht ganz fertig aus, trotzdem fragen wir, ob wir dort etwas stöbern dürfen. Er sagt: „Absolutly!“

Was ich so besonders liebe in Amerikas Road Houses: Es wird ständig Kaffee nachgeschenkt. Meistens geht jemand mit dem frisch gebrühten schwarzen Elixier durch den Laden, noch bevor man seinen Becher geleert hat. Wir lassen uns sehr gerne nachfüllen.  Als wir nach der Rechnung fragen sagt der Kellner, „Absolutly!“. Zufrieden gehen wir und verabschieden uns mit den Worten: „See you!“

Er antwortet: „Absolutly!“ (Was sonst!)

Coffeebreak at Cypress Tree Inn

Trotz dieser Kaffeepause schaffen wir es heute nicht bis Tofino, obwohl ich bereit wäre durchzufahren. Aber Jutta meint, dass die Etappe für mich und meinen Rücken zu lang werden könnte. Also bestimmt sie unterwegs einen Übernachtungsplatz. Mir ist es gleich, da wir nicht in Eile sind und noch keine Tour gebucht haben. So stehen wir erneut mitten im Regenwald, diesmal irgendwo zwischen Nanaimo und Tofino. Zum Glück bekomme ich Feuerholz vom Ranger und es ist noch Bier und Wein im Kühlschrank. Wir schauen in der Nacht noch einige Folgen von „Black Mirror“ an, zunächst am lodernden Lagerfeuer, denn ich muss nicht sparen mit dem Holz. Länger als zwei Stunden muss es nicht brennen, weil wir es uns dann im Auto gemütlich machen.

Movie Night

In dieser Nacht checkt Jutta noch Whale Watching Angebote für morgen und deren Bewertungen. Jamies Whaling Station scheint gut zu sein und hat freie Plätze auf dem größeren Boot um 14 Uhr. Mit dem Zodiac will Jutta wegen ihrer Seekrankheit lieber nicht fahren.

Die finale Folge in dieser Nacht ist „San Junipero“, eine meiner „absolutly“ Lieblingsfolgen aus den fünf Staffeln. Ich schaue alleine. Jutta schläft schon.

Rechtzeitig checken wir aus und haben eigentlich genug Reserven, um unser Boot in Tofino zu erreichen. Eigentlich.

Pünktlich um elf Uhr verlassen wir den Campingplatz. Die Strecke ist ähnlich attraktiv wie die von Port Hardy nach Port Alice. Vor uns befindet sich ein großer LKW und wegen der vielen Kurven und dem andauernden Auf und Ab ist es kaum möglich zu überholen. Ich fahre eine ganze Weile genervt dem Truck hinterher, denn er ist mir zu langsam. Etwas scheint allerdings merkwürdig zu sein. Unter dem Anhänger schleift ein dickes Kabel auf dem Boden. Das sieht nicht gut aus.

Also versuche ich ihn zu überholen, obwohl es riskant ist. Ich meine eine Strecke auszumachen, wo es gelingen könnte und gebe Vollgas. Mist, da kommt eine Bergkuppe und ich kann nicht genug einsehen und verlassen will ich mich auch nicht darauf, dass mir niemand entgegen kommt. Beim nächsten Versuch ist es dann eine Kurve, aber nach einigen abgebrochenen Überholmanövern gelingt es endlich und ich kann vorbeifahren. Ein paar Kilometer weiter kommt dann eine dieser regelmäßig angelegten Nothaltebuchten, die in den Bergen auf schmalen Straßen üblich ist. Ich fahre rechts raus und bleibe vorne stehen, damit der Truck hinter mir noch genug Platz zum Halten hat. Dann steige ich aus und stelle mich auf die Straße, um ihn rauszuwinken. Er sieht mich, blinkt und fährt rechts ran. Direkt hinter LEMMY kommt er zum Stehen. Ich gehe zu ihm ans Fenster, wo er schon fragend zu mir runter schaut. „There’s something wrong under your truck!“, sage ich. Er steigt aus und ich zeige ihm das Kabel unter dem Anhänger, welches auf dem Boden schleift. „Thanks Buddy!“, sagt er und ich verabschiede mich.

Es bleiben uns noch zwei Stunden bis zum Ablegen des Bootes. Die Strecke ist abwechslungsreich und immer wieder tauchen fantastische Bergpanoramen auf. Überall liegt Schnee auf den Gipfeln. Dann kommt eine verdammte Ampel, wo keine sein sollte. Wir müssen halten, weil ein Stück vom Berg gesprengt wird. Morgen soll es regnen und stürmisch werden, deshalb muss es unbedingt heute klappen mit der Whalewatching Tour.   

Wir stehen an der Ampel und haben keine Ahnung wie lange wir warten müssen, bis es nach der Sprengung weiter geht. Die Strecke muss ja auch noch geräumt und vom Schutt befreit werden von den bereitstehenden Baggern und Tiefladern.

