Chapter 24 – Reise in eine Parallelwelt oder EIN TRIP NACH TWIN PEAKS

und wie schmeckt eigentlich der Kaffee im Double R Diner?

Bis nach Bodega Bay sind es nur knapp über 70 Meilen und die Fahrt dauert etwas länger als zwei Stunden. Wir fahren die Route No. 1 und große Teile der Strecke verlaufen entlang des Pazifiks. Der Campingplatz unserer Wahl ist leider voll ausgebucht und wir sind etwas enttäuscht von dem Ort, an dem „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock spielt. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt. Es ist bereits nach fünf Uhr, aber ich nutze die Gunst der Stunde und fahre auf den Platz, um unseren Frischwassertank aufzufüllen. Eine Schranke gibt es nicht. Ich bekomme gut 70 Liter in den Tank, so dass wir fürs Erste wieder versorgt sind. Dann steuern wir einen Stellplatz an, an dem wir frei stehen können. Dieser Platz sagt uns so gar nicht zu, er ist trostlos, niemand sonst ist vor Ort und wir sind traurig, dass San Francisco hinter uns liegt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es uns heute nirgendwo recht sein wird. Also versuchen wir unser Glück noch auf einem anderen Campingplatz, der nicht gerade günstig ist. Aber dafür hat er sehr gute Duschen und liegt nah an der Küste. Der Platz ist sogar teurer als erwartet, aber nicht schlecht. Und weil wir keinen Bock mehr haben weiter zu fahren, bleiben wir.

In San Francisco hatten wir noch so ein schönes sommerliches Gefühl, wenn auch frühsommerlich. Aber jetzt scheinen wir in den Frühling zu fahren je weiter es nordwärts geht. Und der Frühling wird immer wieder von Neuem beginnen, wieder und wieder. Auch der Winter und Schnee wird uns einholen, wenn auch nur kurz.

Bevor es allerdings zu schneien beginnt, steigt die Temperatur auch nochmal auf 30° Celsius, was besonders mich begeistern wird.

Mit meinem Cousin Earl schmieden wir bereits Pläne, wann wir ungefähr in Washington ankommen werden. Wir einigen uns auf ein Zeitfenster von einigen Tagen, bis wir es genauer sagen können. 24 bis 48 Stunden bevor wir vor seiner Tür stehen, sollen wir auf jeden Fall Bescheid sagen. Er möchte allerdings jetzt schon wissen, was wir uns denn zum Dinner wünschen: Lachs, Hühnchen oder Rind. Ich schreibe ihm zurück, dass sie sich bloß nicht solche Mühe machen sollen, aber Hühnchen wäre toll.

Unsere Tage in Kalifornien nähern sich langsam dem Ende, Oregon werden wir relativ schnell durchqueren, damit wir genug Zeit für Twin Peaks im State Washington haben. Denn dort werden wir in eine Parallelwelt eintauchen, in die Welt von David Lynch, von Agent Cooper und vom Double R Diner, von Kirschkuchen und schwarzem Kaffee. Wir werden uns auf einen Trip begeben für eine ganze Woche und leben mit dem Spirit von Laura Palmer, dem wohlmöglich berühmtesten Mordopfer der Seriengeschichte, und ihren Freunden.

Aber eins nach dem Anderen. Vorher kommt noch Seattle, Vashon Island und unser Besuch bei Cousin Earl. Wo geht es eigentlich als Nächstes hin? Ach ja, nach Leggett, denn noch sind wir in California. Und bis Leggett erwartet uns eine fantastische vierstündige Tour, immer entlang des Pazifiks, durch Orte wie Mendocino und Fort Bragg. Dabei genießen wir sensationelle Aussichten auf zerklüftete Felsen im wild tosenden Meer, essen in tollen Locations, versuchen vorbei schwimmende Wale zu sichten und erledigen schnöde Einkäufe.

On the road No. 1

Möge diese kleine Einleitung ein Vorgeschmack sein und einstimmen auf das abschließende Chapter des 2. Aktes.

Notiz am Rande: Jetzt, während dieses Chapter entsteht (und alle noch Folgenden), arbeite ich wieder Vollzeit in meinem Job als Requisiteur am Theater.

Gerade komme ich heim von der „Istanbul“ Vorstellung und habe mich direkt an den Schreibtisch in unserem Arbeitszimmer gesetzt. Jutta schläft bereits. Ich habe ausnahmsweise ein langes Wochenende vor mir, es ist Freitagnacht und am Montag ist der 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit. Selbstverständlich läuft an diesem Wochenende das Theater weiter, an jedem Abend ist Programm. Doch zum Glück gibt es Kollegen, die die nächsten Tage übernehmen.

Ich bin dabei irgendwie einen Dreh zu finden zwischen Arbeitszimmer und meinem geliebtem Job im Theater um Zeit zum Schreiben zu finden. Denn diese Reise ist es wert zu Ende erzählt zu werden. Was mir jetzt langsam klar wird, bis Weihnachten werde ich niemals fertig werden. Aber vielleicht bis zum nächsten Sommer, wenn eine neue Reise ansteht. Aber genug davon, jetzt muss ich erstmal nach Leggett.

Bodega Bay hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, jedenfalls keinen positiven. Ich verfahre mich sogar noch als wir den teuren Campingplatz verlassen, was uns ungefähr eine halbe Stunde Zeit kostet. Das spielt aber keine Rolle, da wir es nicht eilig haben. In Jenner machen wir einen Tankstop um Diesel aufzufüllen, wofür wir 6,49 $ pro Gallone zahlen.

Tankstop in Jenner, California

Die steigenden Preise erinnern uns an den Krieg in Europa und wir fühlen mit den Menschen in der Ukraine und mit den Menschen in Russland, die Putins verdammten Krieg genauso wenig wollen. Wir denken aber nicht nur beim Tanken an diese verteufelte Situation, sondern täglich, denn wir sind in ständiger Verbindung mit Ohla und Carsten. Verdammt, wie soll ich jetzt die Kurve kriegen, um wieder auf unsere Reise zu kommen? Mir wird gerade klar, dass meine Probleme Luxusprobleme sind und dass die Menschen in den vielen Krisenregionen der Welt die wahren Probleme haben. Und für sie gibt es keine einfachen Lösungen.

Ich bleibe dabei einfach hilflos zurück. Und das ist ein scheiß Gefühl. Aber sogar das ist noch Luxus.

In Anchor Bay sehe ich im Vorbeifahren ein tolles Graffiti, das ich unbedingt fotografieren will. Eine Wand mit bunten Vögeln und Blumen veranlassen mich zu bremsen und Jutta meint, wenn wir eh schon halten, dann können wir hier auch einkaufen. Ich fotografiere schnell und dann kaufen wir einen kleinen Vorrat für einige Tage ein.

I LOVE GRAFITTI

Zwischendurch halten wir an Viewpoints, wenn die Möglichkeit besteht Wale zu sehen. Das hat aber leider bis jetzt noch nicht geklappt. Möglicherweise liegt es auch daran, dass wir nicht wirklich lange warten und beobachten, sondern ich schnell die Geduld verliere und weiter fahren möchte.

Whalewatching Point

Nach Mendocino kommen wir durch Fort Bragg und realisieren, wie auch hier der Zahn der Zeit an den Gebäuden und den Menschen genagt hat. Vor vielen Jahren sind wir hier durchgekommen und haben in einem Motel gewohnt, damals allerdings sind wir von Nord nach Süd gefahren. Ich erkenne das Motel sofort wieder und es ist um einiges abgefuckter geworden, wie eigentlich der gesamte Ort. Ich bin nicht so der Schicki Micki Typ, deshalb gefallen mir Orte wie dieser. Aber die Leute, die hier leben mögen das sicher anders sehen.

Wir kommen vorbei am PEG HOUSE mit einem extrem teuren Shop. „NEVER DON`T STOP“ steht über dem Eingang geschrieben. Wir halten uns an die Empfehlung und schauen kurz rein. Es gibt einen Biergarten, manchmal Livemusic und kleine Speisen werden serviert. Fast gegenüber geht es zu unserem Camp für die nächsten Tage, wir haben Leggett erreicht.

The New Peg House

Inmitten großer Redwood Trees haben wir die Wahl zwischen vielen freien Plätzen und ich benötige zwei Runden durch den Wald, um den Besten zu finden. „Wie wäre es hier“?, frage ich Jutta. Schon bei der ersten Runde haben wir diese Campsite favorisiert. „Der ist perfekt!“, sagt sie. „Da haben wir viel Platz und eine großartige Feuerstelle.“ Erstaunlicherweise klettert das Thermometer hier für die nächsten Tage auf über 30 ° Celsius. Das ist relativ ungewöhnlich so früh im April, weit im Norden von Kalifornien.

The Old Peg House

Nachdem wir unser Camp fertig aufgebaut haben, bekommen wir Besuch vom Host des Campingplatzes. Er heißt uns sehr freundlich willkommen und will alles über uns wissen, da wir mit unserem eigenen Fahrzeug aus Deutschland gekommen sind. Er hat seinen Hund dabei. Dem wird bei unserem Gespräch schnell langweilig und er schlüpft aus seinem Halsband, um sich von der Leine zu befreien. Dann dreht er ziemlich auf, so dass der Host sich ständig dafür entschuldigen muss, wenn sein Köter mal wieder an mir vorbei saust und dabei gerne mal in mein Bein beißt. Der Hund macht dies nur spielerisch und es tut auch nicht weh, aber trotzdem nervt es etwas und ich sage nur aus Höflichkeit: „No Problem!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit hat er seinen Hund eingefangen, angeleint und wir setzen unsere Unterhaltung fort, als er uns das Feuerholz für den Abend vorbei bringt.

Der 2. Akt wird geboren

Dieser Platz ist so fantastisch, dass wir drei Nächte bleiben. Ich beginne mein erstes Canada Chapter, als wir von Frankfurt versuchen Halifax zu erreichen, was sich ja als etwas problematisch erwiesen hat. Wir genießen die hochsommerlichen Temperaturen, ich etwas mehr als Jutta. Aber auch ihr wird klar, je weiter es nach Norden geht, desto kühler wird es werden. Also genießen wir in vollen Zügen diese herrlichen Sommertage.

Perfekter Stellplatz für drei Nächte

Morgens spazieren wir runter an den Fluss und ich gehe sogar schwimmen, in eiskaltem Wasser. Es kostet erst eine große Überwindung und eine Million Nadelstiche piesacken mich am ganzen Körper. Doch irgendwann lässt der Schmerz nach und es fühlt sich fantastisch an. Ich klettere raus aus dem Wasser und wir genießen unser mitgebrachtes Bier in der Sonne. Wir sind fast alleine hier unten am Fluss. Auf der anderen Seite vom Felsen sind noch zwei Mädchen, die mit dem Rad und Zelt unterwegs sind. Ich frage Jutta, ob sie nicht mit rein will in das kühle Nass, aber sie verneint und ich weiß, ich werde sie nicht umstimmen. Nach dem zweiten Bier bin ich komplett trocken und schwitze bereits wieder, so gehe ich noch einmal ins Wasser. Jetzt geht es viel besser und ich kann viel schneller eintauchen und friere überhaupt nicht mehr. Erstaunlich, wie schnell sich der Körper anpassen kann.

Unten am Fluss, Leggett, California

Abends sitzen wir am Lagerfeuer, hören Musik und führen schöne Gespräche, machen Pläne für die nächsten Tage und als Jutta ins Bett geht, fange ich an zu schreiben.

Nach dem Frühstück mache ich Rückenübungen auf dem stabilen Holztisch am Stellplatz. Ich merke, dass es mal wieder Zeit wird etwas zu tun, damit die Muskeln nicht komplett dicht machen.

Außer uns sind nicht viele Reisende da, ganz anders als wir es bisher erlebt haben. Vielleicht ist das hier nicht so ein begehrter Hotspot oder es ist jetzt gerade keine Saison an diesem Ort. Wir wissen es nicht, genießen einfach die Tage. Die einzigen Begegnungen sind zwei Motorradfahrer, eine Fahrradfahrerin mit Zelt, die beiden Mädels unten am Fluss und der Camping Host mit seinem Hund. Ach ja, Jutta hat auch seine Frau kennengelernt und sich nett mit ihr unterhalten.

Eiskaltes Wasser, heiße Außentemperatur

Auf jeden Fall ist es nach drei Tagen an der Zeit weiter zu fahren. Es geht nach Arcata, um dort eine Lunchpause zu machen. Arcata ist eine typisch amerikanische Kleinstadt. Mit einem kleinen Park inmitten eines rechteckigen Zentrums, wie wir es aus „Zurück in die Zukunft“ kennen. Wenn wir es jetzt nur noch etwas retuschieren, wie es in Hollywood üblich ist, dann sehen wir auch keine Junkies mehr, die sich in einem Hauseingang zudröhnen und keine Säufer, die auf der Straße vor der Alibi Bar betteln und keine jungen Ladies, die ihre Dienste anbieten.

Arcata

Wenn wir es mit den Augen Hollywoods sehen, dann ist es eine Hochglanzfilmkulisse.

Arcata

Wir fahren weiter in die „Avenue of the Giants“, in den Red Wood Tree National Park, um die letzten Tage in Kalifornien schließlich im Jedediah Smith Redwood State Park zu verbringen.

Es ist kaum zu beschreiben, wie gigantisch diese uralten Redwood Trees sind. Zum Teil werden sie hundert Meter hoch und sind 1500 Jahre alt. Sie haben einen Durchmesser, dass ich eine Pause brauche, wenn ich einmal herum laufe. Na gut, das nun nicht, aber sie sind so beeindruckend und erhaben, sie lassen mich klein und unbedeutend erscheinen. Auch LEMMY verblasst im Schatten eines Redwood Trees in Bedeutungslosigkeit. Seine Lebenserwartung auf Rädern ist lediglich ein Windhauch in der Zeitspanne eines dieser Baumriesen.

Avenue Of The Giants

Den Baum, den man mit dem Auto durchfahren kann, lasse ich jetzt in der Beschreibung aus und auch den Baumstamm, in dem eine Familie gewohnt hat, weil wir das dieses Mal nur im Vorbeifahren sehen. Es lohnt sich aber beides, denn das Haus ist wie ein kleines Museum und der Baum ist selbst mit einem Dodge Durango durchfahrbar, obwohl davon abgeraten wird, dies mit großen SUVs zu versuchen.

LEMMY in den Red Woods

Im Jedediah Redwood State Park wollen wir eine letzte Nacht in Kalifornien verbringen, bevor es nach Oregon geht. Aber es werden zwei, weil es einfach mal wieder zu geil ist. Wir sind gut ausgestattet mit Lebensmitteln und haben Feuerholz. Der Stellplatz ist perfekt inmitten des Dschungels. Um uns herum sind einige Jugendgruppen, die sichtlich ihren Spaß haben.

Jedediah Redwood State Park

Obwohl es hier keinen See oder Fluss gibt, denke ich ans Crystal Lake Camp, an Jason Voorhees und an „Freitag der 13.“ Es bleibt alles friedlich und kein mordender Psychopath geht umher. Die Jugendlichen feiern und wir sitzen am Lagerfeuer. Wir hören nur gelegentlich etwas Geschrei von den Kids aus der Ferne, sehen können wir nichts, außer dem Teil, was der Lichtkegel des Lagerfeuers hergibt. Wir sind in einem Urwald, niemand ist neben uns, niemand gegenüber. Ich mache die Außenbeleuchtung vom Auto an, damit es nicht zu dunkel ist.

LEMMY

Das Redwood Feuerholz brennt viel länger als jedes andere Holz, das ich bisher verfeuert habe. Und ich bin Pyrotechniker, mit Brennstoffen kenne ich mich aus. In dieser Nacht führen wir wieder tolle Gespräche, irgendwie fördert das beruhigende Knistern des Feuers, der leise Wind in den Bäumen und das flackernde Licht den Redefluss bei uns. Ich sitze noch eine ganze Weile am Lagerfeuer, als Jutta schon zu Bett gegangen ist.

Wie weit ist es denn noch bis oben?

Der Tag an dem wir Kalifornien verlassen werden, musste irgendwann kommen. Jetzt ist er fast da, morgen überqueren wir die Grenze nach Oregon. Aber diese Nacht sind wir noch in Kalifornien. Ich denke mal wieder zurück an lange vergessene Tage. So geht es mir oft, wenn ich alleine am Feuer sitze, Musik mich berieselt und einige Biere mich in die richtige Stimmung bringen.

Ich war in der Grundschule und habe an einem Malwettbewerb teilgenommen. Dabei konnte man eine Reise nach Kalifornien gewinnen, das war der Hauptgewinn. Der zweite Preis war ein Fahrrad und der Dritte eine Auto-Rennbahn (nicht Carerra, sondern eine Billigversion davon). Ich wollte unbedingt den ersten Platz ergattern, obwohl mir damals als Junge schon klar war: selbst wenn ich den ersten Preis gewinnen sollte, dann würde ich trotzdem nie nach Kalifornien kommen, weil meine Ma das nicht hätte händeln können. Als Alleinerziehende war sie ziemlich überfordert und auch finanziell nicht in der Lage zum Beispiel mal nach Borkum mit uns zu fahren (mit meiner Schwester und mir). Unsere Nachbarn hätten uns sogar mitgenommen. Sie hatten bemerkt, dass Urlaub für uns finanziell nicht möglich war. Ich war bis heute nicht auf Borkum, meine Ma konnte dieses Angebot unserer Nachbarn nicht annehmen.

Ich wollte als Kind Wildhüter in Afrika werden und mein Lieblingstier war der Gepard. So malte ich einen Geparden, der oben auf einer Klippe sitzt und auf den westafrikanischen Atlantik schaut. Mein Bild reichte allerdings nur für den dritten Platz, was aus meiner heutigen Sichtweise ganz gut war, denn ein Fahrrad hatte ich schon.

Nach Wochen, ich hatte den Malwettbewerb schon ganz vergessen, kam ein Mitschüler auf mich zu und sagte: „Da steht eine Rennbahn bei Bagge im Schaufenster, mit deinem Namen drauf!“

Mit dieser Erinnerung verlasse ich meinen Lieblingsbundesstaat Kalifornien und wir überqueren die Landesgrenze nach Oregon.

Eins muss ich von Beginn an sagen, Oregon ist ein großartiger Bundesstaat, der bei unserer Reise leider viel zu kurz kommt. Dieser Fleck Amerikas verdient viel mehr Zeit als wir ihm zu kommen lassen. Wir haben mittlerweile einen Zeitplan, um relativ genau vorhersagen zu können, wann wir bei Earl sind, plus/minus 24 Stunden.

Brookings (diesen Geheimtipp) sehen wir nur im Vorbeifahren, das Wetter hat sich verändert. Der Hochsommer und 30° Celsius haben Tschüss gesagt und der Frühling ist zurückgekehrt. Wir sind auf dem Weg nach New Port um dort zu übernachten, was für mich eine fast fünfstündige Autofahrt bedeutet.

Da die letzte Nacht am Lagerfeuer noch einige Scheite Redwood Holz verschlungen hat und ich einige Biere, möchte ich nicht die ganze Strecke am Stück fahren, sondern gerne eine Lunch- und Kaffeepause einlegen. Außerdem merke ich, wie mein Rücken mich mal wieder quält. Ich fürchte, dass ich es mit den Übungen auf dem Tisch in Leggett etwas übertrieben habe und davor eine zu große Streching-Pause eingelegt hatte.

Jedes Mal wenn ich die Kupplung trete, schießt mir ein Stich in die Lendenwirbelsäule. Jutta bietet an zu fahren. Doch zunächst noch lehne ich ab. „Geht schon!“, sage ich. In Pistol River machen wir eine kurze Kaffeepause, dann fahren wir noch eine knappe Stunde und sehen in Port Orford eine tolle Location für die Lunchpause. Die Sonne zeigt sich und an einem Hang ist das Red Fish Restaurant, was sehr einladend aussieht. „Wollen wir da nicht etwas Essen gehen?“, frage ich Jutta, während ich schon auf der Bremse stehe. „Auf einen leckeren Fisch hätte ich schon Bock!“, sagt Jutta. Ich wende und parke mit einem grandiosen Blick über den Pazifik. Wir entscheiden uns trotz Sonne, lieber im Restaurant und nicht auf der Terrasse zu essen, da es dort ziemlich kräftig weht. Es mögen wohl so um die 16° sein, trotzdem sitzen draußen Familien mit Kindern in T-Shirts. Wir bestellen uns beide ein üppiges Fischmenü und nach dem Essen frage ich Jutta dann doch: „Kannst du mal für zwei Stunden fahren?“

Aussicht vom Red Fish Restaurant
Red Fish Restaurant

Ich mache auf dem Beifahrersitz die Beine lang und die Augen zu. Jutta fährt und ich versuche meine Rückenmuskulatur zu entspannen. Meine Tilidin Tabletten darf ich tagsüber nicht nehmen, wenn ich noch fahren muss und auch nicht, wenn ich den Abend davor noch ein paar Bierchen hatte. Dann bekomme ich Schimpfe von Jutta.

Die Tabletten habe ich sowieso nur, weil meine Cousine Dagi aus Berlin sie nicht vertragen hat. Ihr wurden 50 Tabletten verschrieben, auch wegen heftiger Rückenschmerzen. Aber weil sie die nicht verträgt, habe ich sie gefragt, ob sie mir die nicht schicken kann. So kam ich zu fünf Blistern mit 48 Tilidin Tabletten. Die kamen danach sofort in mein Reisegepäck. Da es sich um ein Retard Arzneimittel handelt und unterhalb der festgelegten Dosisgrenze liegt, brauche ich kein Betäubungsmittelrezept mitzuführen.

Erst jetzt bei der Recherche habe ich gelesen, das Tilidin in den USA verboten ist, da dort kein erwiesener Nutzen des Medikaments vorliegt.

Jutta tritt kräftig auf die Bremse. Ich rutsche auf meinem Sitz vor und reiße die Augen auf. Ich sehe einen Campingbus mit Fahrradträger hinten am Heck auf mich zurasen. Kurz bevor wir mit der Haube anstoßen stehen wir. Ich schaue entsetzt rüber zu Jutta. „Was is?“, fragt sie allen Ernstes.

Ich schüttle den Kopf und versuche mich wieder zu entspannen. Es fällt mir schwer die Augen geschlossen zu halten. Meistens gelingt das nur für Sekunden, dann muss ich wieder gucken, ob alles in Ordnung ist. Ein bisschen abschalten kann ich trotzdem und etwas Erholung habe ich auch, selbst wenn ich meistens mit auf die Straße schaue.

Dann kommen wir wieder durch einen Ort und eine Ampel springt auf Rot. Der Wagen vor uns hält, obwohl er noch hätte drüber fahren können, aber Jutta ist ihm viel zu dicht aufgefahren und unterschätzt den Bremsweg von LEMMY deutlich.

Nur sehr knapp vor einer Kollision kommen wir zum Stehen und Jutta tut so, als sei alles in bester Ordnung. Sie behauptet die volle Kontrolle zu haben. Dem ist aber nicht so, sie war viel zu dicht hinter dem PKW vor uns und hat den Bremsweg von 3,6 Tonnen total unterschätzt. Sie fährt noch eine halbe Stunde weiter, dann übernehme ich wieder das Steuer. In New Port haben wir ziemlich mieses Wetter, aber das ist egal, wir wollen hier nur übernachten. Bei schönem Wetter hätte der Ort einiges zu bieten. Wir begnügen uns mit einem freien Stellplatz mit Blick auf den Ozean, ohne auszugehen. Irgendwie hat das auch was, einfach aus dem Fenster schauen, wenn es regnet und stürmt. Wir sitzen im Trockenen und trinken Tee, schauen auf die wild tosende See und es ist kuschelig warm im Auto.

Strand von New Port, Oregon

Zum Frühstück bleibt mir die Tilidin Lösung gegen meine Rückenschmerzen weiter verwehrt. Jutta behält die Kontrolle über die Medikamentenbox. Stattdessen werde ich ermahnt, mehr Übungen zu machen. Ich weiß, dass Jutta damit recht hat, murre aber trotzdem.

New Port, Oregon

Heute wollen wir bis Astoria fahren und Jutta übernimmt LEMMY, nachdem wir aus New Port raus sind. Meine Rückenschmerzen sind immer noch ziemlich übel und das Schalten und Kuppeln schmerzt tierisch. Aber nach einer Stunde, die Jutta gefahren ist, will ich wieder hinter das Lenkrad.

Für die Lunchpause hat Jutta einen Platz gefunden, der mich echt vom Hocker haut. „Wir können an den Strand fahren und da Pause machen. Ich koche uns was und du kannst dich schon lang machen. Und nach dem Essen machen wir einen kurzen Mittagsschlaf!“

In Pacific City fahren wir auf den Strand, so wie zuvor am Pismo Beach in Kalifornien. Nur hier müssen wir nichts bezahlen. Wir können einfach so auf den Sand an den Pazifik fahren und uns hinstellen, wo wir wollen. Außer uns ist nur ein einziger Silverado Pickup hier, der Strand ist meilenlang.

Einsamer Silverado am Strand

Schwer begeistert fahre ich durch einige Straßen mit netten Häusern auf den Sandstrand. Gerade noch auf Asphalt und links und rechts kleine Einfamilienhäuser mit hübschen Gärten davor, dann endet der Teer unter den Rädern und der harte, nasse gelbe Sand wird von den AT Reifen aufgemischt.

Ich stelle mich so, dass ich aus dem Bett auf das Meer schauen kann. Wir spüren den Wind in der Kabine, hören die Wellen und schmecken die salzige Luft. Näher und intensiver wie wir den Pazifik gerade erleben, geht es nicht, außer wenn wir reinspringen.

Kurze Pause am Strand in Pacific City, Oregon

Jutta bereitet meine Spezialität zu: Grilled Cheese Sandwich. Nach dem Lunch gönnen wir uns ein kleines Schläfchen und hören „Die drei Fragezeichen und der grüne Geist“. Ich werde wach noch bevor die Folge zu Ende ist und habe eine gute Idee, wie ich finde. Aber Jutta sieht das anders und mag meine Idee überhaupt nicht.

„Hey!“, starte ich voll motiviert die Konversation, als ich merke, dass Jutta aufgewacht ist. „Ich habe eine voll gute Idee!“ In diesem Augenblick ist sie noch empfänglich für meine Begeisterung. Das wird sich leider in wenigen Sekunden ins Gegenteil umkehren. „Wie wäre es, wenn du mal hier am Strand ausprobierst, wie es sich anfühlt mit Allrad zu fahren, mal mit der Untersetzung und einmal ohne alles, also mit Zweiradantrieb?“ Wie gesagt, der Strand ist leer, kein Mensch ist hier, außer ein Typ in seinem Silverado Pickup.

„Nee, keine Lust!“, höre ich von Jutta. Ich kann nicht glauben, was ich da als Antwort bekomme. Ich versuche es ihr etwas schmackhafter zu machen. „Es ist fantastisch auf Sand zu Fahren. Niemand ist hier und wir haben Platz ohne Ende, der Strand gehört uns!“

LEMMY im größten Sandkasten der Welt

Ich versuche zu argumentieren: „Aber es ist doch wichtig, dass du das Auto kennenlernst, dass du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man mit Allrad fährt. Wie der Unterschied ist, wenn dann die Untersetzung eingeschaltet wird und wie sich beispielsweise der Kurvenradius ändert. Hier kannst du es im Sand sehen, wenn du eine Runde fährst ohne Allrad, dann mit Allrad und danach mit Untersetzung. Der Radius wird jedes Mal anders sein!“

Nö, keinen Bock! Das haben wir doch schon beim Offroadtraining in Langenaltheim gemacht!“ Ich halte dagegen: „Das stimmt nicht ganz, denn nur ich habe es in Langenaltheim gemacht. Du hast nur zugeschaut.“

Ich gebe mich noch nicht geschlagen und argumentiere weiter: „Aber was ist denn, wenn wir mal darauf angewiesen sind, dass du das Auto fährst, weil ich ein gebrochenes Bein habe oder krank bin und nicht fahren kann?“

„Dann fahre ich das Auto und dann mache ich das schon.“

Ich versuche noch zu erklären, dass es enorm wichtig ist in bestimmten Situationen richtig zu reagieren. Das es manchmal fatal enden kann, wenn man auf die Bremse tritt oder im falschen Moment kuppelt, weil dann die Drehzahl abfällt. Ich will jetzt keinen Exkurs abhalten übers Offroad fahren, das habe ich ja schon in vorherigen Chaptern getan. Aber ich muss für mich realisieren, dass „Offroadfahren“ für Jutta immer Stress bedeutet.

In gewissen Situationen ist es wichtig in Echtzeit exakt richtig zu reagieren, aber all das, was ich da gerade rede, kommt nirgends mehr an. Ich rede gegen eine Wand, die nicht mehr hört was ich sage. Ich predige noch von Fahrpraxis und Erfahrung, aber all das verpufft im Nirgendwo.

Ich weiß gar nicht mehr genau wo es war, da keimte ein Fünkchen Hoffnung in mir auf, als Jutta bereitwillig eine Offroadpiste gefahren ist. War es in Colorado, Utah, New Mexico oder Arizona? Ich weiß es nicht mehr. Da hatte ich jedenfalls das Gefühl, dass sie Spaß am Fahren hat, dass sie bereit ist auch Verantwortung zu übernehmen, wenn ich mal nicht fahren kann. Aber das war nur ein Strohfeuer. Es loderte kurz hell auf und ich war darüber sehr glücklich, aber genauso schnell ist es erloschen. Hier und jetzt komme ich zu der Erkenntnis, dass ich mich darüber nicht mehr Ärgern möchte und das Kapitel „Jutta & Offroad“ gestorben ist. Schon auf der Piste, die sie gefahren ist war es absehbar. Denn nach einiger Zeit und immer anspruchsvoller werdender Strecke, war sie sehr angestrengt und ich musste wieder fahren. In Zukunft werden wir beide damit leben müssen, dass sie natürlich fährt, wenn ich nicht fahren kann. Aber auch damit, dass sie wenig Chancen hat in heiklen und entscheidenden Momenten richtig zu reagieren, weil ihr einfach die Praxis fehlt. Aber ich bin ein Abenteurer, ein „Sensation Seeker“ und liebe das Risiko und kann eventuell von der Beifahrerseite manche Defizite ausgleichen, sollte es einen Ernstfall geben.

Ich fahre einen Kreis, ohne Allrad. Danach schalte ich den Allradantrieb ein und fahre wieder einen Kreis. Der Radius hat sich erweitert. Dann schalte ich die Untersetzung rein, fahre einen dritten Kreis und der ist noch weiter nach Außen gedriftet. Ich schalte wieder zurück in den Zweiradmodus und verlasse den Strand. Dann erzähle ich Jutta, wie sehr mich das frustriert, was ich hier erlebt habe und dass ich das mit dem Oregon Chapter abschließend verarbeiten werde. Ich hoffe, dass mir das hiermit gelungen ist. „DAS HOFFE ICH AUCH!“ (Jutta)

Merkwürdige Strandkreise…

Ich schaue mir die drei Kreise an, die ich gedreht habe. Jeder hat einen anderen Umfang und ich wundere mich, warum Jutta sich verweigert hat, diese kleine Übung zu machen.

Der Strand und ein moderner, einsamer Pfahlbau aus Beton bleiben im Rückspiegel hinter uns zurück und der Wind weht uns ins verregnete Astoria.

Blick auf den Pazifik

Astoria erinnert mich sofort an eine trostlose Filmkulisse aus „The Deer Hunter“, als wir unter der großen Brücke durchfahren. Die Mainstreet wirkt etwas schäbig, so wie der kleine Arbeiterort im Film, bevor die Jungs nach Vietnam müssen. Ich fühle mich in die 70er Jahre zurückversetzt, keine Ahnung woran das gerade liegt, aber das Gefühl ist einfach da und ich glaube mich in der Vergangenheit wiederzufinden. Wir parken unter der Brücke und da die Inferno Lounge geschlossen hat, in die ich eigentlich gehen wollte, machen wir uns auf den Weg in die Workers Tavern.