Im Rückspiegel erkenne ich den am Stauende ankommenden LKW von vorhin. Der Fahrer steigt aus seinem Truck und ich sage zu Jutta: „Da kommt er, ich sehe ihn im Rückspiegel.“ „Wer?“, fragt Jutta. „Na der Trucker von eben!“ Er kommt zu mir ans Fenster und als er da ist, habe ich die Scheibe bereits runter gefahren. Er bedankt sich, dass ich ihn ausgebremst habe und sagt, es habe ihn wahrscheinlich vor großen Problemen bewahrt. Die Bremsleitung oder ein Kabel von der Bremskraftverstärkung schleifte über den Asphalt. So verstehe ich ihn jedenfalls. Er konnte das Kabel wieder richtig unterm Anhänger befestigen, bevor es durchgescheuert war. Hier in den Bergen ist es schon wichtig, dass die Bremsen einwandfrei funktionieren. Auf langen Talfahrten gibt es zwar immer „Runaway Lanes“, dort können die Trucks im Notfall rechts raus fahren und auf einer ansteigenden Schotterpiste ausrollen, aber wer will das schon? Wir plaudern noch etwas über unsere Pläne in Tofino und seine Tour über die Insel, dann ertönt ein Horn und es knallt heftig. Der Fels wurde gesprengt und eine große Staubwolke steigt in den Himmel, obwohl Arbeiter mit Schläuchen den Sprengbereich gewässert haben. Der Trucker wünscht uns noch eine gute Fahrt und eine großartige Weiterreise, bedankt sich erneut und verabschiedet sich dann. Wir wünschen ihm ebenfalls eine sichere Weiterfahrt und hoffen, dass es nun schnell vorangeht. Die Uhr tickt und jetzt darf nichts Unvorhergesehenes mehr passieren, dann können wir das Boot noch knapp erreichen.

Die Ampel bleibt immer noch rot und Fahrzeuge aus der entgegengesetzten Richtung kommen auf uns zu. Nach weiteren endlosen 10 Minuten springt die Ampel auf Grün, ich bin mir sicher, nochmal  stoppe ich nicht, egal was geschieht. Die Schlange setzt sich in Bewegung und ich halte mich dicht an der Stoßstange vom Vordermann. Dann kommt die Ampel immer näher. Ich rechne damit, dass sie umspringt, aber nichts dergleichen passiert. Es bleibt grün und das Navi zeigt an, dass wir 13:34 Uhr an der Anlegestelle des Bootes ankommen werden. Wir müssen uns dann nur noch schnell warm anziehen und unsere Taschen packen mit etwas Proviant und Wasser für die dreistündige Bootstour.

Tofino

Ab jetzt läuft alles wie am Schnürchen. Die Sonne scheint und wir kommen Tofino immer näher. Eine Menge Radfahrer sind links und rechts der Straße unterwegs, je näher wir kommen, desto mehr werden es. 13:40 Uhr erreichen wir Jamies Whaling Station und ich parke direkt neben dem Office. Dann stürmen wir rein. Zwei Pärchen sind noch vor uns. Ich habe ein gutes Gefühl. Sie haben bereits online ihre Tickets erworben und sind schnell fertig. Wir sind die Nächsten. „Are we just in time for the boatlaunch today at two o`clock?“, fragen wir ganz außer Atem.

„Yes sure!“, sagt die junge Lady und ich reiche ihr meine Kreditkarte. Sie zeigt uns durchs Fenster den Weg zum Boot und sagt, dass wir kurz vor zwei Uhr dort unten am Steg warten sollen. Es gibt noch eine Sicherheitsunterweisung und Rettungswesten bevor wir auf das Boot begleitet werden.

Jetzt bleiben uns noch 10 Minuten, um uns im Camper umzuziehen und einiges an Wasser und Proviant einzupacken. Wir schaffen es in sieben. Drei Minuten vor Zwei stehen wir am Treffpunkt und bekommen unsere Rettungswesten. Insgesamt sind wir mit nur 16 Gästen auf dem Boot, einem Kapitän und drei weiteren Crewmitgliedern. Perfekt.

In der Hochsaison drängen sich auf einem Boot dieser Größe deutlich mehr Personen.

Boat from Jamies Whaling Station

Jetzt geht es hinaus auf den offenen Pazifik, vorbei an Wickaninnish Island, vorbei an einsamen Stränden, an Weißkopfseeadlern hoch in den Bäumen, an winzigen Inseln mit wenigen Häusern. Es ist das Land der First Nation People, noch nie zuvor hat es sich so echt angefühlt wie hier und jetzt in diesem Augenblick. Das Boot wird schneller und wir gehen nach vorne an den Bug, der Wind peitscht uns ins Gesicht, aber wir sind bestens vorbereitet mit dicken Pullovern, Schal, Jacke, Kapuze und Mütze.

An Bord sind die Gäste international. Ich frage Jutta, wie es ihr geht und zum Glück ist alles gut, jedenfalls im Augenblick noch. Sie wird ja immer schnell seekrank. Der Kapitän erzählt über Lautsprecher Wissenswertes über Land und Leute aus der Region, über die Natur und die Tierwelt an Land und im Meer. Zwischendurch präsentiert er auch mal einen mittelprächtigen Witz. Geschmackssache, denke ich mir. Aber alles in Allem macht der Kapitän seine Sache gut und unterhaltsam.

Er hat von einem Boot einer anderen Gesellschaft einen Funkspruch erhalten, in welchen Koordinaten Wale gesichtet wurden. Obwohl es kurz zuvor noch gar nicht sicher war, ob wir wegen des Windes richtig hinausfahren können, scheint nun alles safe. Jutta findet den Wellengang immer noch sehr heftig und ist hin und hergerissen. Einerseits will sie unbedingt Wale sehen und die gibt es eher weiter draußen vor der Küste. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die hohen Wellen ihrem Magen nicht guttun werden.

Die Informationen über Walsichtungen teilen sich die Unternehmen, damit alle gleichermaßen davon profitieren können. Der Kapitän reißt das Ruder rum und gibt Gas. Der Seegang wird wilder und Jutta zieht sich zurück. In der Sicherheitsunterweisung haben sie gesagt, wenn einem unwohl wird ist es draußen am Heck am Besten auszuhalten. Man sollte auf keinem Fall unter Deck gehen und auf die Toilette schon gar nicht. Dort wird es nur immer schlimmer und man verliert gänzlich die Orientierung. Ich kann nicht sagen, wie hoch die Wellen sind, aber einige Meter dürften es schon sein und mir macht es einen Heidenspaß vorne an der Reling zu stehen und von einer Welle zur Nächsten zu springen. Mein Vertrauen in den Kapitän, das Boot und die Crew ist grenzenlos.

Raus auf den offenen Pazifik zum Whale Watching

Wir werden langsamer und kommen sogar zum Stillstand. Irgendjemand hat was entdeckt. Ich hole mein Handy zum Fotografieren aus der Tasche. Dann geht es plötzlich steil rauf mit dem Boot und viel schneller wieder runter. Es fühlt sich an wie in einer Achterbahn, als haben wir gerade in einer Sekunde einen Höhenunterschied von 10 Metern zurückgelegt. So ähnlich fühlt es sich im Flugzeug bei heftigen Turbulenzen an. Ich verliere fast mein Handy und den Halt. Die linke Hand umklammert die Reling, die rechte Hand behält die Kontrolle über das Mobilphone. Und schon wieder geht es rauf und sofort wieder runter. „Uuuuuhhhhhhh!“, schreien alle die vorne geblieben sind. Die beiden Niederländer neben mir und auch das japanische Pärchen haben ihren Spaß. Mein Handy verschwindet wieder in der Hosentasche.

Der Kapitän wendet das Boot und dabei geht es immer wieder extrem schnell rauf und runter. Dann ruft jemand und zeigt mit seiner Hand nach Nordosten: „Da ist er!“ Ein großer Grauwal taucht auf und ich sehe ihn ganz deutlich. Um den Wal zu schützen, halten wir den vorgeschriebenen Mindestabstand von 100 Metern ein. Wir sehen nur den Rücken, wenn er kurz auftaucht, gelegentlich auch den Blas, den er ausstößt. Dennoch ist es ein beeindruckendes Naturschauspiel. Fotografieren kann ich mir schenken, ohne vernünftige Kamera bekomme ich den Wal nicht abgelichtet.

Ich versuche ohne zu stürzen ans Heck zu gelangen, um nach Jutta zu sehen. Der Kapitän folgt dem Wal mit gebührendem Abstand. Jetzt tauchen sogar mehrere Wale auf, wohlmöglich ist es eine Mutter mit zwei oder drei kleinen Babys. Ich kann nicht alles verstehen, was der Kapitän erzählt, denn der Wind pfeift laut in meine Ohren. Jutta steht an der Reling am Heck und grinst mich an, als sie mich kommen sieht. „Hast du das gesehen?“, fragt sie allen Ernstes. „Ja klar, ist das nicht fantastisch?“

Wir erleben ein einmaliges Schauspiel, unsere erste Whalewatching Tour ist ein voller Erfolg und überglücklich gönnen wir uns unter Deck eine kleine Pause, um uns aufzuwärmen. Trotz Sonne hat der Wind uns ganz schön ausgekühlt. Nach einem kleinen Snack und etwas Wasser gehen wir wieder raus, um uns den Elementen auszuliefern. Die Crew dreht weiter ihre Runden, spricht mit den Gästen und schaut, ob es allen gut geht. Jamies Whaling Station rockt! Sehr empfehlenswert.