Workers Tavern

Dort ist leider gerade Bingo Nacht und darauf haben wir so gar keinen Bock. Aber gegenüber sehen wir die Triangle Bar, also versuchen wir es dort. Die Stimmung ist ausgelassen und die übermütigen Stammgäste werden bereits von der Barkeeperin gemaßregelt. Ich sehe sofort die Musicbox und den Billardtisch. Im Augenblick läuft noch Scheißmucke aus den Boxen, die an der Wand hängen. Aber das wird sich in einigen Minuten ändern, dann wird Metal Music aus den Boxen erschallen. Jutta wirft einen Blick auf die kleine dürftige Speisekarte und entdeckt, dass es hier Chili gibt, sonst nichts. Also bestellen wir zwei Portionen Chili. Aufgrund mangelnder Alternativen isst Jutta heute ausnahmsweise nicht vegetarisch. Dazu gibt es ein paar Cracker, die wir über unsere Schalen zerbröseln und zum Trinken gibt es frisch gezapftes Bier.

Astoria-Megler Bride, von Oregon nach Washington

In ganz Astoria ist das Overnight Parking verboten, so steht es im Internet. Also fragen wir bei der Barkeeperin, ob wir hinter der Bar über Nacht stehen dürfen. Irgendwie macht es den Anschein, dass sie sich damit schwer tut, aber abschlagen will sie es uns auch nicht. So sagt sie dann, dass es ok ist, wenn wir dort drüben stehen und weist mir durch die Hintertür einen Parkplatz zu. Ich parke um, obwohl der Platz auf dem ich zuvor stand auch genauso gut gewesen wäre, da bin ich mir sicher. Die betrunkenen Gäste haben sich zurückgezogen. Jutta und ich spielen Billard und aus den Boxen kommt endlich vernünftige Musik. Ich habe 5 $ investiert. Nach einer langen Nacht ziehen wir uns zurück ins Auto und gehen schlafen.

Triangle Tavern
Billard in der Triangle Bar

Es scheint, dass der Frühling auf dem Vormarsch ist. Und für uns geht es immer weiter nach Norden.

Bevor wir allerdings hier verschwinden, besuchen wir noch die Astoria Column. Das ist eine ziemlich hohe Säule, mit der der Lewis und Clark Expedition ein Denkmal gesetzt wurde.

Astoria Column

Diese begann in Louisiana am 14. Mai 1804 und etwa zwei Jahre später, am 23. September 1806 endete sie dort auch wieder. Lewis und Clark bekamen von Präsident Jefferson den Auftrag die erste amerikanische Überlandexpedition bis zur Pazifikküste durchzuführen. Eines der wichtigsten Ziele war es, einen schiffbaren Weg zu finden. Mit einem 18 m langen Kielboot und zwei kleineren Begleitbooten startete die 33-Mann-starke Expeditionstruppe. Über den Mississippi, den Missouri und anderen Flüssen kamen sie schließlich auf dem Columbia River in Astoria und damit auch an der Pazifikküste an. Unterwegs studierten sie Tiere, Pflanzen und die Geologie der Region. Sie fertigten Karten an und trafen auf die First Nation People. Wer mehr darüber wissen möchte, dem sei das Buch „Der weite Weg nach Westen“, die Tagebücher der Lewis und Clark Expedition ans Herz gelegt und natürlich Wikipedia.

Eines der „Lewis & Clark Expedition“ Boote

Wir müssen eine sich steil windende Straße hochfahren, auf Astorias Hausberg. Die 360° Aussicht von hier ist atemberaubend schön und wir haben Glück, dass die Sonne scheint. Die Säule ist bemalt mit Motiven der damaligen Expedition und man kann auf einer Wendeltreppe bis nach oben steigen. Aber das scheint mir ähnlich beschwerlich, wie die Expedition von Lewis und Clark damals.

Der Columbia River windet sich gen Osten….

Ich steige also nicht die steile Wendeltreppe des Turms nach oben, denn auch von hier ist der Rundumblick fantastisch. Wir sehen wie sich der Columbia River weit in das Land schlängelt, immer weiter nach Osten. Schauen über die gewaltige Brücke, die Oregon und Washington verbindet. Denn noch bevor wir das andere Ufer erreichen, haben wir den nächsten Bundesstaat auf dieser Reise betreten. Eine Nachbildung eines der Boote ist zu sehen und verschiedene Informationstafeln bieten Auskunft über Route und andere wissenswerte Aspekte dieser Expedition. Obwohl die Sonne scheint, macht uns der kühle Wind hier oben zu schaffen und wir beschließen wieder runter zu fahren und dort noch etwas an der Waterfront zu bummeln.

Astoria – Megler Brücke von Oregon nach Washington

Ich parke LEMMY neben einem Restaurant auf einer Plattform über dem Columbia River. Eigentlich dürfen hier nur Gäste des Restaurants parken, aber wir könnten uns ja auf dem Rückweg noch überlegen dort einzukehren. Ich verlasse mich darauf keinen Ärger zu bekommen. Bei einem Blick zurück zum Auto realisiere ich erst, wie wackelig dieser von morschen Pfählen getragene Parkplatz tatsächlich aussieht und ich hoffe mit 3,6 Tonnen nicht zu schwer zu sein. Ein entsprechendes Schild mit einem Gewichtslimit habe ich beim Drauffahren nicht gesehen. Ich hoffe einfach, dass es gut gehen wird und die Konstruktion nicht zusammenbricht.

Columbia River, gegenüber die schneebedeckten Berge von Washington State

Unser Weg führt uns an alten Lagerhallen vorbei. Schienen zeugen noch heute davon, dass hier einiges an Waren umgeschlagen wurde. John Jacob Astor (nach dem der Ort benannt wurde) hat es hier mit einem florierenden Pelzhandel zu Reichtum gebracht. Weiter geht unser Weg zur Inferno Lounge. Die will ich wenigstens von außen sehen und auch diese Bar ist direkt über dem Wasser auf Pfählen gebaut, mit einer tollen Aussicht über den River und auf die gegenüberliegenden schneebedeckten Berge. Hier hätte man einen coolen Abend verbringen können, mit ein paar netten Moscow Mules für Jutta und ein paar Bieren für mich, vielleicht auch einem White Russian und Blick auf die vorbeifahrenden Schiffe. Aber wir sind mit Earl und Pam zum Dinner verabredet. Es ist nur noch eine Zwischenübernachtung bei einem großen Campingausstatter eingeplant, wo Übernachtungen auf dem Parkplatz erlaubt sind, bei Cabelas in Lacey.

Inferno Lounge

Vor Kurzem haben wir mit Earl fest verabredet wann wir da sein werden. Damit auch nichts dazwischen kommt, wollen wir heute schon relativ dicht an Vashon Island ranfahren. Dort lebt er mit seiner Frau. Ohne diesen festen Termin hätte ich gut noch ein oder zwei Tage in Astoria verbringen können und ich denke, wenn wir diese Tour in einigen Jahren von Alaska bis Feuerland runter fahren, dann müssen wir mindestens drei Tage in Astoria einplanen.

Wir müssen noch in einen Computerladen, weil die Maus vom Laptop nicht mehr funktioniert und zum Schreiben brauche ich eine Maus. Damit ist es einfach angenehmer. Die hatten wir in der Türkei erst gekauft, lange gehalten hat sie also nicht. Gleich in der Nähe der Inferno Lounge finden wir das Geschäft und der Verkäufer hat eine ergonomisch geformte PC Maus parat. Jutta kauft noch eine 12 Volt Ladebuchse. Aus der Werkstatt des Ladens hat es die gleiche geniale Aussicht über den Columbia River, wie aus der Inferno Lounge. Wie soll man da arbeiten? Ich würde ständig aus dem Fenster schauen, aber vermutlich nutzt sich irgendwann sogar die spektakulärste Aussicht ab.

Im Grunde ist es eine gute Fügung, dass wir in den Computerladen mussten, denn er befindet sich hinter einem alten Trödelladen, den wir selbstverständlich auch noch besuchen. Mir haben es alte Blechschilder angetan und die Auswahl ist so groß, dass ich Probleme habe mich zu entscheiden. Jutta genehmigt mir zwei Schilder, weil sie eine gute Qualität zu haben scheinen. Ich handle drei Schilder aus. Ich sehe sie schon an meiner Garage, neben den (immer weiter vom Sonnenlicht verblassenden) Schildern hängen. Es gibt noch so einiges zu entdecken, doch aufgrund von Platzmangel und Überladung im Auto, kaufen wir nicht noch mehr ein.

Das Parkdeck auf Pfählen steht noch unversehrt da, als wir zurückkommen und es ist kein Knöllchen am Auto zu finden. Ich verstaue meine neu erworbenen Blechschilder unten in einer Schublade, so dass sie nicht weiter stören.

Jetzt geht es weiter nach Washington, auf die andere Seite der beeindruckenden Brücke über den Columbia River. Jutta hat sogar noch ein Highlight aus dem Hut gezaubert. Was zwar einen kleinen Umweg bedeutet, den wir aber gerne in Kauf nehmen. Es gibt ein altes Schiffswrack am Ufer zu bestaunen, die „Plainview AGEH-1“.

Plainview AGEH-1

Zuerst fahren wir unter der Brücke, die uns nach Norden bringen wird hindurch, um dann etwas später einen Loop zu nehmen und wieder auf der 101 die Astoria-Megler Bridge zu überqueren. Am Ende der Brücke verlassen wir kurz die 101 und fahren rechts auf den Lewis and Clark Trail Hwy., um zum Wrack zu kommen. Nach einigen Minuten sind wir dann auch schon da und ich kann etwas abseits der Straße halten. Ein kleines Stück müssen wir noch laufen und dann das: „No Trespass!“ steht auf einem roten Warnschild.

„Ich muss aber trotzdem durch, nützt ja nix…“

Ich ignoriere den Hinweis und finde schnell heraus, warum das Schild dort steht. Um zur Plainview AGEH-1 zu gelangen muss ich mich durch dichtes Unterholz schlagen und einen feuchten und extrem rutschigen Hang hinunterquälen. Zum Glück gibt es überall Geäst um mich festzuhalten. Jutta wartet oben auf mich und begnügt sich später mit meinen Fotos. Endlich unten angekommen, wate ich durch matschigen Morast und über grüne moosbewachsene Steine. Ohne zu stürzen komme ich nah an das Boot heran. Aber leider ist es unmöglich dort hinauf zu kommen, ohne nass zu werden. „Wo bleibst du denn?“, höre ich Jutta rufen. Durch das dichte Unterholz ist sie nicht mehr zu sehen. „Ich komme gleich, noch einen Augenblick. Hier ist es alles so rutschig und ich komme nur langsam voran.“ Mit ein paar netten Schnappschüssen mache ich mich vorsichtig auf den Rückweg.

USS Plainview AGEH-1

Die USS Plainview war in den 60er Jahren das größte Tragflächenboot der Welt. Es wurde auch als Forschungsschiff der United States Navy eingesetzt. Seit dem 10. April 2019 liegt sie hier verlassen im Wattenmeer gegenüber von Astoria, umgeben von schneebedeckten Bergen. Kritiker merken an, dass Schadstoffe aus dem Boot auslaufen könnten und die Umwelt bedrohen.

„Bin gleich da!“, rufe ich Jutta zu. „Hast du da irgendwo einen langen Ast oder sowas, den du mir reichen kannst, um mich hochzuziehen?“ „Ich gucke mal.“, sagt sie, als wir langsam wieder in Sichtweite gekommen sind.

Sie findet einen langen Stock und reicht mir ein Ende runter, so dass sie mich daran ganz gut hochziehen kann. „Das Boot war ganz schön beeindruckend, leider bin ich nicht an Bord gekommen.“

Columbia River, Washington State

Wieder am Auto, wende ich und fahre zurück Richtung Brücke, lasse sie allerdings links liegen und weiter geht es auf die 101 zu einem kleinen Kaff namens South Bend WA. Dort machen wir einen kurzen Stopp an der „World Largest Oyster“. Danach geht es ohne Unterbrechung zu unserem anvisierten Übernachtungsplatz bei Cabelas in Lacey. Unterwegs haben wir einen PKW vor uns, wo ein verrückter Hund immer von einem zum anderen Fenster rennt. In den Linkskurven guckt er links aus dem offenen Fenster und in den Rechtskurven schaut er rechts raus und lässt die Ohren im Wind wehen. Die Zunge hängt ihm aus der Schnauze und er scheint zu grinsen. Wir lachen uns kaputt und dann biegt der Wagen vor uns ab.

The Wörld Largest Oyster

Am Ziel angekommen parken wir LEMMY weiter hinten bei den Trucks. Der Parkplatz ist riesig und als wir gerade überlegen, ob wir heute oder morgenfrüh in den Laden gehen, fängt es heftig an zu schneien.

Damit ist es klar, heute bleiben wir zuhause.

Kurzer Wintereinbruch

Bei einem Becher Tee schreibe ich Earl nochmal, dass wir schon fast da sind und sie morgen am frühen Abend mit uns rechnen können. Wir wollen die Fähre von Ruston nach Vashon Island so gegen fünf Uhr nehmen und werden ca. eine Stunde später bei ihm sein.

Dann beobachten wir das wilde Schneetreiben aus der guten Stube und ich durchstöbere das Internet nach Konzerten in der Grungemetropole Seattle. Nach kurzem Jubel über ein Deftones Konzert mit dem Support Gojira aus Frankreich in ein paar Tagen, folgt sehr schnell frustrierende Ernüchterung. Ausverkauft! Ich schaue auf verschiedenen Ticketportalen und kann nicht fassen, was ich da sehe. Es werden Karten angeboten, für utopische Preise von mehreren hundert Dollar pro Ticket. Dabei ist dreihundert noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich suche nach anderen Konzerten im April und werde fündig. Die fantastischen Viagra Boys sind in Town. Ich habe sie bereits mehrmals live gesehen, aber auch diese Show ist ausverkauft. Es gibt Karten zu denselben überteuerten Preisen und dabei weiß ich nicht mal, ob ich gültige Karten erwerbe oder eventuell auf einen Betrüger reinfalle. Ich lasse Frust ab und erzähle Jutta was ich davon halte, dass hier alles ausverkauft ist und von dieser Preispolitik. Corrosion Of Conformity spielt in Seattle, ausverkauft. Ministry spielt in Seattle, ausverkauft.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, schimpfe ich verärgert über die Situation. Ich hatte mir tatsächlich Chancen ausgerechnet auf das ein oder andere Konzert in dieser Westküstenmetropole. Das war wohl ein bisschen naiv gedacht von mir. So kurzfristig ist es eben nicht möglich, wenn man in so einer musikverrückten Stadt ist. Mir dämmert, dass vermutlich das Deftones Konzert vor ein oder zwei Jahren wegen dem verkackten Virus ausgefallen ist und die Tickets ihre Gültigkeit behalten haben. Und jetzt sind natürlich alle verrückt nach Livemusik. Ausgehungert. Genauso wie ich es bin. Frustriert kündige ich an, dass wir trotzdem zu den Veranstaltungsorten fahren und an der Tür versuchen noch Karten zu ergattern, von Leuten, die ihre Tickets verkaufen wollen. Das erlebe ich fast immer, egal ob in Bremen oder in Hamburg. Irgendjemand bietet immer ein oder zwei Karten an. Mein ungebändigter Frust trifft Jutta, obwohl sie überhaupt nichts für die Situation kann. Sie nimmt es mir nicht übel und lässt mich lamentieren, bis ich mich irgendwann abgeregt habe.

Draußen wird es dunkel und die Laternen auf dem Parkplatz gehen an. Wir schauen aus dem Fenster und beobachten wie die dicken Schneeflocken im Lichtkegel tanzen. Hier fällt uns nur ein PKW auf, in dem jemand zu leben scheint. Dann ziehen wir die Fenster zu und schauen einen Film, bevor wir zu Bett gehen.

Heute schlafen wir lange aus und genehmigen uns ein ausgiebiges Frühstück. Unser Programm für diesen Tag ist überschaubar. Wir wollen ganz gemütlich durch Cabelas bummeln und schauen was es hier so alles gibt. Danach haben wir dann nur noch die Verabredung mit Cousin Earl und Pam zum Dinner. Aber zuerst riskieren wir mal einen Blick aus dem Fenster. Ich öffne das Rollo und werde von der Sonne geblendet. Es schneit noch immer oder auch schon wieder und draußen ist alles weiß. Wüsste ich es nicht besser, könnte man annehmen es sei Dezember, statt Anfang April. Gestern war noch Frühling als wir in Astoria gestartet sind, heute haben wir einen kurzen Wintereinbruch.

Polar Bear

Jutta freut sich schon beim Frühstück auf unsere Shoppingtour. Sie liebt Läden mit Campingstuff, aber dieser Store hat weit mehr zu bieten als nur Campingausrüstung. Wir stapfen durch den Schnee zum Haupteingang und staunen nicht schlecht, als wir die Dimensionen des Ladens sehen. Über einem künstlich angelegten Hügel mit diversen ausgestopften Wildtieren hängt ein Kleinflugzeug unter der Decke. Unsere Strategie durch diesen Einkaufsdschungel ist, systematisch den Hügel zu umrunden und dabei jeden Gang mitzunehmen. Hier gibt es einfach alles, was mit Outdoor Aktivitäten zu tun hat, sei es Fishing, Hunting und Camping. Es gibt Boote, Angeln, Armbrüste und alles was man zum Bogenschießen benötigt. Eine Abteilung hat Zelte in jeder erdenklichen Größe und alles zum Thema Outdoor Cooking. Es gibt Kleidung für jeden Bedarf, Literatur vom Überleben in der Natur bis hin zu Kochbüchern. Diese Aufzählung könnte ich noch lange weiterführen, fasse es aber mit einem Wort zusammen. Hier gibt es „ALLES“!

Cabelas, The Famous Outfitter

Jutta schaut nach einem Fernglas, weil unseres etwas klein ist und von minderer Qualität. Außerdem suchen wir noch einen handlichen Kocher für draußen. Den kleinen Campingkocher aus Griechenland können wir nicht benutzen, weil es keine passenden Gaskartuschen dafür in Amerika gibt. Und unsere Kartuschen durften wegen der Gefahrgut-Bestimmungen von Seabridge nicht mit an Bord des Containerschiffes. Leider finden wir nicht das was wir suchen, denn ich habe ganz konkrete Vorstellungen von der Größe des Kochers, vom Gewicht und das er kompakt ist. Schließlich muss ich ihn in der Ladeluke verstauen. Was die Ferngläser angeht ist die Auswahl fast zu groß, so dass Jutta sich nicht entscheiden kann. Dann checken wir noch die Flanellhemden, aber das Einzige das mir gefällt, gibt es nicht in Large, sondern nur in XL und XXL. Trotzdem macht es Spaß durch dieses Riesensortiment zu bummeln. Hätten wir ein größeres Fahrzeug mit mehr Stauraum und Zuladung, würden wir vermutlich mit einem vollen Einkaufwagen diesen famosen Outfitter verlassen, wie Cabelas sich selbst beschreibt. Da dies aber nicht der Fall ist, verlassen wir den Laden mit überschaubaren Einkäufen und machen noch einen Mittagsschlaf, bevor wir Lacey in Richtung Fähre verlassen, nach Ruston.

Warten auf die Fähre von Point Defiance nach Tahlequa, Vashon Island

Die Fähre geht von Point Defiance nach Tahlequah. Sie fährt mehrmals am Tag und nur die Hinfahrt kostet etwas. Will man Vashon Island verlassen muss man nicht erneut bezahlen. Im Grunde kauft man immer ein Return Ticket. Auch wenn man die Insel auf der anderen, der nördlichen Seite verlässt, so wie wir es morgen vorhaben. Einige Autos stehen schon vor uns, wir reihen uns ein in die Schlange der Wartenden. Nach wenigen Minuten sehen wir die Fähre schon kommen. Es lohnt sich nicht bei der kurzen Überfahrt das Auto zu verlassen, also bleiben wir sitzen.

Von Tahlequah sind es nur noch 20 Minuten zu fahren bis zu Cousin Earl. Wir sind perfekt im Zeitplan und werden pünktlich um sechs Uhr dort sein. Ein bisschen aufgeregt bin ich jetzt schon. Werden wir einen netten Abend haben und uns gut verstehen?

Angekommen auf Vashon Island fahren wir über eine kurze, schmale Landverbindung rüber auf die kleinere Schwesterinsel, nach Maury Island. Jutta navigiert mich mit ihrem Handy zu Earls Adresse. Als wir in die Einfahrt biegen, kommen er und Pam uns schon aus dem Haus entgegen. Ich halte kurz und wir begrüßen uns sehr herzlich, als würden wir uns schon lange kennen. Ich erkläre kurz, dass ich noch einen Stellplatz auf seinem Grundstück suchen möchte, wo wir in Waage stehen. Nach wenigen Minuten bin ich einigermaßen zufrieden und denke, für eine Nacht wird es schon gehen. Dann gehen wir gemeinsam rein.

Das Haus ist ziemlich groß und die Wohnküche sieht einladend aus. Es riecht bereits sehr lecker nach gegrilltem Hühnchen aus dem Ofen. Durch die hohen Fenster zeigt Pam uns den Garten. Gelegentlich kommen Hirsche und Rehe zu Besuch, berichtet sie uns. Immer wieder wird uns das Gästezimmer angeboten, aber wir machen klar, dass wir unbedingt im Auto die Nacht verbringen wollen, so wie wir es die gesamte bisherige Zeit der Reise gemacht haben. Ich nehme an, das Gebot der Höflichkeit treibt sie immer wieder dazu uns Bett und Bad anzubieten. Nach der ersten persönlichen Kennenlernphase, durch Facebook kenne ich Earl ja bereits seit einer Weile, geht es dann zu Tisch.

Sie servieren uns Kartoffelpüree, Hühnchen aus dem Ofen, grüne Bohnen und einen Weißwein zum Dinner. Wir überreichen eine Flasche teuren Rotwein und hoffen darauf, dass es ein guter Wein ist. Dabei fällt mir eine „Columbo“ Folge ein, sie heißt „Wein ist dicker als Blut“ und es geht um einen Weinliebhaber, der einen Mord begeht. Um dem Mörder auf die Schliche zu kommen versucht Columbo soviel wie möglich in zwei Stunden über Wein zu lernen. Dazu besucht er einen Weinexperten und fragt ihn unter anderem, woran man einen guten Wein erkennt. Der Experte antwortet kurz und knapp: „Am Preis!“

Es sieht alles ganz vorzüglich aus und das Essen schmeckt köstlich. Sogar der Weißwein schmeckt mir, obwohl ich eigentlich nur trockenen oder halbtrockenen roten Wein trinke. Meine Nervosität hat sich verzogen und wir unterhalten uns prächtig, obwohl ich nicht alles verstehe, denn Pam spricht leise und ziemlich schnell. Earl verstehe ich etwas besser, er spricht zwar auch leise, aber deutlicher. Mein Defizit fällt kaum auf, denke ich zumindest. Wenn ich mal etwas nicht genau verstehe, nicke ich lächelnd zustimmend. Pam erzählt gerne von der Familie und Earl von seiner Ahnenforschung. Wir werden befragt, welche Orte auf dieser Reise uns am meisten beeindruckt haben und das ist wirklich schwer zu beantworten. Ich versuche zu erklären, dass immer der Ort, an dem wir gerade sind besonders ist. Denn das ist der Grund Orte zu besuchen, weil sie anziehend sind, weil sie etwas haben, was andere Orte nicht bieten und weil wir dort hoffen neues, interessantes oder aufregendes zu entdecken. Dann füge ich noch dazu, dass ich die Städte und das Nachtleben liebe. In den USA sind das besonders New York, Los Angeles, New Orleans und San Francisco, aber auch die wilde Natur, in der Jutta sich wohler fühlt als in den Metropolen, liebe ich sehr.

Nach dem Dessert zeigt Earl uns sein Buch „A History Of The GODT Family“ von 1549–1992. Er ist viel gereist und hat dabei eine Menge Leute getroffen und interviewt. Früher hat er als Collegeprofessor gearbeitet, jetzt ist er in Pension. Er sagt, es gäbe viele Ärzte in unserer Familie und zeigt mir in dem Buch die Seite auf der ich stehe, meine Schwester und mein Vater und sein Bruder, von dem ich meinen Vornamen geerbt habe. Earl erzählt viele Einzelheiten aus unserer Familie, von einem berühmten Bischof in Schleswig und davon, dass wir damals als mordende und plündernde Wikinger um die Welt gezogen sind. Jetzt wird mir auch klar, woher mein Fernweh stammt. Zum Glück ist das Plündern und Morden über die Jahrhunderte aus unserer DNA verschwunden, der Entdeckergeist jedoch nicht.

Earls Ahnenforschung

Wir wechseln rüber in das Wohnzimmer auf die Couch und Earl nimmt Platz in seinem Lieblingssessel. Ich frage, ob er nicht ein Bier mit mir trinken möchte. Er bejaht und ich husche schnell raus ins Auto und nehme zwei Dosen aus dem Kühlschrank. Eine Dose Pabst Blue Ribbon reiche ich ihm, die andere öffne ich für mich. Jetzt reden wir kurz über ihre anstehende Reise nach Hawaii. Sie wollen Pams Schwester besuchen, die dort lebt und Geburtstag feiert. Wir reden über unsere Pläne für die nächsten Tage und ich klage mein Leid, dass alle Konzerte in Seattle ausverkauft sind. Dann erzähle ich von einem Museum, welches ich besuchen will, aber den Namen vergessen habe. Ich weiß nur noch, dass es um Popkultur geht und eine ziemlich schrille Architektur hat. Earl ist sofort klar wovon ich spreche und sagt nur „MoPOP“. In dem Augenblick fällt es mir auch wieder ein.

Wir sprechen noch ein weiteres Bier lang über alles Mögliche. Zum Beispiel müssen sie sich keine Gedanken um Einbrecher machen. Das kommt hier fast nie vor, die Flucht von der Insel ist eben nicht so einfach. So geht die Zeit ziemlich schnell dahin und Jutta und ich verständigen uns unauffällig, ob wir uns nicht langsam zurückziehen sollten.

„Sehen wir uns im Juli in Dänemark?“, wollen sie noch wissen. Dort ist wieder ein GODTFAMILY – Treffen. Sie fliegen zum wiederholten Mal nach Europa und auch nach Dänemark, wo viele Godts leben und schon einige Familientreffen stattgefunden haben. Sehr wahrscheinlich nicht, sagen wir, denn LEMMY wird dann noch mitten auf dem Atlantik im Bauch eines riesigen Containerschiffes sein und wir landen nur wenige Tage vor dem Termin in Deutschland. Aber wenn sie wollen, können sie uns sehr gerne besuchen bevor sie wieder in die Staaten fliegen, bieten wir an. Sie wollen von Dänemark noch in die Niederlande fahren um Freunde zu treffen und fliegen von Amsterdam zurück nach Seattle. Da liegt Bremen doch fast auf dem Weg. Das wollen wir so machen, verabreden wir.

Nach einem fantastischen und kurzweiligen Abend verabschieden wir uns. Earl quält sich noch bis vor die Tür, trotz seines schmerzenden kaputten Knies. Pam fragt wann wir frühstücken wollen. „Ist 9:30 Uhr ok?“, antworte ich. Strahlend wie es ihre Art ist, sagt sie: „Yes of course!“

The Living Room

Vor dem Schlafengehen reden Jutta und ich noch über den Abend und sind uns einig. Pam und Earl sind beide ganz besonders liebenswürdig und wir haben die Zwei in dieser kurzen Zeit ins Herz geschlossen. Außerdem habe ich einen neuen Cousin dazugewonnen.

Beim Frühstück quatschen wir, als ob wir uns ewig kennen würden. Wir fühlen uns wohl und herzlich aufgenommen. Für Pam und Earl ist es bereits das zweite Frühstück an diesem Morgen, denn sie stehen immer sehr früh auf. Nach reichlich Kaffee, frisch gepresstem Orangensaft und Toast mit Rührei, Wurst, Käse und selbstgemachter Marmelade naht langsam der Abschied. Earl liebt seinen morgendlichen Kaffee, ähnlich wie ich mein abendliches Bier, stellen wir noch fest. Dann kommen wir unweigerlich auf Twin Peaks zu sprechen, dieser Fernsehserie aus den 90er Jahren von David Lynch. Dort werden wir eine ganze Woche hängen bleiben, nachdem wir Seattle den Rücken gekehrt haben. Aber das wissen wir jetzt noch nicht.

Wir drücken und herzen uns zum Abschied, freuen uns auf ein Wiedersehen in Deutschland im Juli und dann sagen wir: „Bye bye Pam und Earl, bye bye Vashon Island. Seattle wir kommen!“

Pam, me and Cousin Earl

Vom North End Ferry Terminal geht es direkt nach Fauntleroy in Seattle. In der Stadt angekommen geht es direkt weiter zum MoPOP. Glücklicherweise ist direkt gegenüber ein bezahlbarer Parkplatz. Wir veranschlagen 3 Stunden für das Museum of Pop Culture. Von oben sieht es ziemlich futuristisch aus, so als hätte Christo ein paar Tischdecken über große Objekte geworfen, diese dann versteift und in verschiedenen Farben lackiert. Jetzt wo wir davor stehen sieht es aus, als wäre die Fassade aus einzelnen Metallplatten zusammengesetzt. Die Formen sind geschwungen, wie auch beim Guggenheim Museum in Bilbao. Kein Wunder, der Architekt vom MoPOP ist derselbe. Kein geringerer als Frank Gehry zeichnet sich für dieses Meisterwerk verantwortlich. Die einzelnen Abschnitte des Museums haben unterschiedliche Farben und es wurde mit vielen verschiedenen Materialien beim Bau gearbeitet.

Museum Of Pop Culture, Seattle

Manche Bewohner Seattles halten das MoPOP für das hässlichste Gebäude der Stadt. Mir gefällt‘s. Ein lebensgroßer Chris Cornell empfängt uns mit der Gitarre in der einen Hand, die andere ragt grüßend in die Luft. Wir gehen zum Haupteingang und lösen die Tickets.

Chris Cornell vor dem MoPOP

Als erstes gehen wir eine Treppe hoch, in die Nirvana Ausstellung. Ein gigantischer Gitarrenbaum wächst in den Himmel, wird nach oben hin immer ausladender und ist wohl so um die 12 Meter hoch.

MoPOP Seattle

Ich bin ein großer Nirvana Fan und hatte das Glück, die Band live zu erleben. Sie waren am 27.08.1991 beim Überschall Festival im Bremer Aladin als Support von Sonic Youth. Damals haben sie ordentlich Krach gemacht. Die aktuelle LP war „Bleach“ von 1989, „Nevermind“ kam erst im September ´91 in die Läden. Aber einen kleinen Vorgeschmack auf diese legendäre Platte haben wir auf dem Konzert schon bekommen. Sonic Youth war dermaßen laut, dass ich echt weiter nach hinten flüchten musste, was mir zuvor auf Konzerten noch nie passiert ist. Das Aladin war proppenvoll und ich nehme an, dass die meisten Besucher hauptsächlich wegen Nirvana gekommen sind.

Nirvana Exhibition

Jetzt bin ich schon etwas aufgeregt diese Ausstellung zu sehen und freue mich. Wir bekommen schon einen guten Einblick in die viel zu kurze Band History, aber auch in die morbide Gedankenwelt Kurt Cobains. Es gibt Originalbriefe und Bilder unter Glas zu sehen, selbst gemalte T-Shirts und natürlich reichlich Gitarren, Konzertplakate und Fotos. Traurigkeit überkommt mich ein wenig, wenn ich daran denke, dass so ein junger und begabter Mensch mit 27 Jahren sein Leben freiwillig beendet. Wie verzweifelt muss man sein, um so einen Schritt zu gehen? Leider haben wir es auch schon erlebt, einen Freund von uns nach vielen persönlichen Niederschlägen auf diesem Weg zu verlieren.