Beaver im Landeanflug

Nach drei Stunden auf See geht es zurück in den Hafen von Tofino und obwohl wir die Wale nur aus der Ferne gesehen haben, war es ein beeindruckendes Spektakel. Uns wird nicht zum ersten mal bewusst, wie wichtig es ist die Natur im Gleichgewicht zu halten. Die Erde ist so wunderschön und jedes Leben, ob klein oder groß, spielt eine bedeutende Rolle im Kreislauf unseres Planeten.

Für die nächste Übernachtung geht es zum Surf Junction Campground. Der Spot wurde uns von den Hallunken empfohlen, ist nicht so teuer und nicht weit entfernt. Eine halbe Stunde später checken wir ein und nach dem Papierkram suchen wir einen geeigneten Stellplatz für LEMMY.

Nach einer Runde um das gesamte Camp haben wir beide den selben Favoriten. Um perfekt zu stehen muss ich rückwärts eine schmale Naturrampe rauffahren, was allerdings kein Problem ist.

Surf Junction Campground

Hier sind wir zwar nicht direkt an einem einsamen See, wie bei den anderen beiden Traumplätzen zuvor, aber trotzdem ist der kleine Stellplatz klasse. Durch den dichten Wald sehen wir kaum Nachbarn, obwohl wir alle relativ eng beieinander sind. Wir genießen einige Zeit am Lagerfeuer, um den Tag Revue passieren zu lassen. Nicht nur den Tag, sondern die letzten Tage auf Vancouver Island. Ich möchte morgen noch nach Ucluelet fahren und eigentlich auch eine Offroadpiste in den Pacific Rim National Park. Dahinter steht allerdings noch ein großes Fragezeichen, denn auch Victoria ist gesetzt. Dort beginnt der lange Trans Canada Highway, den wir zu großen Teilen von der Westküste bis zur Ostküste fahren wollen. Wieder mal wird diskutiert, abgewogen und verhandelt, wie es weiter gehen soll. Größtenteils sind wir uns einig, aber ob wir in den Pacific Rim National Park fahren entscheiden wir morgen, abhängig vom Zustand der Strecke und dem anzunehmenden Zeitbedarf.

Ein aufregender und großartiger Tag endet an einem schönen Lagerfeuer kurz vor Ucluelet im kanadischen Regenwald auf Vancouver Island.

Ein windiger und regnerischer Tag beginnt mit einem erfrischenden Frühstück in der Kabine. Froh darüber, dass wir gestern bei bestem Wetter diese Bootstour machen konnten, verlassen wir heute (nach einem kurzen Stopp in Ucluelet) die Westküste der Insel und fahren nach Port Alberni. Dort werden wir nach knapp anderthalb Stunden Fahrt entscheiden müssen wie es weiter geht. Der Tank ist noch voll genug um die 200 Kilometer der anstehenden Dirt Road hin und zurück zu bewältigen. Also gehen wir es erstmal an, so haben wir es gestern verabredet. Ich brauche keine halbe Stunde, um zu erkennen, dass Jutta überhaupt keine Lust auf diese Exkursion hat. Wir bräuchten mindestens zwei Stunden, um überhaupt an den Anfang des Nationalparks zu kommen. Das Wetter ist milde ausgedrückt „beschissen“ und was uns dort erwartet wissen wir auch nicht. Die überaus löchrige Piste ist nervig. Ich drehe um und wir fahren nach Victoria. Jutta freut sich und auch ich habe meinen Frieden mit dieser Entscheidung gemacht, also ohne den Pacific Rim N. P.

Bald nimmt der Verkehr deutlich zu und es wird noch fast drei Stunden dauern bis Victoria. Wir befinden uns schon auf dem Trans–Canada-Highway BC–1S. Vorbei geht es an Nanaimo und anderen dicht besiedelten Gebieten. Immer wieder entschädigen uns wahnsinnige Ausblicke von der Küstenstraße auf das Meer für die anstrengende Fahrt, wenn die Wolken es zulassen. Jutta weiß bereits, wo wir zentral stehen können, ganz ohne Parkuhren. Unterwegs überlegen wir mal wieder in ein schönes Restaurant zu gehen. Auf Thaiküche können wir beide heute Abend, denn im Sommer 2023 wollen wir nach vier Jahren Asienabstinenz endlich mal wieder nach Bangkok fliegen.

Der Verkehr nimmt immer mehr zu und die Abstände zwischen den Ortschaften verringern sich. Jutta sorgt sich um meine Konzentration und schlägt vor nicht bis Victoria zu fahren, sondern vorher einen Übernachtungsstop einzulegen, was ich aber vehement ablehne. Im Dunkeln kommen wir schließlich an und finden die Zielstraße, nachdem wir uns durch die Hauptstadt von B.C. gewuselt haben. Wir stehen entspannt an der ruhigen Humboldstreet vor der St. Ann`s Academy and Auditorium, einer historischen Stätte.