MoPOP, Seattle

Jetzt ist Kurt im „Club 27“, mit Janis Joplin, Jimi Hendrix, Amy Winehouse, Jim Morrison und einigen anderen Künstlern, denen Ruhm alleine nicht gereicht hat. Berühmt zu sein und Geld zu haben reicht nicht zum glücklich sein. Es mag einiges im Leben leichter machen, Türen öffnen, aber Glück kann man sich nicht kaufen, Gesundheit auch nicht, Ärzte vielleicht schon, aber das was das Leben lebenswert macht, ist nicht mit Ruhm, Geld und Macht zu erreichen. Wo liegt das Geheimnis vom Glück? Vom glücklich sein? Ich weiß es auch nicht, aber was ich weiß ist, das mich das Reisen glücklich macht, das es meinen Horizont erweitert und das ich niemals aufhöre zu lernen und bereit bin über den Tellerrand zu schauen.

Kurt Cobain & Nirvana Exhibition MoPOP

Wehmütig verlassen wir die Räume von Nirvana und Kurt Cobain.

MoPOP Seattle

Jimi Hendrix hat nur einen kleinen Raum bekommen, den wir natürlich auch nicht links liegen lassen, wie z. B. die Hip Hop Abteilung. Bei Jimi bin ich allerdings viel schneller fertig, weil diese Musik einen anderen Stellenwert für mich hat als Metalmusic und seine verschiedenen Genres. Jutta verweilt hier deutlich länger.

Bei Hendrix ist alles viel bunter und freundlicher, aber natürlich auch psychedelischer als bei Nirvana.

Jimi Hendrix Exhibition

Als nächstes wollen wir in die Horror- und in die Sciencefiction Sektion wechseln und kommen von der Musik zum Film. Diese beiden Ausstellungen finde ich besonders großartig, da ich Filme ja so liebe, besonders das Horrorgenre und alle Varianten davon. Sciencefiction geht ja oft einher mit Horrorelementen, wie zum Beispiel Alien von Ridley Scott. Hier ist es düster und sämtliche Filmbösewichter sind vertreten. Jason Voorhees und Michael Myers aus Freitag der 13. und Halloween stehen lebensgroß vor uns. Die 100 Horrorfilme, die man gesehen haben sollte, bevor man stirbt, laufen in kurzen Sequenzen in Endlosschleife. Requisiten, Mordwerkzeuge, original Kostüme und Sets aus verschiedenen Filmen werden hier perfekt in Szene gesetzt.

Wer kennt den Film?

Kinder haben hier unten im Keller nichts verloren, die sind oben bei Harry Potter und Game Of Thrones besser aufgehoben. Auf einer Tafel wird erklärt, wie man einen Aliencode dekodieren kann. Woanders erfahren wir alles Wissenswerte über Psychos, Vampire, Werwölfe, Aliens, Mutanten und Tiermonster und die bedeutendsten Filmtitel zu den einzelnen Genres. Ich bin ganz fasziniert von all dem hier, Jutta ist schon etwas weiter vorne, aber ich hole schon noch auf.

Horrorfilm Abteilung

Das Licht ändert sich langsam, von schummrig und blutig rot wird es heller, gelber und ich sehe Jutta etwas weiter vorne in der Sciencefiction-Abteilung.

Film Museum MoPOP in Seattle

Hier habe ich das Gefühl an Bord eines Space Shuttles zu sein. Wir gehen gemeinsam durch diese Sektion, in der ich mit Jutta Schritt halten kann. Ich nehme sogar Platz im Cockpit eines Raumschiffes und kann verschiedene Anweisungen per Knopfdruck geben, als sei ich der Pilot.

I’m on my way…., to another wörld

In einem Schaukasten hängen die abgefahrensten Schusswaffen, keine herkömmlichen Pistolen, sondern nur abgespacestes Zeug. Bei einer knochenähnlichen Knarre habe ich die Assoziation „eXistenZ“, ein Film von David Cronenberg. Eine andere sieht noch verrückter aus, eine Mischung aus Spritze, OP Besteck und Laser.

Is this gun looking at me?

Schwer begeistert verlassen wir den Untergrund und die faszinierenden Filmwelten, um uns wieder der Musik zuzuwenden. Jetzt geht es bis ganz nach oben zu Pearl Jam.

Going in a new wörld…

Diese legendäre Band um Eddie Vedder bekommt die räumlich größte Ausstellungsfläche. Ein Pfeil unter einer runden Leuchte mit der Aufschrift PEARL JAM – HOME AND AWAY weißt uns den Weg. Inmitten dieser Leuchtreklame ragt die Space Needle, ein Überbleibsel der Weltausstellung von 1964, über dem MoPOP Building in die Luft. Wir lassen die Space Needle dieses Jahr aus, da wir bereits einmal dort oben standen und den Blick genossen haben.

Pearl Jam Exhibition

Verteilt in der ganzen Ausstellung tauchen immer wieder lebensgroße Plastikfiguren auf, die wohl die Musiker darstellen sollen. Sie sehen aus wie von Playmobil, aber mit ein bisschen Fantasie könnte man eventuell Pearl Jam darin wiedererkennen. An den Wänden hängen unzählige goldene Schallplatten und Konzertplakate. In den Schaukästen sehen wir schrille Klamotten, Instrumente, noch mehr Plakate und allerlei anderer Stuff, der Fanherzen höher schlagen lässt.

MoPOP Seattle, Washington

Wir hatten auch schon das Glück Pearl Jam live zu erleben. Das war in den frühen 90er Jahren, als ich noch regelmäßig auf dem Roskilde Festival in Dänemark Gast war. Später wurde es mir zu kommerziell und der Mainstream verdrängte den Grunge, den Metal und die harten Bands immer mehr. Aber bevor es dazu kam, sahen wir Pearl Jam auf der Orange Stage, auf der größten Bühne des Festivals. Eddie Vedder sprang bei diesem Gig von der Bühne ins tobende Publikum und als er wieder zurück auf die Bühne wollte, erkannte ein Ordner ihn nicht als den Sänger der Band, was für viel Spaß bei uns und den anderen Zuschauern sorgte. Irgendwann begriff der Ordner dann was los ist und Eddie konnte die Show weiter spielen. Das war damals ganz witzig, aber es gab auch andere Zeiten. Am 30. Juni 2000 erlebten die Band und die Festivalbesucher einen regelrechten Albtraum, als 9 Menschen bei der Pearl Jam Show starben. Sie spielten wieder auf der Orange Stage und es kam zu einem solchen Gedränge vor der Bühne, dass einige Leute stürzten und starben in der Menschenmasse, die unablässig nach vorne drückte. Pearl Jam brach das Konzert ab. Die Bandmitglieder verarbeiten heute noch dieses Unglück und trafen nach der Tragödie die Hinterbliebenen der Opfer. 2002 komponierten sie einen Song, der das tragische Ereignis zum Thema hat, Titel „Love Boat Captain“.

Pearl Jam Ausstellung in Seattle, im MoPOP

Die Veranstalter waren selbstverständlich auch in der Verantwortung dafür Sorge zu tragen, dass so etwas niemals wieder geschehen kann. Es wurden Wellenbrecher aufgebaut, um die Menschenmassen auszubremsen. Es gibt inzwischen mehrere abgegrenzte Sicherheitsbereiche vor der Bühne und das Personal wurde besonders geschult.

Die Band wollte eigentlich nie wieder auf Festivals spielen, überlegte es sich aber zum Glück anders und spielte 2006 erstmals wieder live Open Air in Reading und Leeds. Dort ermahnten sie das Publikum zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme, was sich bis heute zu einem Ritual auf jedem Konzert von Pearl Jam etabliert hat. In Gedenken an die neun Verstorbenen auf dem Roskilde Festival im Jahr 2000 sollte doch dieses Motto immer und überall gelten.

Pearl Jam Ausstellung

Abschließend möchte ich noch erwähnen dass diese großartige Band sich für soziale Gerechtigkeit und verschiedene „Non Profit Organisations“ um den gesamten Globus einsetzt. All das und noch viel mehr kann man hier im MoPOP erfahren und jedem begeisterten Rockfan sei es ans Herz gelegt diese Erfahrung in Seattle zu machen, sollte man denn in der Stadt sein.

Pearl Jam

Absolut beeindruckt verlassen wir Frank Gehrys skurriles Gebäude und seine Ausstellungsräume, um uns auf den Weg zu machen. Auf den Weg in eine andere Welt, in die Welt von „TWIN PEAKS“.

MoPOP, Seattle (Frank Gehry)

Wir fahren nach North Bend, ca. 30 Meilen Richtung Osten. Dort wollen wir ins Double R Diner zum Kaffeetrinken und Kirschkuchen essen. Wir werden nicht wirklich in Twin Peaks sein, sondern in Snowqualmie und North Bend und verschiedene Drehorte zu dieser Kultserie von David Lynch besuchen. Der erste Drehort, den wir besuchen wollen, ist Twede’s Café, das RR Diner aus der Serie. Nach etwas über einer halben Stunde Fahrt kommen wir an und die Magie wirkt bereits jetzt schon. Ich parke direkt an der Seite vom Diner und kann es kaum fassen wieder hier zu sein.

Für die Leute die Twin Peaks nicht gesehen haben oder die, die mit der Serie nichts anfangen konnten/können oder sie einfach nicht mögen, möchte ich sagen: Leute da müsst ihr jetzt durch!

The Double R Diner

Ich liebe diese Serie über die Maßen, ich liebe Davids Lynchs Filme und seine Art Filme zu machen. Ich liebe das ganze Twin Peaks Universum, was weit mehr umfasst als nur die 30 Folgen der ersten beiden Staffeln. Ich habe das geheime Tagebuch der Laura Palmer gelesen, in dem Dinge stehen, die wir damals beim TV schauen nur erahnten. Ich mag den Twin Peaks Film, den man auf keinen Fall vor der Serie sehen sollte, weil er zu viel preisgibt. Mittlerweile gibt es sogar eine dritte Staffel, 27 Jahre nachdem die TV Serie ausgestrahlt wurde. Diese habe ich allerdings immer noch nicht gesehen. Ich liebe die Anfangsmelodie und die Eröffnungssequenz und bekomme sofort Lust auf Kaffee und Kirschkuchen, sobald die ersten Töne aus den Boxen kommen. Ich habe das Gefühl jeden Einzelnen aus Twin Peaks zu kennen und leide, lebe, liebe und hasse mit ihnen gemeinsam.

Angekommen in einer Parallelwelt

Ich hoffe, dass ihr trotzdem dieses Chapter zu Ende lest und vielleicht sogar ein Teil meiner Faszination überspringt und ihr der Serie eine Chance gebt und sie schaut. Wie genau sich dieses finale Kapitel des 2. Aktes entwickelt, weiß ich selber noch nicht. Es könnte sein, dass die Grenzen hin und wieder verschwimmen und ich statt North Bend, Twin Peaks schreibe, dass ich in realen Situationen plötzlich in die Materie der Serie eintauche und den Bezug zur Wirklichkeit verliere. Es ist aber genauso gut möglich, dass nichts dergleichen passiert und es ein ganz normales Chapter wird. Wir werden sehen, wohin diese Reise führt….

….“Diane, ich habe von einem Diner mit gutem Kaffee und leckerem Kuchen gehört in diesem kleinen Ort, wie hieß er doch gleich…, ach ja, Twin Peaks!“ „Wir sind jetzt da und gehen rein.“

Double R Diner in Twin Peaks

Der Tresen inmitten des lang gestreckten Diners ist umgeben von Hockern mit rot bezogenen Lederpolstern. Links an der Wand sind alle Plätze belegt, also setzen wir uns an die rechte Seite mit den großen Fenstern zur Straße in eine freie Sitzecke. Wir sitzen uns gegenüber auf gepolsterten Holzbänken, die ebenfalls mit Leder bezogen sind. Norma und Shelly sind heute leider nicht da, so bestellen wir bei einer Bedienung, die wir nicht kennen:„Black Coffee please and one piece of your famous cherry pie!“, sage ich. „Would you like some vanila ice with your pie?“ „Why not?“, entgegne ich und sie notiert die Bestellung auf ihrem Block. „I would like the same, please!“, sagt Jutta freudestrahlend, als der Blick der Bedienung zu ihr rüberwandert.

Eigentlich trinke ich meinen Coffee „flat white“, was heißt, mit viel Milch, fast weiß. Aber nicht hier. Nicht heute. Agent Cooper trinkt seinen Kaffee schwarz. Er zelebriert es Kaffee zu trinken. Seit er hier ist in Twin Peaks, um den Mord an Laura Palmer aufzuklären und als FBI Agent die hiesige Polizei zu unterstützen. Coop trinkt viel Kaffee, sehr viel. Er scheut auch nicht davor zurück, die Kellnerin des Great Northern Hotels, die ihm morgens beim ersten Frühstück im Hotel den Kaffee serviert, zurückzubeordern, um in ihrem Beisein den frisch gebrühten Kaffee zu kosten. Ein Schluck, ein breites Lächeln und die Kellnerin darf gehen. Bei einer anderen Gelegenheit fragt Pete, der die Leiche von Laura Palmer am Fluss gefunden hat, Agent Coop, wie er seinen Kaffee mag und Cooper antwortet: „So schwarz wie eine mondlose Nacht um Mitternacht!“ Pete entgegnet: „Ganz schön schwarz.“

Say „NO“ to Ghostwood!

Unsere Bestellung wird auf einem großen Tablett serviert und zwischen uns auf den Tisch gestellt. Es sieht alles ganz köstlich aus. Die Kirschen purzeln fast aus dem Kuchen und das Eis kommt aus einer Spritztüte auf den Teller, obenauf eine kandierte Frucht. Hier und heute trinke ich meinen Kaffee ebenso schwarz wie Kyle Maclachlan als Agent Cooper. Ich rieche an meinem Kaffeebecher und das volle Aroma frisch gebrühten Kaffees strömt in meine Nase. Der erste Schluck wird vorsichtig gekostet, da der Kaffee noch ziemlich heiß ist. Es schmeckt wie es riecht, köstlich und aromatisch.

Jetzt kommt der Cherrypie an die Reihe, der früher auf dem ganzen Kontinent verschickt wurde und nicht nur dort, bis Japan haben damals in den 90er Jahren Fans den Kuchen bestellt.. Ein großes Stück wird auf der Gabel platziert und dann einmal durch das Vanilleeis gezogen. Der Kuchen ist noch warm und mit dem kalten Eis ist das eine wahre Wonne, als alles zusammen kommt im Mund, auf Zunge und Gaumen. Eine grandiose Geschmacksexplosion. Hierauf folgt nun ein großer Schluck Kaffee und abwechselnd geht es so weiter, bis der Kuchen und das Eis verdrückt sind. Die aufmerksame Bedienung kommt mit der Kaffeekanne vorbei, um bei Bedarf nachzuschenken. „Oh yes please, thank you so much!“ Wir sind angekommen in Twin Peaks.

The legendary cherry pie and black coffey

Auf dem Weg in den Washroom komme ich an einer roten Wand vorbei, an der die ganzen gerahmten Fotos aus dem Twin Peaks Universum hängen. Auch ein gezeichnetes Phantombild von Bob hängt dazwischen, mit der Überschrift: „Have you seen this man?“ Zu Bob komme ich später noch, jetzt wollen wir uns erst mal den Übernachtungsplatz für heute anschauen. Das wird ein Parkplatz bei Safeway sein. Bevor wir los fahren, lassen wir unsere Becher ein zweites Mal nachfüllen und genießen den Kaffee.

Fotowand im Diner

Der Safeway Parkplatz ist perfekt geeignet für eine oder auch mehrere Übernachtungen. Daneben sind noch Restaurants und andere Shops und wir haben viele Möglichkeiten uns irgendwo hinzustellen, ohne jemanden zu stören. Sogar die hohen Berge sehen wir von hier aus hinter den Shops. Nachdem wir uns verschiedene Optionen angeschaut und für gut befunden haben, fahren wir allerdings wieder los, denn der Tag ist noch nicht zu Ende. Wir haben keine Bedenken hier später einen tollen Nachtplatz zu finden. Nun wollen wir uns in Snoqualmie den dicken Baumstamm aus der Anfangssequenz, dem Vorspann aus jeder Twin Peaks Folge ansehen. Bäume und ein Sägewerk spielen eine zentrale Rolle in dieser überirdischen Serie. Wir sind tatsächlich bereits das zweite Mal in dieser Gegend und auch das Double R Diner hatten wir viele Jahre zuvor besucht.

Ich versuche mich in diesem Chapter hauptsächlich auf diesen Trip zu konzentrieren, aber als wir bei dem Baumstamm ankommen, stellen wir einen riesigen Unterschied fest. Er ist enorm gealtert und viel morscher und löchriger geworden. Leider ist er auch von Gittern umgeben, so dass man ihn nicht mehr berühren kann. Der gigantische Stamm liegt auf einem Wagon auf Schienen und eiserne Gitter schützen ihn vor den Serienjunkies, die sich ein Stück abbrechen wollen. Bei unserem letzten Besuch war diese Schutzmaßname noch nicht nötig und wir konnten den Stamm anfassen und die wahnsinnigen Dimensionen dieses Baumriesen hautnah erleben.

Der Stamm altert so wie wir, nur viel langsamer…

Die Züge auf den Abstellgleisen schauen wir uns als nächstes an. Hier finden wir den Wagon, in dem Laura Palmer und Ronette Pulaski sich für perverse Sexpraktiken verkauft haben. Das alles wirkt intensiv auf uns ein und wir sind uns einig: Hier werden wir eine ganze Zeit lang brauchen, um in Ruhe zu sehen was wir sehen wollen.

Das es eine ganze Woche wird, ist uns noch nicht klar und dass ich hier tatsächlich leben könnte, wird mir auch erst später bewusst werden. Für heute haben wir mehr als genug Input bekommen und versuchen die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Wir fahren zurück zum Safeway Parkplatz und lassen den ganzen Tag Revue passieren. Es gibt noch ein leckeres Abendessen und was zu trinken und die nächsten Schritte werden geplant. Dann gehen wir schlafen.

Safeway Parkplatz in North Bend

Der nächste Morgen beginnt grandios mit einem fantastischen Blick auf die Twin Peaks, die Zwillingsberge hinter der Einkaufszeile. Wir machen einen schnellen Einkauf, nachdem wir ausgeschlafen haben und versorgen uns für die nächsten Tage. Dann gönnen wir uns ein entspanntes Frühstück, mit viel Zeit, reichlich Kaffee und frisch gepresstem Orangensaft. Als Erstes steuern wir das Great Northern Hotel an und den Wasserfall, die Snoqualmie Falls. Es ist Mitte April und das Wetter meint es gut mit uns. Ich parke auf der anderen Straßenseite vom Hotel und wir überqueren die Straße über eine Fußgängerbrücke und gehen dann eine Treppe runter zu der Plattform mit dem besten Blick auf die Snoqualmie Falls. Wir machen eine Menge Fotos.

Twin Peaks Fall and the great Northern Hotel

Hier sind nicht nur Twin Peaks Fans. Auf jeden Fall ist dieser Anblick auf den Wasserfall und das Hotel unbeschreiblich schön und so vertraut aus der Serie. Wir reißen uns irgendwann los von diesem magischen Ort, um ins Hotel zu schauen, wo Ben Horn und seine Tochter Audrey ihr Unwesen treiben, wo Cooper residiert und ein guter Kaffee serviert wird. Sheriff Truman sagt über das Hotel: „Clean rooms and a reasonable price!“ Das mag in der Serie zutreffen, in der Realität ist die Salish Lodge (wie das Hotel im Real Life heißt) eher im obersten Preissegment angesiedelt. Wir freuen uns trotzdem, dass es im Shop auch noch fast 30 Jahre nach dem Serienerfolg T-Shirts, Beercooler und allerlei anderen Twin Peaks Fan Stuff zu kaufen gibt.

Snoqualmie Waterfall and the Salish Lodge

Ich persönlich glaube, diese Serie ist unsterblich und hat zurecht den Kultstatus. By the way, das Frühstück liegt schon eine Weile hinter uns und es wäre mal langsam an der Zeit einen schönen schwarzen Kaffee zu trinken. Warum nicht im Double R Diner, vielleicht sogar mit einem Cherrypie und einer kleinen Portion Vanille Eis?

Backside from Twedes Cafe

Wir atmen Twin Peaks Luft, fahren durch die Douglasienwälder und suchen Big Ed’s Tankstelle. Die gibt es leider nicht mehr, nicht mal mehr die alten Zapfsäulen davor, wie vor einigen Jahren noch. Jetzt ist hier ein Blumenladen mit einem Ballonshop und ich frage mich: „Wer braucht denn so was in Twin Peaks?“

Jetzt hilft nur noch Kaffee und Kuchen. Ich fahre ins Diner und wir bestellen dasselbe wie gestern. Ich erkundige mich nach der handgezeichneten Twin Peaks Map, die ich damals für fünf Dollar kaufen konnte. Leider gibt es die nicht mehr, die Nachfrage hat wohl doch nachgelassen. Meine Karte, die ich vor vielen Jahren erworben habe, klebt im Fotoalbum. Der Chef im Diner sagt uns, wo wir eine Onlinekarte erwerben können. In einem Laden ein paar Meter weiter sollen wir uns nach Sally erkundigen, die hat dann einen Downloadcode für uns, für fünf Dollar. Glücklich darüber trinken wir unseren tiefschwarzen Kaffee, essen Kirschkuchen mit Vanilleeis und lassen zweimal nachschenken. Die schönen blauen Kaffeebecher, die wir damals gekauft haben, gibt es leider nicht mehr, nur noch die hässlichen braunen Bookhouse Boys Becher. Aber die gefallen uns überhaupt nicht, weil die irgendwie wie Eisbecher aussehen. Wir haben unsere beiden blauen Becher noch, aber der TWIN PEAKS Aufdruck ist durch etliche Spülmaschinendurchgänge nicht mehr zu entziffern. Egal, wir kaufen keine neuen Becher und ziehen weiter, um die Onlinekarte zu erwerben. „Wie hieß noch gleich der Laden, wo Sally arbeitet?“, frage ich nachdem wir Twedes Cafe verlassen haben. „Keine Ahnung!“, sagt Jutta. „Fuck!“

Twede’s Cafe oder auch Double R Diner

Wir haben beide vergessen welchen Namen der Laden hat, aber es sollte ein Geschäft nur einen Block weiter sein, oder? Wir sind beide nicht mehr sicher und jeder von uns dachte, der andere wird schon genau zugehört haben. Wir fragen in zwei Läden nach Sally und nach „Online Twin Peaks Maps“, aber niemand kann uns helfen. Nochmal wollen wir nicht nachfragen im Double R und sind uns sicher auch so im Internet alle Infos zu finden. Es wäre nur schön gewesen, die alte, gezeichnete Karte noch ein weiteres Mal zu erwerben. Sogar wenn es nur online möglich wäre, dann hätte ich sie mir eben einfach ausgedruckt. Wir finden sie als Bild im Internet, allerdings nur in einer sehr miesen Qualität, aber zum Navigieren soll es reichen.

Heute wollen wir nicht noch einmal auf dem Parkplatz übernachten, obwohl wir dort eine ruhige Nacht hatten. Jutta hat einen Platz auserkoren, der nicht weit weg ist. Der ortsnahe Campingplatz ist leider voll, aber der Tall Chief Campground hat noch Kapazitäten. Weit zu fahren ist es nicht und schließlich wollen wir auch den Spirit von Bob in den Wäldern aufnehmen.

Auf dem Weg raus aus Twin Peaks kommen wir am Roadhouse vorbei. Die Fassade ist blau gestrichen. Früher war sie weiß, das hat mir besser gefallen. Ich parke neben dem Gebäude und laufe einmal drum herum um Fotos zu machen. Der dicke Kneipenwirt beobachtet mich argwöhnisch von innen durch die Fenster. Damals hatte ich hier einen Ceasar Salad bestellt. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen.

The Road House

Wir fahren in den Wald, durch die Douglasien, die Agent Cooper von Anfang an so fasziniert haben. Und wir fahren noch weiter hinein in den Wald, in dem der Geist von Bob umgeht. In den Wald, wo die dunkle Hütte steht und wo Seltsames geschieht. Und es wird Seltsames geschehen.

Road House

Auf diesem Camp kann man nicht reservieren, das steht auf der Homepage. First come, first serve. Ich kann einfach einen freien Platz auswählen. Es geht sehr schnell beim Check In, wo auch mal wieder LEMMY bewundert wird. Und nach einer Runde haben wir uns entschieden. Der Stellplatz ist toll, die Nachbarn sind zwar zu sehen, aber nicht so nah, dass es nervt. Vor uns liegt ein kleiner Weg mit einer Treppe hinunter zum Swimmingpool, den Duschen und einem Kaminzimmer mit einem Billardtisch und Internetempfang. Hier gefällt es uns total gut und wir wollen zwei Nächte bleiben.

Wörld’s Best Beer

Schon in der ersten Nacht am Lagerfeuer weht der Wind durch die Bäume und ich spüre das Wispern Bobs durch den Wald. Er flüstert unverständliche Worte, die der Wind zu mir rüber trägt. Ich spüre seine Anwesenheit, seine Aggression und versuche mich dagegen zur Wehr zu setzen. In der Ferne vernehmen wir den Ruf einer Eule. „Die Eulen sind nicht was sie scheinen!“

Tall Chief Camp

Ich sammle um unser Camp ein wenig loses Holz, das auf dem Boden liegt. Das gekaufte Bündel geht langsam zu Ende und wird nur für heute noch reichen. Unsere Nachbarin, sie scheint alleine zu sein, sieht mich beim Holzsammeln und bietet mir ihre beiden geschnürten Bündel an. Sie sagt, sie zünde sich selber nie ein Lagerfeuer an und habe das Holz schon ganz lange liegen. Ich bin begeistert und bedanke mich sehr herzlich bei ihr. Sie will es mir sogar schenken und weigert sich, auch nur einen Dollar von mir zu nehmen. Ich frage, ob ich ihr helfen kann die schweren Bündel rüber zu tragen. Sie liegen hinter ihrem Camper, das habe ich schon gesehen. Da sagt sie nicht nein und ich hole mir ihren Holzvorrat. Jutta hat es von drinnen mitbekommen, dass ich mit der Nachbarin einen kleinen Plausch halte und kommt dazu. Wir reden über alles Mögliche, unsere Reise natürlich auch und dass wir große Twin Peaks Fans sind. Sie kommt uns irgendwie ein bisschen schräg vor und scheint öfter hier auf dem Platz zu sein, wahrscheinlich als Dauercamperin. Sie fragt uns, ob wir von außen in ihren Wohnwagen gucken können. Sie hat gerade die Scheiben von innen foliert. Wir verneinen, sogar wenn sie Licht an hat, können wir nicht durch ihre Fenster sehen. Sie wirkt beruhigt und wir plaudern noch über dies und das und dann verabschiedet sie sich mit den Worten. „See you!“

Jutta und ich trinken noch etwas am Lagerfeuer und finden beide unsere Nachbarin ein wenig merkwürdig, gehen dann aber schnell zu anderen Themen über. Morgen wollen wir zwei Brücken besuchen und uns Trumans Sheriffs Departement ansehen. Bei den Brücken bin ich mir nicht ganz sicher, über welche von den beiden Ronette Pulaski aus dem Wald plötzlich wieder aufgetaucht ist. Vielleicht wird es mir klar, wenn ich vor Ort bin, wir werden sehen. Der Wind haucht uns von hinten kalt in den Nacken, wir rücken näher an das wärmende Feuer und genießen die etwas unheimliche Atmosphäre in diesem alten Wald mit den hohen Douglastannen. Der Ruf einer weit entfernten Eule dringt durch das Dickicht zu uns. Hier und da knistert es im Unterholz, wir sind nicht alleine…

Bob is close to me…

Die Nacht bricht herein und ich lege etwas Holz nach. Es ist still um uns herum. Bis auf das Rauschen des Waldes und gelegentliches Knacken aus der Dunkelheit hören wir nichts. Wir flüstern selber, obwohl es dazu eigentlich keine Veranlassung gibt, denn wir haben genügend Abstand zu unserer schrägen Nachbarin und noch mehr zu allen anderen. Scheinbar werden wir unbewusst ruhiger im Einklang mit der Natur. „Ich hole mir noch ein Bier.“, flüstere ich Jutta zu, „Willst du auch noch was?“ „Einen kleinen Schluck Wein noch!“, sagt sie. „Alles klar, bringe ich mit.“ Auf leisen Sohlen mache ich mich auf den Weg und versuche dabei so wenig Geräusche wir möglich zu machen. Dann trinken wir gemütlich unsere Drinks, lauschen dem Wald und der Eule, während das Feuer immer weiter runter brennt. Manchmal zucken wir zusammen, wenn es irgendwo hinter uns knackt und wir schauen uns verschreckt an. Das ist ein ganz besonderer Moment hier in den Wäldern von Washington, von Twin Peaks. Irgendwie einzigartig und schwer zu erklären. Der Geist von Bob umgibt uns, ist greifbar nah. Ich sehe seine grinsende Fratze vor mir, direkt hinter dem Lagerfeuer, als schwebe sie wabernd hinter dem Rauch. Mir fällt die Bleistiftzeichnung aus dem Double R ein, die Phantomzeichnung an der roten Fotowand. Auf dem Bild grinst er nicht. Ein Windhauch, raschelnde Blätter und die grässliche Fratze wird weggeweht als hätte sie nie existiert. Sie löst sich auf und außer Rauch bleibt nichts zurück.

„Ich geh schon mal rein!“, flüstert Jutta mir zu. Ich lege noch ein Scheit Holz nach und frage:„Gibst du mir noch ein Bier raus?“

Alleine ist es noch unheimlicher, aber ich liebe den Nervenkitzel und hoffe nur, dass Bob nicht über mich kommen wird. Er ist heimtückisch und schleicht sich von hinten an. Er ist nicht aus Fleisch und Blut, er ist ein Geist und nimmt sich deinen Körper als Wirt. Ich trinke einen großen Schluck Mut aus der Dose und fühle mich für jede Situation gerüstet.

Meine Boombox bleibt heute Nacht aus, ich will die Musik des Waldes hören, das Atmen der Bäume. Meine Gedanken wandern frei umher, manchmal bin ich im „Red Room“, ein anderes Mal im Roadhouse mit meinen ganzen Freunden bei einem Bier und Julee Cruise haucht in ihr Mikro. Dann wache ich aus meinen Traumwelten auf und finde mich wieder hier am Lagerfeuer. Mir wird kalt und ich habe gar nicht bemerkt wie weit das Feuer schon runter gebrannt ist. Soll ich noch was nachlegen und mir ein Bier holen oder ins Bett gehen? Ich denke: „Scheiß drauf, wenn wir schon mal hier sind…!“ und hole mir noch ein Bier. Dann platziere ich zwei große Scheite auf der Glut.

„Hey du Schlafmütze! Wann willst du denn aufstehen?“, werde ich wachgerüttelt. „Wie spät ist es denn?“, frage ich zurück. „Kurz vor zehn schon.“

Ich quäle mich etwas verkatert aus dem Bett und mache mich im Bad mit eiskaltem Wasser frisch. Der Kaffee blubbert köstlich auf der Flamme und der Duft gerösteter Bohnen belebt mich zusätzlich.

„Hast du geschaut, wie wir am besten fahren?“, frage ich aus dem Bad. „Ja klar, die Packard Saw Mill ist auch beim Sheriffs Office in der Nähe, das sehen wir heute ebenfalls.“, sagt Jutta. „Wie lange hast du denn gestern Nacht noch draußen gesessen?“ will sie wissen. „Hab nicht auf die Uhr geguckt, bis ich müde war eben.“

Wir trinken unseren Kaffee unter freiem Himmel bzw. unter einem Blätterdach. Er ist heiß und schwarz. Dazu gibt es ein kleines Müsli, das soll reichen für die frühen Morgenstunden. Ziel heute Vormittag ist die Brücke über den South Fork Snoqualmie River. Jutta navigiert mich mit ihrem Handy ohne Umwege zur Brücke und ich habe das Gefühl niemals weg gewesen zu sein. Alles fühlt sich vertraut an und wenn sie mir sagt wie ich fahren soll, weiß ich es meist vorher schon.