Ein kleiner Spaziergang ist im Grunde jetzt genau das Richtige. Bei Wind und leichtem Regen spazieren wir in die Stadt und erkennen einiges wieder von unserem letzten Besuch im Sommer 2004. Aber im Moment interessiert uns nur das Thairestaurant.

Wir genießen das vorzügliche thailändische Essen im Siam Thai Restaurant und köstliches Singha Beer, zahlen dafür einen stolzen Preis und gehen entspannt zurück zum Auto. Es nieselt nur noch und auch der Wind hat nachgelassen. Geographisch befinden wir uns jetzt in etwa auf halber Strecke zwischen Vancouver und Seattle, irgendwo zwischen dem 40. und 60. Breitengrad, nur eben weiter westlich. Morgen fahren wir auf den Hausberg von Victoria und beginnen mit dem Trans-Canada-Hwy bei Kilometer 0. Den Endpunkt dieser 7821 Kilometer langen Straße auf Neufundland werden wir vermutlich nicht erreichen, aber mal sehen, wer weiß…

Mile „0“ des Trans Canada Highway

Die Nacht verläuft ruhig, obwohl wir am Rande des Zentrums stehen. Wir haben gut geschlafen und starten entspannt in den Tag. Nach dem Frühstück fahre ich zu Kilometer 0.

Startpunkt des 7821 km langen Trans Canada Hwy.

Meine nächste Aufgabe ist es, LEMMY bis um 15 Uhr auf die Fähre zu bringen. Das ist machbar, aber es muss auch alles passen damit es klappt.

Ich mache es kurz. Es läuft nicht gerade rund und jede Ampel, die mir in den Weg kommt ist rot. Die Straßen sind noch mal voller als gestern Abend. Glauben wir dem Navi, könnte es gerade so gelingen. Entsprechend fahre ich zügig, aber die vielen Kreuzungen und der dichte Verkehr verschlechtern meine Aussichten und die Hoffnung schwindet mehr und mehr. Wenn ich etwas eher hochgekommen wäre, hätte ich gar keinen Stress. Aber naja, wir haben ja schließlich Urlaub.

Wir sehen beim Runterfahren vom Berg, wie die Fähre gerade den Hafen von Nanaimo verlässt. Zehn Minuten früher hätte ich wohl noch drauf fahren können. Egal, jetzt müssen wir zwei Stunden warten bis zur nächsten Fähre. Da können wir doch gut einen Mittagsschlaf einlegen. „Was soll ich anmachen?“, frage ich. „Sherlock Holmes!“, sagt Jutta.

Ausgeruht genießen wir die Überfahrt. Ich sorge mich etwas um den Tankinhalt, sage aber noch nichts. Auf der Fähre verlassen wir schnell das Auto und gehen nach oben, um uns gute Plätze zu sichern. Wie schon auf der Hinfahrt sitzen wir in der ersten Reihe, diesmal allerdings ohne hustende Nachbarn. Dafür haben wir ein Pärchen neben uns das ständig Selfies von sich macht oder andere Reisende auffordert, Fotos von ihnen zu schießen. Sie posieren meistens auf dem Vorderdeck und wir können es nicht ignorieren. Also wird fleißig beobachtet und auch ein bisschen gelästert. Die Posen sehen sich alle sehr ähnlich und manchmal sind sie nicht besonders vorteilhaft, bei dem starken Wind da draußen. Aber sie scheinen zufrieden zu sein und das ist ja wohl die Hauptsache.

Dann nähern wir uns Vancouver und ich bin fasziniert von der Skyline. Verschwommen in grauen Wolken sehe ich die Hochhäuser der Stadt. Es erinnert mich an Manhattan in New York City. „Wir kommen, oh du Schöne!“

Vancouver

Der Tank ist ziemlich leer. Die Reserveanzeige leuchtet bereits. Weil ich es so eilig hatte, habe ich nicht mehr getankt vor dem Hafen. Meine Priorität galt der Überfahrt um 15:00 Uhr. Das hat leider nicht geklappt. Ich beichte Jutta mein Dilemma, meine besten Absichten die Fähre pünktlich zu erreichen und sie ist nachsichtig mit mir, macht mir aber auch klar, dass das nicht cool war und sie sich wünscht in Zukunft bei solchen Entscheidungen mit einbezogen zu werden. Ich gelobe Besserung und erkenne mal wieder meine Defizite. Auf der Fähre schauen wir wo die nächste Tankstelle ist. Es gibt zwei vor der Stadt, die Erste ist in Horseshoe Bay. Jutta navigiert mich nach Verlassen der Fähre durch den Ort. Es geht steil rauf und runter und wie damals in der Türkei hoffe ich, dass der Diesel bei den steilen Auf- oder Abfahrten noch angesaugt wird. Die Tankstelle, die wir zuerst ansteuern hat keinen Diesel, nur Benzin. So eine Scheiße! Jetzt müssen wir ca. 16 Kilometer fahren bis zur nächsten Tanke in West Vancouver.