Old Bridge

Die rostige Eisenbrücke führt nirgendwo mehr hin, sie ist ein Relikt aus alten Zeiten und nur ein Hobbyfotograf ist außer uns hier hoch gestiegen. Ich mache Fotos mit meinem Handy und Grüße den Fotografen. Er hat eine große Kamera mit Stativ aufgebaut und auf die wolkenverhangenen, schneebedeckten Berge ausgerichtet. Er grüßt zurück und sagt mir, dass er auf die Sonne hinter den Bergen wartet, denn dann sei das ein unglaubliches Motiv. Das mag schon sein, denke ich mir. Aber nur mit meinem Handy ausgestattet und ohne Stativ brauche ich darauf nicht zu warten. Ich mache trotzdem einige Bilder und dann fotografiere ich Jutta, über die Brücke laufend, wie damals Ronette Pulaski drüber gelaufen ist. Allerdings hatte Ronette nur ein zerrissenes Nachthemd an. Ich begnüge mich mit den Bildern einer angezogenen Jutta, schließlich ist es recht kühl heute morgen.

Brücke ins Nirgendwo

Weiter geht es zum Department von Sheriff Truman. Den Weg kenne ich nicht und bin auf Juttas Hilfe angewiesen. Es ist auch ziemlich versteckt und etwas abgelegen. Dort ist jetzt eine kleine Rennstrecke und man kann Kurse buchen, bei „DIRT FISH“, wie diese junge Firma heißt. Das verfallene Packard Sägewerk sehen wir schon aus einiger Entfernung und dann kommt ein wahnsinniges Highlight. Als ich bei Dirt Fish auf den Parkplatz fahre, steht dort ein blauer Ford Bronco, der Wagen von Sheriff Truman. An der Frontscheibe hängen innen zwei Zettel, die uns als Twin Peaks Fans direkt ansprechen. Wir sind eingeladen Fotos zu machen vom Auto, aber gerne auch im Office. Es wird erwartet, dass niemand auf die Rennstrecke läuft, da die Fahrer nicht so gerne bremsen wollen für Serienjunkies. Auch sollte man nicht auf das Auto des Sheriffs klettern und sich zurückhaltend und respektvoll verhalten, eine absolute Selbstverständlichkeit. Wir finden es erstaunlich, dass sie mit zwei Zetteln am Auto darauf hinweisen müssen.

Sheriff Trumans Ford Bonco

Rennen laufen im Moment gerade nicht, wir lassen LEMMY neben dem Bronco zurück und gehen auf das Eingangsportal des Sheriffdepartments zu. Es sieht von außen aus wie in der Serie, nur die Farben sind greller geworden und die Türen und Fenster sind verspiegelt. Orange und schwarz dominiert den Eingangsbereich. Über der Tür steht in großen Buchstaben „Dirt Fish“.

Das alte Sheriffs Department

Ich öffne Jutta die Tür und wir gehen rein. So wie wir (gefühlte tausendmal) im Fernseher beobachtet haben, wie irgendjemand sonst aus Twin Peaks durch diese Tür gegangen ist. Gleich links ist der Platz von Lucy Moran, der Sekretärin des Sheriffs. Sie sitzt hinter einem halboffenen Schiebeglas und telefoniert häufig und hält immer reichlich Kaffee und Donuts für Truman, Deputy Andy, Chief Deputy Hawk und Agent Cooper bereit. Lucy ist heute nicht am Telefon, aber eine andere entzückende junge Dame aus dem Dirt Fish Team sitzt auf ihrem Platz. Die Schiebefenster sind nicht mehr da. Wir gehen erst mal möglichst unauffällig rein und schauen uns um. Weiter hinten ist ein Verkaufsraum, wo sonst eigentlich die Räume des Departments wären. Diese Aufnahmen sind dann wohl in irgendeinem Fernsehstudie entstanden und nicht hier. Jemand anderes vom Team läuft durch den Laden und schaut rüber und mir rutscht sowas Blödes raus wie in etwa: „Is Sheriff Truman here today?“ Er hat mich offensichtlich nicht richtig verstanden und fragt: „Excuse me?“ Ich sage schnell: „Oh nothing, it was only a bloody joke!“ Freundlich nickend geht er weiter und mir ist das ziemlich unangenehm. Denn als mir die Frage rausgerutscht ist, war mir schon klar, dass vermutlich fast jeder Twin Peaks Tourist mit einer bescheuerten Anspielung auf die Serie hier reinplatzt. Trotz dieses Fauxpas will ich unbedingt ein Foto von Lucys Arbeitsplatz machen und frage die nette Lady die jetzt dort sitzt, ob ich mal kurz fotografieren darf. Lächelnd sagt sie zu und fragt mich, ob sie den Telefonhörer ans Ohr halten soll? Ich bin begeistert und mache schnell ein paar Bilder.

Lucy Moran 2.0

Dann kaufen wir noch einen DIRT FISH Aufkleber für LEMMY und verabschieden uns. Draußen mache ich ein paar Schnappschüsse von der Packard Saw Mill. Leider steht nur noch einer der beiden hohen Schornsteine. Weiter geht es zur zweiten Brücke über dem Snoqualmie River. Mit jeder Fahrt durch Twin Peaks fühle ich mich heimischer und fange an mich in den Ort zu verlieben. Eine Ampel regelt den Verkehr über die Brücke, denn die Spur ist sehr schmal und sobald sich ein Fahrzeug von einer Seite nähert, springt die Ampel auf der anderen Seite auf Rot. Ich fahre einmal drüber und parke dahinter am Straßenrand. Dann gehe ich ein Stück zurück und mache aus verschiedenen Perspektiven Fotos. Ich bin mir im Augenblick ziemlich sicher, dass Ronette Pulaski über diese Brücke gekommen ist, völlig verstört und orientierungslos.

Packard Sägewerk

Wir haben Lust auf Kaffee bekommen, es ist bereits Nachmittag. „Wollen wir vielleicht ins Double R Diner fahren?“ Dort soll es einen verdammt guten Kaffee geben.

Nach drei Bechern des schwarzen Elixiers und etwas Kuchen wollen wir zurück in unser Camp fahren. Ich möchte mal wieder etwas weiterschreiben. In dieser Stadt und der ganzen Atmosphäre drumherum fühle ich mich pudelwohl, entspannt und kreativ. Das will ich ausnutzen.

Die zweite Brücke über den Snoqualmie River

Den Weg kenne ich und kurz nachdem wir am Roadhouse vorbeigefahren sind, geht es wieder hinein in den Wald. Der PKW unserer Nachbarin ist nicht da, aber ihr Wohnwagen steht unverändert auf seinem Platz. Ich schreibe zuerst draußen, mache auch noch ein Lagerfeuer an und schreibe weiter, bis es mir zu dunkel und zu kalt wird. Dann setze ich die Arbeit in der Kabine fort. Jutta geht irgendwann schlafen und ich schreibe noch ein paar Stunden in die Nacht hinein. Es läuft gut und ich komme in den Flow. Bevor ich diese Sitzung beende, gibt es noch einen kleinen White Russian und ein letztes Bier, dann fahre ich den Laptop runter. Die Uhr auf dem Screen zeigt 6:29 Uhr an. Jetzt mache ich mich bettfertig.

Nachtschicht beendet

Ans Auschecken heute ist nicht zu denken. Nicht nach der Nachtschicht und niemals bis elf Uhr. Jutta hängt noch eine weitere Nacht auf dem Tall Chief Campingplatz dran. Heute ist chillen angesagt. Nachdem ich ausgeschlafen und reichlich schwarzen Kaffee konsumiert habe, gehe ich mit Tablet, Handy und Laptop ins Kaminzimmer mit Internetempfang, um nötige Updates zu machen. Steckdosen sind hier vorhanden und ich habe für alle Geräte Ladekabel und Adapter mit dabei. Um die Wartezeit zu überbrücken, schreibe ich einfach weiter. Das Zimmer ist rustikal eingerichtet, ein Billardtisch steht vor dem Kamin und draußen ist ein Swimmingpool. Da niemand im Pool schwimmt, wird er wohl nicht beheizt sein, nehme ich an. Hier im Kaminzimmer bin ich alleine. Draußen sitzt jemand auf einer Bank vor dem Fenster und ist mit seinem Smartphone beschäftigt. Der wird wohl auch wegen des freien Wlans dort sein. Als alle Updates auf den Geräten fertig sind, machen wir einen kurzen Mittagsschlaf und gönnen uns den Rest des Tages eine Pause. Es sind keine weiteren Aktivitäten geplant, außer lesen, spielen, faulenzen und zum gemütlichen Abschluss einen Film schauen. Aber der Wald und Bobs Präsenz ist ständig spürbar und verfolgt uns bis in unsere Träume…

Kaminzimmer

….mitten in der Nacht schrecke ich hoch, weil jemand an die Tür klopft. Jutta hört es nicht und schläft tief und fest weiter. Wer zum Teufel macht denn sowas? Wer klopft mitten in der Nacht an die Türe? Vielleicht die Nachbarin aus dem Wohnwagen? Ihr Auto war den ganzen Tag nicht da, ist sie jetzt etwa zurückgekommen und hat Probleme? Ich klettere leise und vorsichtig aus dem Bett ohne Jutta zu wecken und drehe am Türknauf. Die Dreipunktverriegelung zieht sich zurück und ich kann die Tür öffnen. Dann sehe ich in eine grinsende Fratze und große weit aufgerissene, rollende Augen. Lange graue Haare hängen wirr vor dem Gesicht. Bob steht vor der Tür und hält eine Axt drohend in der rechten erhobenen Hand. Er fletscht die Zähne und Speichel rinnt aus seinem Mund. Ich zucke schockiert zurück, dann klopft mir jemand von hinten auf die Schulter. Jutta steht mit irrem Blick hinter mir und sagt: „Willst du unseren Gast nicht herein bitten?“ …

Dann wache ich schweißgebadet auf und vermute das alles nur ein Traum war. Ich orientiere mich kurz in der Dunkelheit und höre Jutta leise aber gleichmäßig atmen. Nur ein verdammter Traum, weiter nichts. Nur ein Albtraum. Unruhig schlafe ich wieder ein.

Morgens beim Kaffee frage ich Jutta, ob sie gut geschlafen hat. Sie antwortet: „Etwas unruhig, aber auch nicht schlecht. Und wie war deine Nacht?“ „Ganz gut!“, sage ich. Wir frühstücken und packen zusammen, denn bis elf Uhr müssen wir auschecken. Das Auto unserer Nachbarin ist immer noch nicht wieder da.

Routiniert und zügig läuft der Prozess des Zusammenpackens ab, so oft schon haben wir auf dieser Reise irgendwo unsere Sachen gepackt. Die Handgriffe sitzen und jeder weiß was zu tun ist. Fast pünktlich um elf Uhr melden wir uns bei der Rezeption ab. Wir wollten noch duschen in der Sanitäreirichtung vom Campground und ich brauche etwas länger als Jutta. Genervte Blicke treffen mich, weil ich fünf Minuten zu spät aus den Waschräumen komme, aber ohne Problem verlassen wir den Tall Chief Campground.

Wir wollen die Straße aus der Anfangssequenz der Serie suchen, an der das Twin Peaks Schild steht. Leider steht es schon seit Jahren nicht mehr dort, das hat Jutta bereits recherchiert. Einmal sei es geklaut und einmal überfahren worden, sagen die Leute. Nun bringen sich die Fans teilweise eigene Schilder mit, um den Filmvorspann nachzustellen.

Szene aus der Anfangssequenz von Twin Peaks

Auf den Weg machen wir uns trotzdem und suchen die Straße und die exakte Stelle, an der das Schild gestanden hat. Einige Anhaltspunkte haben wir, zum Beispiel den Straßennamen und wir wissen auch, dass die Aufnahme vor einer Linkskurve, dicht am Fluss entstanden ist und die Zwillingsberge dahinter zu sehen sind. Dann sehen wir noch ein paar Strommasten und Bäume in der Filmsequenz auf dem Mobilphone. Leider ist die SE Reinig Rd. ziemlich lang und die Spurensuche entwickelt sich zu einem Detektivspiel. Aber ich bekomme immer mehr Spaß dabei und unser Ehrgeiz wächst, die genaue Stelle zu finden. Aufgeben kommt nicht in Frage. Wir haben den ganzen Tag Zeit. Denn außer, dass wir heute Abend in eine Bar gehen wollen, haben wir nichts weiter auf dem Zettel. Koordinaten haben wir nicht gefunden im Internet und eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, denn das wäre zu einfach. Hin und wieder halten wir an und vergleichen die eingefrorene Videosequenz auf dem Handy mit der realen Umgebung und dann bin ich mir sicher: Das ist es! Genau hier muss die Kamera für die Filmaufnahme gestanden haben. Ich mache ein Foto und versuche eine identische Kopie des Filmausschnittes von vor 27 Jahren zu schießen und es gelingt mir ziemlich gut. Wir sehen die Linkskurve und die Berge in dichten Wolken dahinter. Sogar die Strommasten sind noch da, nur das Ortsschild fehlt. Überglücklich und zufrieden fahren wir weiter. Wir müssen noch tanken, der Diesel ist sogar wieder etwas bezahlbarer geworden. Dann machen wir noch einige Einkäufe im Safeway und hängen einen kleinen Mittagsschlaf hinten dran. Ich esse heute gegrilltes Hühnchen aus der Wärmetheke vom Safeway, Jutta wählt was vegetarisches aus der asiatischen Auslage.

Parkplatz beim Safeway Supermarket

Nach dem späten Mittagschlaf trinken wir noch einen Kaffee und dann steht der Abend vor der Tür. Wir gehen ins Pour House Bar & Grill. Dort werden wir einen super Abend haben und eine tolle Begegnung mit einem großartigen Menschen, mit Kimble.

Es geht vorbei am Diner, dann nur kurz links abbiegen und schon sind wir da. Wir passieren das Motel, in dem wir damals gewohnt haben und stellen fest, dass die Bar gegenüber, in der wir vor unendlichen Zeiten Billard gespielt haben, nicht mehr existiert. Ich muss kurz daran denken, wie es damals war, als wir in diese Billardbar gekommen sind. Wie gesagt, sie war direkt gegenüber von unserem Motel und wir wollten noch was trinken gehen bei unserem ersten Twin Peaks Besuch.

Als wir die Bar betreten haben war wenig los, nur ein wohlbeleibter Geschäftsmann saß am Tresen. Er hatte einen maßgeschneiderten Anzug an und aus der Musicbox kam guter Rock’n’Roll. Der Billardtisch war frei und auch am Tresen war reichlich Platz, so dass wir erstmal dorthin gingen. Wir nickten dem Businessman zu und der Barkeeper kam zu uns rüber. Ich bestellte zwei Pabst Blue Ribbon und er fragte tatsächlich nach unseren Ausweisen. Wir waren beide über 30 Jahre alt und fühlten uns sehr geschmeichelt. Nachdem wir unsere Reisepässe präsentiert hatten und der Barkeeper sich vergewissern konnte, dass wir in einem trinkfähigem Alter sind, war er bereit uns etwas auszuschenken. Der dicke Geschäftsmann am Tresen neben uns hat das natürlich alles mitbekommen. Er lachte als er sah, wie wir uns freuten und wollte dann die erste Runde übernehmen, da wir ja offensichtlich alt genug waren, um Bier in einer Bar zu trinken. Danach entwickelte sich eine angenehme Unterhaltung und wir plauderten eine Weile, bevor wir unsere Zeit dann dem Billardtisch und der Musicbox widmeten.

Jetzt parke ich ganz hinten auf dem Parkplatz vom Poor House Bar & Grill. Wir wollen fragen, ob wir die Nacht über bleiben dürfen. Es wäre auch nicht wirklich weit vom Safeway hierher zu laufen, aber so ist es komfortabler und wir müssen nicht mitten in der Nacht zu Fuß und wahrscheinlich angetrunken zurückmarschieren. Es ist nicht sicher des Nachts in den Wäldern und auf den Straßen von Twin Peaks. Böse Geister sollen unterwegs sein, wenn rechtschaffende Leute friedlich schlafen.