Der Sprit reicht, ich tanke voll und wir stellen uns erneut auf den Capilano RV Campingplatz.

Das wir zum zweiten Mal so eine Aufregung erleben müssen wegen Dieselmangel, nach dem Erlebnis in der Mojave Wüste, hätten wir nicht gedacht. Das war schon in Kalifornien in meiner Verantwortung und heute wieder. Und es wird noch einmal so sein, irgendwann, irgendwo auf dem endlosen Trans-Canada-Hwy…

Heute sind wir nur angekommen, aber morgen will ich noch einmal ausgehen. Danach können wir weiterfahren in den Norden. Aber erst dann!

Vancouver empfängt uns unfreundlich mit Regen und dichten Wolken, wie schon die Insel gegenüber dieser einzigartigen Stadt. Aber das ist uns egal, wir lieben diese Metropole bei jedem Wetter. In Gedanken sind wir bei den Obdachlosen, bei den Untoten und den Leuten, die zwischen den Häuserschluchten leben.

Mit dem Bus fahren wir über die Lions Gate Bridge, durch den Stanley Park nach Downtown. Den Rest des Weges laufen wir bis zur Moose Bar. Wir kennen uns aus.

Night in the city

Vancouver begeistert mich bei Nacht mehr noch als am Tag. Ich bin immer schon eine Nachteule gewesen, im Gegensatz zu Jutta, Sie ist der frühe Vogel, den es morgens nicht lange im Bett hält. Aber jetzt ist die Dunkelheit hereingebrochen über eine wahnsinnige Pazifik-Metropole und wir sind im Moose angekommen. Diese Nacht wird die Erste von zwei Nächten sein, in der ich eine großartige Bar verlasse, ohne Trinkgeld zu geben.

Das Moose ist ein Ort, den ich eigentlich niemals verlassen will, schon gar nicht, wenn ich ein paar Drinks intus habe, jedenfalls nicht vor dem Morgengrauen. Die Musik ist wieder super, das Publikum bunt gemischt und die Bardamen sind sexy, aufmerksam und flott mit dem Nachschub. Es ist genau so, wie bei unserem letzten Besuch. Jutta und ich unterhalten uns gut und obwohl es schade ist, diese grandiose Stadt morgen zu verlassen, freuen wir uns auf die Weiterreise und alles was da noch so kommt. 

Zwischendurch muss ich mal auf die Toilette und Mr. Lemmy Kilmister weist mir den Weg. Von einem Plakat gegenüber unseres Tisches zeigt er mit dem Finger in Richtung des Washrooms.

This way…

Es ist dasselbe Motiv wie auf unserem Camper. Hier steht allerdings unter dem Konterfei von Lemmy: „49% Motherfucker 51% Son of a Bitch“. Am Auto liest man stattdessen: „Don‘t forget to rock‚n‘roll“. 

Auf der schwarzen Klotür steht ein Name geschrieben, mit einem weißen Kreidestift, wie von einem Kind, das sich in Schönschrift übt. LULU steht da und unter dem Namen ist ein Herz gemalt. Dazu komme ich gleich, denn aus dem Augenwinkel sehe ich ein T-Shirt über der Bar hängen, welches mir gut gefällt.

LULU – I LOVE

Zwei Gedanken habe ich im Kopf, während ich an der Pinkelrinne stehe: „LULU war wohl eine der besten Produktionen der letzten Jahre bei uns im Schauspielhaus. Und: „Ich muss unbedingt so ein T-Shirt von der Moose Bar haben.“

Nachdem ich vom Klo komme, stelle ich mich an die Bar und suche Blickkontakt zur Bedienung. In dem Moment biegt die Lady um die Ecke, die für unseren Tisch zuständig ist. Sie stellt ihr Tablett mit den leeren Gläsern ab und kommt zu mir rüber. Ich frage, ob ich mal so ein Shirt anprobieren darf und zeige mit dem Finger auf das Objekt meiner Begierde. „Na klar!“, sagt sie und gibt mir eins in M und eins in L mit. Am Tisch bei Jutta probiere ich beide an und wir stellen fest, dass Medium etwas zu eng sitzt, aber in Large passt es perfekt. Ich lasse es direkt an und bringe das andere Shirt zurück.

Ich frage, ob sie es mit auf unsere Rechnung schreibt, aber sie will sofort kassieren. Es kostet 25 $ und ich drücke ihr einen 50 Dollarschein in die Hand. Sie nimmt das Geld und ich warte auf mein Change, aber sie kümmert sich um andere Gäste am Tresen und nimmt Bestellungen auf. Als sie in meine Richtung kommt, greife ich sie mir und frage, wann ich mein Wechselgeld bekomme. Ach das, das bringt sie zu mir an den Tisch, sagt sie. Na gut, soll mir recht sein.

Unsere Biere sind fast leer und wie üblich bleibt das nicht lange unbemerkt. Wie gesagt, das Personal ist aufmerksam und flott. Die Bedienung kommt und will wissen, ob wir noch was trinken möchten. Erfreut über den schnellen Service bestellen wir noch eine Runde. Mein Change hatte sie nicht dabei. Als sie mit den vollen Gläsern zurückkommt, ist sie genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen ist, ohne Wechselgeld. Na dann eben beim nächsten Mal. Ich schicke Sandra (Hauptdarstellerin aus LULU) eine kurze Grußnachricht aus Vancouver nach Hamburg, wo sie jetzt im Schauspielhaus arbeitet. Ein Foto von der Klotür sende ich mit.

My new T-Shirt

Nun widme ich meine Gedanken der LULU Produktion. Dieses Stück wurde vom Bremer Theater fertig aus Stuttgart eingekauft, inklusive Bühnenbild und Requisiten. Inszeniert hat es in Stuttgart Armin Petras, der auch bereits bei uns in Bremen einige Regiearbeiten abgeliefert hat. LULU ist angelegt als Schauspiel – Musiktheater. Ein ROCK VAUDEVILLE, eine Monstertragödie und Mörderballade. Die Tiger Lillies haben das Thema von Frank Wedekind musikalisch verarbeitet, ebenso Metallica und Lou Reed in einem gemeinsamen Konzept-Doppelalbum. In dem Stück gibt es sehr viele Verwandlungen und Umbauten an dem wir als Backstage Crew kräftig mitgewirkt haben. Wir hatten eine Woche Bühnenzeit, um alle technischen Hürden und Umbauten zu proben. Das hat die wundervolle Franziska Benack mit uns einstudiert. Sie war in dem Fall verantwortlich für die Wiederaufnahme der Inszenierung in Bremen und hat das ganz fantastisch gemeistert. Die ganze Woche war anstrengend, herausfordernd und spannend, hat aber gleichzeitig enorm viel Spaß gemacht. Einige Schauspieler kamen aus unserem Ensemble, andere als Gäste aus der Originalbesetzung, unter anderem auch die Hauptdarstellerin Sandra Gerling als LULU.

Miles Perkin begleitete den Abend als Allroundmusiker.

Wir hatten eine Menge offener Umbauten, was bedeutet, dass wir häufig vom Publikum zu sehen sind und dem trashigen Stück entsprechend gekleidet waren. Meine Kollegin und ich hatten einen schwarzen Frack an und einen Zylinder auf dem Kopf. Die Beteiligten von der Technik und den Ankleiderinnen erging es ebenso. Ich trug dazu stets eine schwarze Dreiviertelhose und rote Doc Martens. Der aufregendste Part für mich war es immer, wenn ich auf die Bühne musste, um LULU die Schuhe zu bringen und sie ihr (vor ihr kniend) anzuziehen. Das hätte ich eigentlich nicht machen müssen, denn das wäre der Job eines Ankleiders gewesen. Aber die Rolle war so angelegt, dass es ein Mann sein sollte, der LULU in ihre Schuhe hilft. Nun hatten wir aber ausschließlich Kolleginnen dabei und keinen Mann. Von der Technik haben sich alle männlichen Kollegen geweigert und die Bühnenbildassistentin hat mich so nett gefragt, dass ich nicht ablehnen konnte, es mal bei einer Probe zu versuchen.

Als es also soweit war und Lena (unsere Inspizientin) mich über Funk zum Auftritt rief: „Requisite für die Schuhe bitte!“, dann fingen mein Herzklopfen an. Ich holte die Schuhe vom Requisitenwagen und stellte mich hinter dem Vorhang auf Position. Vorne spielte Sandra als LULU ihre Rolle und mein Stichwort war, wenn sie auf der Bühne zu schreien anfängt: „Wo sind meine SCHUHE???“

Mit pochendem Herzen trat ich dann durch den Vorhang und lief um einen Gabeltisch herum, direkt auf das Publikum zu und drehte dann links bei, um mich vor LULU hinzuknien und ihr in die Schuhe zu helfen. Sandra fand das nach der Probe sehr gut und auch die Assistentin hat auf mich eingeredet, dass ich es doch bitte immer machen soll. Ich habe mich bereit erklärt und bei der Premiere in Bremen klopfte mein Herz dann bis zum Hals. Danach ist es jedes Mal ein wenig besser geworden, aber ganz ohne Aufregung ging es nie.