Parkplatz vom Poor House Bar & Grill

Wir gehen rein und der Laden ist relativ voll. Die Stimmung ist ausgelassen und sogar die Musik ist richtig gut. Als erstes gehen wir an die Bar um zu fragen, ob wir die Nacht hinter dem Haus stehen bleiben dürfen. Wir kennen das bereits und wie üblich heißt es: „Da muss ich erstmal fragen!“ Die Barfrau geht zu einem der Stehtische mitten in der Bar und fragt den Barbesitzer. Er schaut rüber zu uns, während sie mit ihm spricht, nickt dann und sie kommt zurück, um uns die positive Botschaft zu verkünden. Ich bestelle zwei Pabst Blue Ribbon und wir gehen eine halbe Etage höher zu den beiden Billardtischen.

Pour House Bar & Grill

Von hier können wir die gesamte Bar überblicken und aus dem Fenster sehen wir die überaus präsenten Berge, die dem Ort Twin Peaks den Namen geben. Der hintere Tisch ist belegt, aber der Vordere ist frei. Ich frage Jutta, ob sie mit mir spielen will und sie sagt ja. Auf riesigen Flat Screens laufen stumm verschiedene Sportprograme. Wir spielen Billard und trinken ein paar Bier dabei. Zwischendurch bestellen wir etwas Fingerfood und spielen dann weiter. Gäste kommen und gehen. Die Stimmung ist hervorragend und an der Musik gibt es nichts zu meckern, obwohl ich noch nicht einen Dollar investiert habe. Jutta spielt heute richtig gut, sie locht verlässlich und hat so natürlich richtig Spaß. Sie gewinnt sogar auch mal eine Runde. Nebenan sitzt ein Pärchen bei Bier und Burgern. Der Typ schaut uns beim Spielen zu, seine Freundin sitzt mit dem Rücken zu uns. Wir haben bereits etliche Partien hinter uns und Jutta verliert langsam die Lust. „Komm schon, eins noch!“, sage ich. „Du bist doch super in Form heute!“ „Na gut, danach ist aber echt Schluss!“

Pour House Bar & Grill

Ich gewinne das letzte Spiel und kann Jutta nicht mehr rumbekommen noch weiterzumachen. Wir setzen uns oben an die Seite an eine Art Tresen, stellen die Biergläser vor uns ab und schauen von dort auf das Treiben unten an der Bar. Kurz darauf tickt mich jemand von hinten an und ich drehe mich um. „Hi, ich habe euch beim Billard zugeschaut und mich gefragt, ob du mit mir eine Runde spielen willst!“ Ich gucke Jutta an und sie nickt zustimmend. Froh über eine weitere Runde und sage ich: „ Yes, of course, why not?“

„My name is Kimble.“, sagt er dann und ich stelle mich ebenfalls vor. Er ist mir auf Anhieb sympatisch. Wir verständigen uns über das Reglement, denn das ist sehr unterschiedlich auf der großen weiten Welt. Wir spielen die in Europa geläufigen Eight Ball Regeln, halten uns aber nicht konsequent daran. Aus Asien kenne ich die englische Version, dass bei einem Foul der Gegner „two shots“ hat. Das bedeutet, er kann (nach einem verschossenen Ball nochmal stoßen. Er kennt es so, dass jeder Stoß angesagt wird und wir bei einem Foul „Ball in Hand“ anwenden. Ich möchte nach seinen Regeln spielen, da wir in Amerika sind und Gäste hier, aber davon will er nichts wissen. Kimble besteht darauf nach meinen Regeln zu verfahren. Er bezahlt die Tischgebühr von einem Dollar. So ist es international üblich, wenn ein neuer Spieler an den Tisch kommt und den Gewinner der vorherigen Partie herausfordert.

Dann geht es los. Von Anfang an sind wir auf einer Wellenlänge und haben Spaß am Tisch. Nebenbei unterhalten wir uns prächtig, obwohl mein Englisch immer noch zu wünschen übrig lässt. Ich gewinne das erste Spiel und er kramt nach einem Dollar für die nächste Partie. Seine Freundin sitzt an ihrem Tisch und schaut zu. Jutta sieht von ihrem Platz aus zu. Ich frage, ob alles ok ist für sie und Jutta bestätigt. Ich bestelle mir ein neues Bier und frage Kimble, ob er auch noch eins möchte, aber er verneint. Wir spielen die zweite Runde und er spielt gut, aber ich habe scheinbar einen Lauf, mir gelingt fast alles. Ich bin entspannt und es ist mir egal, ob ich gewinne oder verliere.

Das ist oft der Schlüssel beim Billard. Man verliert, weil man sich Druck macht und zuviel denkt. Ich denke heute nicht nach über das was ich tue. Ich spiele und genieße die gute Zeit, die wir haben. Kimble macht einen grandiosen Stoß, er locht die Zielkugel über Bande und eine weitere Kugel, spielt also eine Kombination. Dann will er mir den „Ball in Hand“ geben, weil er das nicht vorher korrekt angesagt hat, es also für ihn ein Foul ist. Ich teile ihm mit, dass das auf keinen Fall in Frage kommt, denn er hat einen grandiosen Stoß abgeliefert. Er verliert die zweite Runde trotzdem und wirft erneut einen Dollar in den Schlitz.

Jetzt erfahre ich noch einiges mehr über Kimble und seine Freundin. Sie haben ihre Steuern für das ganze Jahr bezahlen können. Deshalb sind sie heute hier, um das mit einem Burger und etwas Bier zu feiern. Ich verstehe leider nicht jedes Wort, das er sagt, aber der Sinn kommt einigermaßen verständlich rüber. Ich kenne das Steuersystem in den USA nicht. Aber vielleicht ist er selbstständig und musste einen Haufen Geld an das Finanzamt zahlen. Ich frage nicht nach, aber mir dämmert es immer mehr, dass Kimble heute eine große Last von der Schulter genommen wurde, weil er Steuerschulden begleichen konnte. Er hat sich mit seiner Freundin einen Burger, ein paar Bier und einige Runden Billard geleistet.

Kimble verliert auch diese Runde und will sich verabschieden. Ich sage: „Lass uns doch noch weiter spielen, es macht doch so einen Spaß! Jetzt kommt er raus damit, dass er kein Geld mehr hat.

Spookie Night in Twin Peaks

Obwohl ich anbiete den Tisch und die nächsten Drinks zu bezahlen, lehnt er ab. Seine Freundin langweile sich schon und sie möchten lieber gehen, bringt er als Vorwand. Ich bin sicher er würde gerne noch bleiben und weiter Billard spielen, aber es ist ihm unangenehm das er pleite ist.

Mir wird klar, dass ich ihn nicht umstimmen werde und bedauere, dass ich nicht früher begriffen habe, in welcher finanziellen Lage er sich befindet. Dann hätte ich vorher am Tisch verloren und unaufgefordert Biernachschub für alle geholt. Jetzt müssen wir uns verabschieden und ich werde Kimble noch sehr, sehr lange in meiner Erinnerung behalten und immer mit Freude und etwas Wehmut an einen unvergesslichen Abend in Twin Peaks zurückdenken. Ich hoffe darauf ihn eines Tages wiederzusehen. Vielleicht sogar genau hier in Twin Peaks, im Poor House Bar & Grill.

Ich fühle mich gerade nicht besonders gut, weil ich die Situation mit Kimble falsch eingeschätzt und auch noch Jutta lange Zeit vernachlässigt habe. Sie empfindet das aber nicht so und war froh, dass ich noch jemanden zum Billardduell hatte und in der Bar gab es auch genug für sie zu sehen. Ich hole mir ein Bier, Jutta will noch ein Ginger Ale. Schweigend trinken wir aus und jeder hängt seinen Gedanken nach. Dann gehen wir raus auf die Straße, um zum Parkplatz zu gehen. Es hat geregnet und der Vollmond blickt durch ein winziges Wolkenloch am schwarzen Himmel auf die Erde hinab. Nur wenige Sterne sind am Nachthimmel zu erkennen. Der Anblick ist magisch und ich zücke mein Handy um diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Ich bin überzeugt davon, so etwas gibt es nur hier, hier in Twin Peaks. Wir gehen einmal ums Haus herum, auf den Parkplatz zu LEMMY und während Jutta im Bad ist, hole ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank….

Night in Twin Peaks

„…Hannah Montana does the african savannah….“

Jutta ist längst wach, als ich langsam zu mir komme. Ich habe Brand und Bock auf ein deftiges Frühstück. Ohne vorher Kaffee zu kochen fahren wir die zwei Minuten zum Diner, um dort zu frühstücken. Wir bestellen ein „American Breakfast“mit Hash Browns, Scrambled Eggs, Toast, Butter & Jam. In dem Moment, als das Essen serviert wird, bereuen wir bereits, dass wir uns nicht eine Portion zum Teilen bestellt haben. Die Teller sind riesig und die Portionen überaus üppig. Aber wir haben Zeit heute, Kaffee wird ständig nachgeschenkt und auch Wasser aus der Karaffe kommt nicht zu kurz und ist umsonst. Trotzdem müssen wir am Ende noch eine große Portion Hash Browns im Doggy Bag mitnehmen. Nach dem Frühstück werden wir noch überrascht von einen langsam vorbeifahrendem Zug, direkt hinter dem Diner, wo wir heute geparkt haben. Spokane – Portland – Seattle steht dort an den Wagons. Mit diesen Eindrücken fahren wir wieder in den Wald mit den Douglasien und werden uns wundern, was uns dort erwartet.

American Breakfast im Double R Diner

Wir lassen das Roadhouse hinter uns und fahren immer weiter in den Wald hinein. An der Rezeption vom Tall Chief Camp fragen wir, ob unser Stellplatz vom letzten Mal noch frei ist. „Unfortunatly not!“ , bekommen wir zu hören. Wir sollen uns einfach einen freien Platz aussuchen, wie beim ersten Mal. Also gut, kein Problem. Wir entscheiden uns wieder sehr schnell, nach einer Runde sind wir uns einig, wo wir LEMMY abstellen wollen. Unser Platz vom letzten Besuch ist mit einem Schild blockiert, „RESERVED“, steht darauf. Der PKW unserer alten Nachbarin, die mir ihr ganzes Feuerholz geschenkt hat, steht auch wieder vor ihrem Wohnwagen. Wir haben jetzt einen Stellplatz etwas weiter hinten im Wald. Hier gefällt es uns sogar noch besser als auf dem Platz, wo wir davor gestanden haben. Wir befinden uns noch weiter abseits und die Nachbarn sind viel weiter entfernt, als vor zwei Tagen. Dann geschieht etwas sehr Seltsames, was wir bis heute nicht erklären können.

Tall Chief Campground

Unsere alte Nachbarin kommt angelaufen, ruft und teilt uns mit, dass sie doch für uns den Platz neben sich freigehalten hat. Ich stehe gerade unter der Dusche im Camper und bekomme alles nur so am Rande mit. Jutta ist es, die mit ihr kommuniziert. Ich spüre aber total ihre Verunsicherung. Die Nachbarin fordert uns auf, dass wir uns wieder neben sie stellen. Ich melde mich hinter dem Duschvorhang und rufe Jutta zu: „Wir wollen lieber hier bleiben, weil der Platz total super ist und wir LEMMY bereits ausgerichtet haben.“ Mir gefällt der Platz tatsächlich besser als der vorherige. Unsere alte Nachbarin bettelt fast. Wir sollen uns wieder neben sie stellen, sie habe ihn ja schließlich für uns reserviert. Aber mir ist das alles zu suspekt. Ich rufe Jutta aus der Dusche zu, dass wir um jeden Preis hier stehen bleiben werden. Mir ist vollkommen klar: Ich stoße sie damit vor den Kopf. Aber ich habe einfach zu viele unbeantwortete Fragen. Wieso hat sie den Platz für uns freigehalten? Sie konnte nicht wissen, dass wir überhaupt wieder kommen werden. Reservierungen werden auf diesem Campingplatz gar nicht gemacht. Trotzdem steht dort auf dem Stellplatz, wo wir vor zwei Tagen waren ein „RESERVED“ Schild. Aber beim Check In hat uns niemand gesagt, dass es für uns eine Buchung gibt. Sie kennt nicht mal unseren Namen.

Nachdem sie mir ihr Feuerholz geschenkt hat war sie verschwunden. Naja vielleicht nicht verschwunden, aber sie war nicht mehr da. Sie war mit ihrem PKW weggefahren und taucht dann plötzlich wieder auf, als wir zurückkehren? Hat einen Platz für uns reserviert, obwohl sie uns nicht kennt und nicht wusste, dass wir noch einmal wieder kommen werden? Wir bleiben auf unserem Stellplatz, sehen die merkwürdige Nachbarin (vielleicht eine Enkelin der Log Lady?) nicht wieder und wissen bis heute nicht, wie das Ganze zu erklären ist.

Irgendwie ist mir sowieso, als ob hier in Twin Peaks Zeit und Raum verschwimmen. Mal denke ich wir sind zwei Tage im Wald und dann kommt es mir vor, als sei ich für Wochen von der Bildfläche verschwunden. Was geht hier vor? Ich komme nicht dahinter. Ich versuche unsere Tagesroutine durchzuziehen. Mal sehen was uns heute bevor steht….

Best Coffee in Town

„…hannah montana does the african savannah…..“

Wir bleiben im Wald und halten uns dicht am Lagerfeuer. Kontakte mit anderen Insulanern werden vermieden. Alles hier ist unheimlich und wir wollen das Land demnächst verlassen. Eine unruhige Nacht steht uns bevor. Bob wird uns auflauern, wir versuchen uns zu schützen so gut es geht. Ich höre ihn kommen, durch den Wald, im Wind. Er kommt immer näher. Das Feuer wird uns schützen, das ist meine einzige Hoffnung. Ich höre das Knacken der Äste, höre wie sie brechen, wenn er drauftritt und kommt, um uns zu holen. Er kommt näher, immer näher und die Eulen sind nicht was sie scheinen. Sie rufen ihren Eulenruf, um uns zu warnen, aber es ist zu spät….

Wir haben keine Ahnung, was da letzte Nacht los war und wie das mit unserer Nachbarin zuging. Wir können nur spekulieren. Lange Zeit noch haben wir gerätselt und uns den Kopf zerbrochen, wie das alles sein konnte. Aber zu einem schlüssigen Ergebnis sind wir nie gekommen. Eines allerdings weiß ich: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir je begreifen können.

Wir verlassen den Tall Chief Campground und fahren auf den Snoqualmie Pass in den Schnee, weit nach oben. Dort oben soll Bob uns nicht finden…

…ich mache keine Fotos. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, LEMMY auf den glatten und verschneiten Straßen zu steuern und Bob zu entkommen. Wir wollen nach Kanada, dort soll es sicherer sein. Mein Herz blutet, denn eigentlich könnte ich in Twin Peaks leben. Ich mag dieses Flair, die rauhe Natur und diesen Zusammenhalt der Gemeinschaft und das ganze Kleinstadtleben. Aber unsere Zeit hier neigt sich dem Ende.

Mysterious Twin Peaks

Wir nehmen auf dem Weg raus aus der Stadt einen letzten Black Coffee im Double R. Da gibt es aber leider noch eine kleine negative Anmerkung, nach all dem Twin Peaks Fan – Ding. Das neue, junge Team im Diner macht einen guten Job und auch der Kaffee und der Kirschkuchen ist ganz fantastisch. Aber es steckt keine „Twin Peaks – Leidenschaft“ mehr in dem Cafe, kein Herzblut. Das neue Team führt einen Laden, aber sie verfehlen ihren Auftrag, wenn es darum geht den Kult am Leben zu erhalten.

Buy bye Twin Peaks

Ich genieße trotzdem die letzte „damn fine cup of coffee“ im Double R Diner. „But tomorrow I´ll have my coffee flat white again….“

Wir verlassen Twin Peaks, aber eins sage ich euch: „Twin Peaks & Rock ‚N‘ Roll will never die!“

„….fire walk with me….“

….und was als Nächstes geschieht….

...GOING TO CANADA, INTO THE WILD…

…und wie wir in Vancouver in eine Kolonie der lebenden Toten geraten…