Manches Mal habe ich die Druckknöpfe der Schuhe vor Aufregung nicht zubekommen. LULU zog mir immer gerne am Zopf und machte ihre Spielchen, bis ich fertig war und wieder abgehen konnte. Durchgeatmet habe ich erst, wenn ich auf dem Rückweg die Lücke im Vorhang gefunden hatte und dahinter verschwinden konnte.

„Would you like one more beer?“, fragt die Bardame, als sie an unseren Tisch kommt. Ich bestelle noch ein frisch gezapftes Bier, Jutta ordert einen Moscow Mule. Von meinem Wechselgeld keine Spur. Ich erinnere sie daran. Sie nickt mir zu.

Einmal wollte ich natürlich auch die Vorstellung von vorne sehen und habe drei Karten in der ersten Reihe besorgt. Mit Jutta und unserer Freundin Sonja sind wir dann zusammen ins Theater gefahren und waren auch backstage, um meinen beiden Kolleginnen „Hallo“ zu sagen. Sandra habe ich auf der Seitenbühne gesehen und ihr gesagt, dass ich mit Jutta und Sonja in der Vorstellung sitzen werde. „Soso!“, hat sie gesagt. „Na dann viel Spaß!“

Als es dann soweit ist und sie zu schreien anfängt: „Meine SCHUHE……., wo sind meine SCHUHE….???, da sitze ich entspannt da und frage mich, wer von meinen Kolleginnen wohl auftreten wird, um ihr in die verdammten Schuhe zu helfen. Aber die Schuhe fliegen nur durch den Vorhang, niemand tritt auf. LULU sammelt sie ein und kommt damit zu mir. Sie reicht mir das Paar Schuhe und stellt ihren linken Fuß auf mein Bein. Mir war klar, was ich zu tun hatte.

Nightlive District Vancouver

Am Ende des Stückes performt Miles Perkin grandios den Song „Do you realize“ von den Flaming Lips und ich bin begeistert vom Stück, von der Inszenierung, dem Bühnenbild und der Leistung aller Darsteller auf der Bühne. Und in diesem Augenblick, im Moose Vancouver, bin ich überglücklich über meinen geilen Job, den ich seit nunmehr 30 Jahre machen darf. Ich bin glücklich über diese Reise und im Einklang mit der ganzen Welt.

Bei der letzten LULU Vorstellung habe ich mir mit schmalem weißen Tape „I LOVE LULU“ von meiner Kollegin auf mein T-Shirt kleben lassen und am Ende gab es dann noch eine große Party im Noon. Ich bin extra mit LEMMY gekommen und habe auf dem Theaterhof vor dem Schauspielhaus geparkt, damit ich nicht mehr fahren muss. Bis morgens um 4:00 Uhr haben wir gefeiert und getanzt. Die Musik hat Dennis über sein Handy gesteuert, er ist Veranstaltungstechniker und nebenbei singt er bei Mundane, einer Metalband. Entsprechend gut und laut war die Musik. Ich habe es sehr bedauert, dass LULU nach nur zwei Jahren abgespielt wurde.

Die Bardame macht eigentlich auch einen geilen Job. Sie ist aufmerksam, kommt vorbei noch bevor die Gläser leer sind und serviert zügig Nachschub, was besonders wichtig für mich ist, wegen meiner Cenosilicaphobie. Aber mit einer Sache bin ich unzufrieden. Sie hatte reichlich Gelegenheit mir meine 25 $ Change zu bringen, aber ich nehme an, sie ist auf ein gutes twentyfive Bucks Trinkgeld aus. Vermutlich vergisst schon mal ein Gast sein Wechselgeld nach einigen Drinks. Ich nehme an, auf genau so eine Gelegenheit hat sie spekuliert. Jutta und ich haben genug für heute und sind bereit zu gehen. Ich signalisiere ihr, dass ich zahlen möchte, das geht auch ohne Worte, egal ob in Tokyo, Rio oder Kairo. „Letzte Gelegenheit, Schätzchen.“, denke ich.

Sie kommt mit der Rechnung, ohne mein Wechselgeld. Ich spreche sie darauf an. „Oh sorry, just one second!“. Sie kramt in ihrer Tasche und holt blitzschnell 25 $ hervor. Ich zahle den exakten Betrag für die Drinks mit Kreditkarte. Nicht 15 % Tipp, nicht 18 % Tipp und 25 % schon mal gar nicht…

City lights

….das erste Mal in meinem Leben verlasse ich eine Bar ohne Trinkgeld zu geben und denke: „Sie wird wissen warum.“

Vancouver by night

….und was als Nächstes geschieht….

CHAPTER II – Durch die verschneiten Rocky Mountains über den legendären Icefields Parkway in die Wüste…

…und warum man besser nicht auf den gefrorenen Lake Louise geht, wenn Schilder vor dünnem Eis warnen…

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